Berlin - Dienstleistungsmetropole und Drehscheibe für den Osthandel?

"Akquisiteur für Speisen und Getränke"

Seit Jahren wird der Umbau des ehemaligen Industriestandortes Berlin zur Dienstleistungsmetropole beschworen. In der Tat ist der Dienstleistungssektor der einzige Bereich, in dem Berlin einen Beschäftigungszuwachs zu verzeichnen hat. Banken und Versicherungen mitgezählt, wuchs hier die Beschäftigungsquote im Zeitraum von 1989 bis 1998 von 19 auf 32,7 Prozent der arbeitenden Bevölkerung Berlins (ohne Staatsbedienstete) an. Das Bruttoinlandprodukt (BIP) des Dienstleistungssektors stieg sogar noch deutlicher: von 35,31 Milliarden DM (1991) auf 60,37 Milliarden DM (1998). Ein Großteil des Zuwachses des Berliner BIP ist also dem Dienstleistungssektor geschuldet.

Die scheinbare Steigerung um etwa 30 Prozent schmilzt jedoch auf weniger als 2,5 Prozent zusammen, wenn man die Preise von 1991 zu Grunde legt. Der bundesweite Vergleich bringt den imposant erscheinenden Anstieg des Berliner BIP jedoch endgültig wieder auf den Boden der Realität zurück: Die Beschäftigungssteigerung im Dienstleistungssektor erlauben Berlin vielleicht langfristig den Anschluss an den Durchschnitt der neun deutschen Metropolenregionen, andererseits ist Berlin aber auch die Hauptstadt der Insolvenzerklärungen, die von 583 im Jahre 1992 auf 1.916 im Jahr 1998 angewachsen sind (30 Prozent davon im Dienstleistungssektor). Auf 1.000 Unternehmen kommen demnach jährlich 18 Insolvenzerklärungen - der Bundesdurchschnitt liegt bei etwa neun Konkursanmeldungen.

Dies ist nicht der einzige Negativrekord der neudeutschen Kapitale. Mit einer Bruttowertschöpfung von 40.000 DM pro Jahr und Kopf (Bundesdurchschnitt: 39.000 DM) belegt Berlin auch betreffs der Wirtschafts- und Steuerkraft den letzten Platz unter den bundesdeutschen Metropolenregionen. Die interne Aufschlüsselung der Bruttowertschöpfung macht die schwache Position des hauptstädtischen Dienstleistungssektors noch deutlicher: Das Verhältnis der Anteile der Industrie und des Dienstleistungssektors an der Bruttowertschöpfung pro Kopf entspricht in Berlin 12.900 DM zu 14.400, während es in der Makroregion München/Nürnberg 22.300 DM zu 39.000 DM und in Hamburg 14.700 DM zu 32.700 DM beträgt.

Offiziell konzentriert sich die Zunahme der Beschäftigung im Dienstleistungssektor vornehmlich auf Finanzdienstleistungen, Freiberufler und soziale Dienste, letzteres vor allem im Osten, wo das fehlende Netz für soziale Dienstleistungen in erster Linie durch sogenannte ABM-Kräfte (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) und private Träger ersetzt wird. Als "boomende" Bereiche gelten darüber hinaus Messen und Kongresse, Tourismus, Medien und Kommunikation. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass viele Beschäftigungsverhältnisse im Berliner Dienstleistungssektor niedrig qualifiziert und schlecht entlohnt sind. So sind 30,6 Prozent der nach offiziellen Angaben 1998 in Berlin existierenden 69.000 630- bzw. 530-DM-Jobs (1997 waren es noch 61.900) im Bereich der öffentlichen und privaten Dienstleistungen (ohne staatliche Dienste), etwa 27 Prozent im Handel sowie Hotel- und Gaststättengewerbe und knapp 20 Prozent im Bereich der Hausverwaltungen, Verleih und Dienstleistungen an Unternehmen.

Diese sogenannte geringfügige Beschäftigung ist vor allem eine Bastion der prekarisierten Beschäftigung von Frauen: sie machten 67,5 Prozent der 1998 "geringfügig Beschäftigten" in Berlin aus. Die Mehrheit von ihnen - 61,4 Prozent aller geringfügig Beschäftigten - gehen keiner weiteren entlohnten Tätigkeit nach. Parallell zur Beschäftigungszunahme im Dienstleistungssektor ist eine Rückkehr der "weiblichen Beschäftigungen", sowohl im niedrig qualifizierten Bereich (z.B. Putzkräfte), als auch in höher qualifizierten Berufen (in denen Frauen meist in der sozialen Fürsorge oder Beratung tätig sind) festzustellen. Verstärkt wird diese Entwicklung durch die wachsende "Überführung des Sozialen in unternehmerische Strukturen."

Viele der "neuen Dienstleistungen" entstehen durch die Ausgliederung bestimmter Arbeiten aus den Kernunternehmen (Outsourcing), doch auch der zunehmende Arbeitsdruck unter Angehörigen der Mittelschichten fördert den Bedarf nach privaten Dienstleistungen, denn er verlangt häufig die "Externalisierung" bestimmter Arbeiten aus dem Privatleben. Potenziert wird diese Entwicklung durch die ständige Zunahme von Single-Haushalten. Vor allem im Bereich der Hausreinigung sind es meistens Migrantinnen, die schlecht bezahlt und ohne soziale Absicherungen Putzarbeiten in privaten Haushalten verrichten. In vielen Fällen sind diese Reinigungskräfte sogar "selbstständig", ähnlich wie einige Vertreter des Berufes, der früher Kellner hieß: diese sind in einigen Grosslokalen bereits zu formal selbstständigen "Akquisiteuren für Speisen und Getränke" avanciert, die das Bier an der Theke kaufen und es am Tisch dem Gast wieder verkaufen.

