Das Drehbuch der Destabilisierung stösst in Venezuela auf den Widerstand einer organisierten Volksbewegung

1. Hussein, 2. Aristide, 3. Chavez

Die ZuschauerInnen der vier grossen venezolanischen Privatfernsehsender bekommen dieser Tage den Eindruck vermittelt, es fände ein Volksaufstand gegen die Regierung Chávez statt. An der Spitze der rechten Medienoffensive steht Globovision mit ihrer Dauerliveschaltung. Der lokale Nachrichtenlieferant für CNN erweckt den Eindruck von Strassenkämpfen im gesamten Land. Selbst Bilder von zwei brennenden Müllsäcken oder schlicht herum liegenden Steinen werden mit dramatischer Musik unterlegt, während aggressive Oppositionspolitiker von einer vermeintlichen Diktatur reden und zu Gewaltaktionen aufrufen. ReporterInnen des Senders stehen an einer völlig ruhigen Auffahrt zur Stadtautobahn und erklären im auffordernden Ton: «Hier gehen die Proteste gegen 12 Uhr los, wir bleiben jetzt hier bis die Blockaden wieder losgehen». Auf Venevision, einem weiteren Sprachrohr des putschistischen Sektors der Opposition, werden am unteren Bildschirmrand laufend Botschaften vermeintlicher TV-ZuschauerInnen eingeblendet: «Auf die Strasse! Gegen die Diktatur. Blockieren mit jedem Mittel. Schande! Niemand darf zu Hause bleiben!». Dazu erklärt eine hysterische Anruferin: «Die Menschen müssen aufwachen, das Regime lässt im ganzen Land auf der Strasse Menschen füsilieren». Die Realität auf der Strasse ist eine andere. Regierungskräfte haben niemanden erschossen, während zahlreiche Oppositionvertreter bei Ausschreitungen verhaftet wurden und Carlos Melo, Vorsitzender von «Bandera Roja» (BR), «Rote Fahne», der Nationalgarde mit zwei FAL-Sturmgewehren in seinem Fahrzeug in die Hände fiel. BR ist eine ehemals maoistische Guerilla, die sich in den bewaffneten Stosstrupp der Opposition verwandelt hat und Teil der «demokratischen Opposition » ist.

