Die Türkei fürchte sich vor der Dynamik, die eine Freilassung Abdullah Öcalans und die Möglichkeit einer politischen Lösung entfachen würde. Mit ihm im Gefängnis soll die gesamte kurdische Bewegung zusammenbrechen, sagt der Soziologe Dario Azzellini.

Interview: Azzellini "Isolation auf Imrali zielt auf Schweigen der Gesellschaft ab"

Der Umgang des türkischen Staates mit Abdullah Öcalan gilt seit jeher als Gradmesser für den Umgang mit der kurdischen Bevölkerung. So wie die Regierung in Ankara aktuell wieder auf den totalen Krieg gegen die kurdische Gesellschaft und ihre Freiheitsbewegung in allen vier Teilen Kurdistans setzt, entsprechend absolut ist derzeit auch die Isolation Öcalans. Seit inzwischen zwanzig Monaten wird der PKK-Brgründer im Inselgefängnis Imrali, auf der er seit 1999 in politischer Geiselhaft sitzt, wieder vollständig von der Außenwelt abgeschottet. Ihm wird ein Haftregime auferlegt, das auf körperliche und physische Vernichtung abzielt. Den letzten Anwaltsbesuch erhielt Öcalan am 7. August 2019 – erstmals nach acht Jahren Kontaktsperre. Seine Angehörigen konnte er zuletzt am 3. März 2020 sehen. Danach wurde Öcalan nur zwei Mal telefonischer Kontakt mit seinen Verwandten gewährt. Entgegen der europäischen Rechtsprechung, den Forderungen des Antifolterkomitees (CPT) und einer Resolution der Parlamentarischen Versammlung des Europarats ist der türkische Staat nach wie vor nicht bereit, die Isolation auf Imrali aufzuheben. Wir haben beim Politikwissenschaftler und Soziologen Dario Azzellini nachgefragt, was er davon hält.

Herr Azzellini, warum schweigen die europäischen Länder zur Isolation auf der Gefängnisinsel Imrali?

Den europäischen Ländern sind wirtschaftliche Interessen schon immer wichtiger gewesen als Menschenrechte. Hinzu kommt hier auch noch die Aufgabe der Türkei, Flüchtlinge von Europa fernzuhalten oder die Überfahrt so gefährlich zu gestalten, dass viele nicht ankommen, weil sie vorher sterben.

Welche Rolle könnte Abdullah Öcalan für Frieden in der Türkei und Kurdistan spielen?

Öcalan würde eine zentrale Rolle spielen. Zunächst einmal wäre seine Freilassung ein Hinweis darauf, dass die Türkei ein Interesse an einer politischen Lösung des Konflikts hat.

Was glauben Sie, warum sich Öcalan noch immer im Gefängnis befindet?

Weil die türkische Regierung, oder um genauer zu sein der türkische Staat als solcher, kein Interesse an einer friedlichen Lösung des Konflikts hat. Der moderne türkische Staat beruht auf Völkermord und Zwangshomogenisierung, nicht nur der Kurd*innen, auch der Armenier*innen und vieler anderer ethnischer, religiöser, kultureller Gruppen (mit vielen Überschneidungen) in einer Region, in der ethnische Trennung ein Wahnsinn ist. Öcalan ist die Geisel des türkischen Staates. Er soll zum Schweigen gebracht werden, lebendig begraben. An ihm soll gezeigt werden, dass es sinnlos ist, sich gegen den türkischen Großmachtwillen zu stellen. Die Türkei hat aber auch den Kampf um das Recht Kurd*in zu sein, völlig falsch eingeschätzt. Mit Öcalan im Gefängnis sollte die gesamte kurdische Bewegung zusammenbrechen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Nun will die Türkei Öcalan nicht freilassen, weil sie keine politische Lösung will. Sie fürchet sich vor der Dynamik, die eine Freilassung Öcalans und die Möglichkeit einer politischen Lösung entfachen würde.


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