Im Stadtbild erscheinen aber vielmehr "neue Dienstleistungen", die bisher in der Bundesrepublik nicht existent waren, wie Renate Wollbach von ZAPO (Zentrale integrierte Anlaufstelle für PendlerInnen aus Osteuropa) berichtet: "Es gibt sehr viele Leute, vorwiegend Ukrainer und Polen, die die Scheiben der Autos putzen, die an den Kreuzungen stehen bleiben. Und vor zehn Jahren hast du auch noch nicht so viele Leute gesehen, die in der U-Bahn Musik machen oder eine Obdachlosenzeitung verkaufen. Es ist eine zunehmende Verarmung zu sehen, da es immer weniger normale Jobs gibt. So arbeiten selbst in den Supermärkten mittlerweile die meisten mit 630-DM-Verträgen. Das, was wir aus den USA oder aus Lateinamerika kennen, nämlich dass die Leute mehrere Jobs haben, um zu überleben, ist auch bei uns Realität geworden".

Politiker werben seit Jahren mit der vermeintlich besonderen Attraktivität des Standortes Berlin. Dabei wird insbesondere "die günstige geographische Lage der Stadt" hervorgehoben, "die Berlin zur prädestinierten Drehscheibe für den Osthandel" mache. Welche Realität verbirgt sich hinter dem rhetorischen Vorhang? Einen wichtigen Hinweis für die wirtschaftliche Attraktivität einer Stadt oder einer produktiven Region gibt die Höhe der Direktinvestitionen aus dem Ausland. Als Indikator für die Funktionsfähigkeit einer Stadt innerhalb der globalen Ökonomie gelten wiederum die Angaben über Direktinvestitionen ins Ausland.

Dabei steht Berlin zunächst einmal gar nicht so schlecht da: Die Direktinvestitionen aus dem Ausland nahmen zwischen 1992 und 1996 um 80 Prozent zu und belaufen sich mittlerweile auf ein Jahresvolumen von fast elf Milliarden DM. Etwa 70 Prozent dieser Investitionen fließen in den Dienstleistungssektor. Doch der erste Blick ist trügerisch, da viele der Investitionen für den Hauptstadtumzug bestimmt und damit begrenzt sind. Tatsächlich sind die Direktinvestitionen aus dem Ausland, nach einem rasanten Anwachsen zu Beginn der 90er Jahre, bei den genannten elf Milliarden DM stehen geblieben und seit 1996 sogar wieder leicht im Sinken begriffen. Da sich auch die Direktinvestitionen ins Ausland in der Zeitspanne von 1992 bis 1996 verdoppelt haben (von 4,9 auf 9,7 Milliarden DM), wird die schlechte Situation Berlins erst im Vergleich mit dem wesentlich kleineren Hamburg deutlich. Dort fiel zwar die Zunahme im Laufe der 90er nicht so deutlich aus wie in Berlin, doch ist das Volumen der Investitionen ungemein größer und weist keine Negativtrends auf: Die Direktinvestitionen aus dem Ausland in Hamburg wuchsen von 1992 bis 1996 von 23 auf 25,2 Milliarden, und die Direktinvestitionen ins Ausland auf die gleiche Summe an.

Ebenso wenig ist die Entwicklung des Berliner Außenhandels zukunftsweisend. 1998 betrug der Gesamtwert der Warenausfuhren ins Ausland 13,800 Milliarden DM, während sich die Importe auf einen Gesamtwert von 9,747 Milliarden DM beliefen. Im Laufe der ersten Jahreshälfte von 1999 betrugen die Berliner Exporte noch 6,6 Milliarden DM, das bedeutet eine Abnahme um 8,6 Prozent (622 Mill. DM) im Vergleich zur ersten Jahreshälfte 1998.

Wichtigste Handelspartner Berlins sind die EU-Staaten. 45 Prozent aller Exporte gehen dorthin. Allerdings ist eine deutliche Zunahme des Außenhandels Berlins mit den EU-Beitrittskandidaten in Osteuropa zu verzeichnen. Ihr Anteil am Gesamtexportvolumen Berlins beträgt zehn Prozent, gegenüber acht Prozent im bundesweiten Durchschnitt. Exportiert wird vornehmlich nach Polen, in die Tschechische Republik und Ungarn. Zwischen 1992 bis 1997 stiegen die Exporte in den ehemaligen Ostblock um etwa 20 Prozent jährlich. 1998 betrug der Anstieg allerdings nur noch 15 Prozent, was vor allem darauf zurückzuführen ist, dass die Ausfuhren in die Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR (GUS) - nach Polen wichtigster Handelspartner Berlins im Osten - auf Grund der dortigen Krise um 21,6 Prozent abnahmen. Der Bundesdurchschnitt liegt zwar nur bei zehn Prozent, aber in der ersten Hälfte 1999 sanken die Exporte aus Berlin in die EU-Länder, im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres, um über fünf Prozent, während die in den Osten sogar einen regelrechten Zusammenbruch erlebten (GUS -61,9 Prozent; Polen -13,7 Prozent; Tschechische Republik -23 Prozent).

Berlin bewegt sich wirtschaftlich auf einem schmale Grad, die Stadt als zentralen Handelsknoten gen Osten zu bezeichnen, ist Augenwischerei und es bleibt die Entwicklung der nächsten Jahre abzuwarten.

In der nächsten Ausgabe: Leben in Berlins armen Stadtteilen.

Im Rahmen des vom Mailänder Institut A.A.STER in sieben europäischen Städten durchgeführten Forschungsprojektes "Moriana" über neue Arbeitsformen und -verhältnisse in Zeiten des Umbruchs zeichnet Dario N. Azzellini für Berlin verantwortlich.