Vor Ort: Straßenkinder in Nicaragua organisieren sich in Selbsthilfegruppen

Zehntausende allein in Managua ohne Bleibe

„El Gato", die Katze, wird er wegen seiner Augen genannt. Der Zwölfjährige, eines von Managuas Straßenkindern, steht tagsüber an einer Ampel vor der "Rotonda de Belo Horizonte", einem Kreisverkehr mit einem Brunnen in der Mitte. Hier putzt er Autoscheiben in der Trockenzeit im Staub, zur Regenzeit im Schlamm.

Nicht alle Autofahrer bezahlen für den Putzdienst. Wenn "El Gato" Glück hat, gibt es 50 Centavos (etwa zwölf Pfennige). Die Kreuzung teilt er sich mit anderen Kindern. Die besser gestellten bieten Zeitungen oder Rubbellose, Kaugummis oder Zigaretten feil. Auch ein paar Mädchen sind dabei, sie verkaufen Geschirrtücher und Getränke. Nicht alle haben eine Bleibe. "El Gato" etwa schläft mit zwei Freunden hinter einem Kino.

Seit der Wahlniederlage der Sandinisten 1990 hat die Anzahl der Straßenkinder drastisch zugenommen. Waren es früher einige hundert, sollen es heute allein in Managua Zehntausende sein. Wegen der neoliberalen Politik der Regierung ist die Arbeitslosenrate auf 60 Prozent gestiegen. So boomt der informelle Sektor, und die ganze Familie muß für den Unterhalt sorgen.

Die Straßenkinder an den Kreuzungen sind vergleichsweise gut dran. Auf den Märkten der Stadt wie dem berüchtigten "Mercado Oriental" leben "Schnüffelkinder", die Schuhleim aus kleinen Gläsern inhalieren. Für umgerechnet 20 Pfennig gibt es genug, um zwei Tage lang "drauf zu sein". Die Lösungsmittel führen jedoch zu verlangsamtem Wachstum, Atemwege und Organe werden geschädigt.

Im Projekthaus der Menschenrechtsorganisation Instituto de Promoción Humana (INPRHU) kommen viele zusammen, auch "Gato". Dreimal die Woche gibt es eine Sojamahlzeit. Die Zutaten stellt INPRHU, die Köchinnen arbeiten unbezahlt. Viele haben selbst Kinder, die in der Schlange mit einer Plastikschüssel in der Hand stehen.

Die ErzieherInnen erzählen den Kinder nicht, sie sollen weg von der Straße. Denn einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz können sie ihnen nur selten verschaffen. Statt dessen bietet INPRHU Unterricht an, damit die arbeitenden Kinder zumindest lesen und schreiben lernen können. Sie werden außerdem angehalten, sich nicht beim Konkurrenzkampf auf der Straße gegenseitig fertigzumachen. Mit Parolen wie "Durch deine Arbeit bist du eine Person mit Rechten" will man den Straßenkindern, die in der nikaraguanischen Gesellschaft schlecht angesehen sind, geschlagen und gestoßen werden, mehr Selbstvertrauen vermitteln. Auf Geschäftsleute und Händler wird eingewirkt, die Schnüffelkinder zu respektieren. Doch Überzeugungsarbeit kann auch anders aussehen: In Estelí, im Norden des Landes, wurde von INPRHU ein Mann öffentlich angeprangert, der ein zehnjähriges Mädchen wiederholt sexuell mißbraucht hatte.

INPRHU hat heute Projekte in ganz Nikaragua. Man arbeitet seit über 20 Jahren unter der Somoza-Diktatur illegal, während der Regierung der Sandinisten in Zusammenarbeit mit Ministerien, heute ist man wieder auf sich gestellt. Die Organisation wirkte auch bei der Gründung des Mittelamerikanischen Kongresses der arbeitenden Kinder mit. Das Netzwerk von Selbsthilfegruppen trifft sich einmal jährlich zum Gedankenaustausch.

INPRHU, Altamira d'Este, Casa 554, Managua. Tel. 005052-70446