Diskussion zu Lateinamerika

"Wenn wir nicht neu erfinden, dann irren wir"

Die seit einigen Jahren in Lateinamerika deutlich sichtbar gewordenen Transformationsprozesse sind weitaus komplexer als es viele vermeintliche Linke zu erkennen vermögen und vor allem, als es ihre Kritik zu sein vermag.

So ist die Feststellung Velardes Verstaatlichungen führten nicht automatisch zum Sozialismus mehr als banal. Auch in Venezuela behauptet niemand es gehe bei den Verstaatlichungen um sofortigen Sozialismus. Im Gegenteil, auf die Frage einer Journalistin des argentinischen TV-Senders Canal 7 Anfang des Jahres an Chávez wie es um den venezolanischen Sozialismus stehe, antwortete dieser es gäbe überhaupt keinen Sozialismus in Venezuela, es seien gerade mal einige Grundlagen gelegt worden, um einen Weg in Richtung einer sozialistischen Gesellschaft einzuschlagen, was aber ohnehin nicht als Projekt in nur einem Land möglich sei. Als Bedingung für die Entwicklung eines eigenen Projektes ist die Kontrolle über die eigenen Ressourcen jedoch unverzichtbar.
Inwieweit der von Velarde zitierte Víctor Poleo tatsächlich als „linker Wirtschaftsprofessor“ bezeichnet werden kann, sei mal dahingestellt. Das Webseitenprojekt www.soberania.org, in dem er regelmäßig publiziert und an dem er an prominenter Stelle mitarbeitet, würde sich im deutschen Sprachraum wohl eher den Namen „Querfrontstrategie“ einheimsen. So wird dort gleich auf der Startseite in suggestiver Weise der Film „Sturz eines Diktators“ von Steve York zum download angeboten. Darin geht es um die serbische Optor-Bewegung und den Sturz Milosevics in Serbien. Das ziehen einer Parallele zwischen Chávez und Milosevic ist komplett absurd und bewegt sich genau in der Propagandaschiene des Bogens von Condoleezza Rice und der venezolanischen ultrarechten Oberschicht. Und eine linke Position kann sich wohl kaum bürgerlich-konservativen Kräften orientieren, die vom us-amerikanischen „National Democratic Institute for International Affairs“ finanziert wurden und von Ex-Geheimdienstmitarbeitern geschult werden – eben dieses Gespann schult und finanziert nun auch die Oppositionsbewegung, gegen die von der venezolanischen Telekommunikationsbehörde ausgesprochene Nicht-Verlängerung der offenen Sendelizenz des am Putsch beteiligten rechtsextremen Kommerzkanals RCTV.
Etwas weiter unten auf soberania.org findet sich dann eine gemeinsame Erklärung rechtskonservativer bis rechtsextremer Organisationen aus dem katholischen Kirchenapparat und bürgerlicher Menschenrechtsorganisationen gegen die Nicht-Verlängerung der Lizenz.
Zum gemeinsamen Nenner haben die meisten der Veröffentlichungen auf soberania.org eine fast pathologische Ablehnung des bolivarianischen Prozesses.
Hugo Velarde scheint, ebenso wie Gaston Kirsche und die meisten Kritiker des bolivarianischen Prozesses, aus einer Position der weitgehenden Unkenntnis der Situation in Venezuela zu schreiben und dabei unhinterfragt bürgerliche Propaganda zu übernehmen. Wer die Situation in Venezuela verfolgt, weiß dass der vermeintlich „proklamierende Diskurs“ von Chávez ständig durchzogen ist von Zweifeln und Warnungen, eine sozialistische Transformation benötige auch ein weitgehende kulturelle Veränderung, da sich kein Sozialismus mit den aktuell dominanten kapitalistischen Werten aufbauen lässt. Dabei ist die Analyse von Chávez diesbezüglich wesentlich klarer und materialistischer als die von Velarde propagierte rassistischen Stereotype von der „Anlehnung an alte kulturelle Traditionen“.