Die Medien im Angriff

Wie schon beim Putsch am 11. April 2002 spielen die Massenmedien, die unter Kontrolle reaktionärer Unternehmer stehen, wieder eine zentrale Rolle in der Destabilisierungsstrategie der Opposition. Diese besteht im wesentlichen aus den Kreisen, die das Land vierzig Jahre lang ausgeplündert haben und jene andern Volksschichten, die heute die Regierung Chávez unterstützen, in Armut gehalten und mit Repression überzogen haben. Ihre virtuelle Realität findet ihren Widerhall in den internationalen Medien und ihren Presseagenturen. So wurde zwar der Dokumentarfilm «Chávez, ein Staatsstreich von Innen» auf Arte und im ZDF gezeigt, er gewann unzählige Preise, doch Konsequenzen aus der Darstellung des von den Medien virtuell inszenierten Putsches hat trotzdem kaum einE JournalistIn gezogen. Die gleichen PolitikerInnen, die am Putsch beteiligt waren, werden heute wieder widerspruchslos als «demokratische Opposition» bezeichnet. Und die Sender, die den Putsch mit organisiert und medial begleitet haben, sind heute wieder die Hauptinformationsquelle der internationalen Presse.
Zusammen mit den verschiedenen Sektoren der Opposition, die ausser dem Sturz Chávez kein politisches Programm hat, orientieren sich derzeit auch die Medien und die US-Regierung am Drehbuch der Destabilisierung. So drohen oppositionelle Politiker über die privaten TV-Stationen mit «Zuständen wie in Haiti ». William Lara, Abgeordneter der Nationalversammlung, sagte gar, das Vorgehen entspreche den Richtlinien eines Counterinsurgency-Handbuchs des CIA. Nach dem Putschversuch vom April 2002, der Sabotage der Erdölproduktion und der Aussperrung der Beschäftigten durch grosse nationale und transnationale Unternehmen im Dezember 2002 und Januar 2003, kommt es nun zum nächsten strategischen Kulminationspunkt der Aktivitäten der Opposition. Angesichts des Scheiterns der beiden vorherigen Ansätze, Chávez aus dem Amt zu jagen, liess sich die Opposition im Mai 2003 darauf ein, den verfassungsgemäss vorgesehenen Weg eines Referendums gegen Chávez zu gehen. Um ein Referendum stattfinden lassen zu können, müssen zwanzig Prozent der Wahlberechtigten, etwa 2,45 Millionen Personen, unterschreiben.
Das genaue Vorgehen legte der Nationale Wahlrat (CNE) fest. Während die Opposition einerseits lauthals das Referendum forderte, behinderte sie zugleich die Ernennung des neuen CNE in der Nationalversammlung. Als der Oberste Gerichtshof, der mehrheitlich oppositionell besetzt ist, angesichts der Blockadesituation die Ernennung übernahm, klatschte die Opposition Beifall. Als deutlich wurde, dass der CNE dennoch keine politischen Entscheidungen zu Gunsten der Opposition treffen würde, begann diese eine Verleumdungskampagne gegen den CNE. Anfang Dezember wurden schliesslich die Unterschriften gesammelt. Mit der Abgabe derselben beim CNE intensivierte die Opposition ihre Kampagne gegen den Wahlrat. Scheinbar im Bewusstsein, die notwendige Anzahl nicht erreicht zu haben. Die Opposition behauptete, 3,4 Millionen Unterschriften abgegeben zu haben – tatsächlich waren es nur knapp 3,1 Millionen. Es häuften sich Anzeigen und Berichte, die auf ein massives Fälschungsmanöver hindeuteten. VertreterInnen der Opposition erklärten, sie würden nur eine Entscheidung des CNE zu ihren Gunsten anerkennen.
Begleitet waren die letzten Monate von einem sich stets wiederholenden Muster öffentlicher Erklärungen aus US-Regierungskreisen. Zunächst erscheint ein Artikel in der US-Presse, in dem ein ungenannter oder rangniedriger US-Regierungsmitarbeiter erklärt, Venezuela unterstütze den internationalen Terrorismus von Al Kaida bis zur kolumbianischen FARC. Es folgt eine Beschwerde der venezolanischen Regierung. Dann kommt die Richtigstellung eines höheren US-Regierungsbeamten, es gäbe keine konkreten Hinweise für die ursprünglichen Behauptungen.
Die Prüfung der Unterschriften durch das CNE verzögerte sich. Am 2. März sind nun die Ergebnisse bekanntgegeben worden (siehe Kasten). Jetzt versucht die Opposition, diese Entscheidung als Willkür einer Diktatur zu präsentieren. Auf den Strassen soll parallel dazu ein Bild weitgehender Instabilität und Unregierbarkeit präsentiert werden, um den internationalen Druck auf Venezuela zu erhöhen und damit einen erneuten Militärputsch oder eine US-Intervention auszulösen. Dafür wurde auch vor der US-Botschaft in Caracas mit Schildern wie «1. Hussein; 2. Aristide; 3. Chávez» demonstriert. Dass diese Hoffnungen erfüllt werden, ist momentan aber recht unwahrscheinlich. Vor allem die Option der US-Militärintervention. Bei aller Polemik und Propaganda dürfte sich auch Washington bewusst sein, dass sich Chávez auf eine immense Unterstützung für die tiefgreifenden politischen und sozialen Reformen stützt. Die US-Regierung nimmt aber eine bedeutende Rolle im Drehbuch der Destabilisierung Venezuelas ein. Jenseits der direkten Verwicklung in den Putsch vom April 2002 finanziert die US-Regierungüber das National Endownment for Democracy (NED) verschiedene Oppositionsorganisationen, darunter auch das Privatunternehmen Sumate, das im Zusammenspiel mit Unternehmern durch das Verteilen von Kärtchen an den Unterschriftensammelstellen der Opposition ArbeiterInnen und Angestellte verschiedener Unternehmen unter Druck gesetzt hatte, damit sie gegen Chávez unterschreiben. Weitere Finanziers sind in der EU zu finden, so zum Beispiel in der spanischen Regierung oder in der deutschen christdemokratischen Konrad-Adenauer-Stiftung, die die neu gegründete Partei «Primero Justicia» PJ («Zuerst Gerechtigkeit») finanziell unterstützt. PJ war am Putsch beteiligt, PJ-Vertreter «verhafteten» Minister der Chávez-Regierung – zuletzt taten sie sich in der Koordinierung des Angriffes und der Zerstörung eines Gebäudes von Chávez’ «Bewegung V. Republik» (MVR) hervor, das während einer Demonstration der Opposition am Freitag, den 27. Februar, angezündet wurde. Auch ein weiteres Gebäude regierungsnaher Kräfte fiel der «friedlichen Demonstration» zum Opfer, aus der heraus auch das Feuer auf die Nationalgarde eröffnet worden ist.