Und auch Gaston Kirsche ergeht sich in der sinnlosen Wiederholung linker Plattitüden und eiert gezielt an der Realität vorbei, wenn er schreibt „Wenn nicht durch den Ausbau der Süd-Süd-Kooperation oder wirklich revolutionäre Brüche die internationale Arbeitsteilung grundlegend verändert wird, wird es im Rahmen der Verwaltung der kapitalistischen Verhältnisse nicht mehr viel zu verteilen geben, wenn die Rohstoffpreise wieder fallen.“ Abgesehen davon, dass nicht viel dafür spricht, dass die Rohstoffpreise (vor allem Erdölpreise) wieder fallen, liegt ja ein Schwerpunkt Venezuelas genau in der Süd-Süd-Kooperation. Und im Rahmen des von Venezuela und Kuba initiierten ALBA (Alternativa Bolivariana para las Americas) genau in dem Versuch eine nicht kapitalistisch orientierte solidarische Zusammenarbeit in Lateinamerika sowohl auf Regierungs- wie auch auf Bewegungsebene zu entwickeln und zu stärken. Was zunächst noch wie ein bloßer Diskurs wirkte, ist mittlerweile zur Realität avanciert: Bolivien, Kuba, Nicaragua und Venezuela sind Mitglieder des ALBA und der Eintritt von Ecuador und Dominica wird in Kürze erwartet.
Und selbstverständlich ist es kein Sozialismus, aber eben doch mehr als „Magie der Worte“ (Velarde) wenn nun Millionen Menschen in Venezuela Zugang zu kostenloser medizinischer Versorgung, Bildung und Lebensmitteln haben und keine Angst mehr davor haben müssen sich für eine Verbesserung ihrer Situation einzusetzen. Und das hat zu umfassenden Selbstorganisierungsprozessen in politischen Basisorganisationen geführt: Es sind ein Dutzend community-TV-Sender entstanden und mehrere Hundert Basisradios, LandarbeiterInennorganisationen besetzen Großgrundbesitz und Basiskomitees nehmen die Regelung ihrer Grundbedürfnisse selbst in die Hand. In kommunalen Räten (bisher 19.000 im gesamten Land) entscheidet die Bevölkerung direkt über Prioritäten in ihrem Wohngebiet, entwickelt Projekt, führt sie durch und evaluiert sie. Aus knapp 750 Kooperativen zu Beginn der Amtszeit Chávez’ sind mittlerweile an die 40.000 operative Kooperativen geworden. In einigen Unternehmen wurden Modelle der Mit- und Selbstverwaltung eingeführt.
Selbstverständlich gibt es in diesem Prozess Probleme, Irrtümer und Konflikte. Da soll niemand seinen Schreibtisch mit der Realität verwechseln. Auch wäre ein vermeintlich reibungsloser Ablauf viel suspekter. Es handelt sich um einen Suchprozess. In Venezuela kann keine linke Traditionslinie die Wahrheit und der richtigen Weg für sich reklamieren und das ist auch gut so. Alles ist anders gelaufen als jede denkbare Linke es jemals entworfen hatte und so muss jede Linke mit der Realität umgehen.
Simón Rodríguez (1769-1854), Philosoph und Lehrer des antikolonialen Kämpfers und venezolanischen Nationalhelden Simón Bolívar, der symbolisch für die Suche nach eigenständigen sozialen und politischen Organisationsformen steht, prägte eine Herangehensweise, die für die venezolanische Linke zentral ist: „Das spanische Amerika ist ein Original. Das müssen auch seine Institutionen und seine Regierung sein. Und eigen müssen auch die Wege sein, diese zu entwickeln. Wenn wir nicht neu erfinden, dann irren wir.“
Das ist sicher die wichtigste Lehre aus Venezuela: Es gibt kein Modell. Und in einem Suchprozess gibt es auch keine Garantien. Doch absolute Gewissheiten sind in einer revolutionären, transformatorischen Bewegung Fehl am Platz.