Freibier für rechte Schläger

Zugleich agieren kleine oppositionelle Gruppen in verschiedenen Teilen der Hauptstadt, vor allem in den wohlhabenden Bezirken El Hatillo, Barutas und Chacao, mit massiver Gewalt. Sie organisieren Strassenblockaden mit brennenden Barrikaden. Die Nationalgarde und die Militärpolizei, die versucht, die Demonstrationen aufzulösen, wird mit Steinen, Molotowcocktails und Schusswaffen angegriffen. An den Aktionen beteiligen sich zwar nur wenige hundert Personen, dennoch sind sie kaum aufzuhalten, denn die Polizei der Hauptstadt Caracas (die einem Oberbürgermeister untersteht, der sich als Chàvez-Anhänger wählen liess und anschliessend zur Opposition überlief) und der drei genannten Bezirke schreitet nicht ein. Sie hält sich entweder zurück, unterstützt die Gewalttäter, oder ist sogar in zivil an den Ausschreitungen beteiligt. Mehrere Polizeibeamte wurden in flagranti von der Nationalgarde festgenommen.
Die Polizei des grössten Bezirkes der Hauptstadt, El Libertador, der von chavistischen Kräften regiert wird und mit zwei Millionen mehr EinwohnerInnen hat, als alle anderen zusammen, hat keine Befugnis, im Rest der Stadt zu agieren. Nationalgarde und Militärpolizei können, solange der Notstand nicht ausgerufen wird, nur die Hauptstrassen und Stadtautobahnen frei halten. Um für eine entsprechend aggressive Stimmung bei den Blockadeaktionen zu sorgen, verteilt das oppositionelle Privatunernehmen Polar, der grösste Bierproduzent Venezuelas, kostenlos Bier an die «DemonstrantInnen ». Viele Autobahnblockaden werden zudem mit Polar-LKWs durchgeführt. So können kleine Gruppen die Stadt – zumindest in der virtuellen Realität der privaten TV-Sender – ins Chaos stürzen.
Ein wichtiges Ziel der Aktionen ist es, Reaktionen in der breiten Massen der RegierungsanhängerInnen zu provozieren und so zu einer bewaffneten Konfrontation auf der Strasse zu gelangen. Damit soll der Eindruck eines Bürgerkrieges geschaffen werden. Die Regierung ruft daher ihre AnhängerInnen regelmässig zu Ruhe und Besonnenheit auf. Dass die Bevölkerung bisher nicht in die Falle der Opposition gelaufen ist, ist Ausdruck jener kollektiven Intelligenz, die beim Putsch trotz massiver Repression und 45 Toten allein am zweiten Putschtag, Millionen von Menschen ohne Aufrufe einer politischen Führung auf die Strassen Venezuelas getrieben hat, um die Putschregierung zu verjagen. Nationalgarde und Militärpolizei haben das Feuer der Opposition, die teilweise mit Heckenschützen aus Gebäuden heraus agiert, nicht mit Schusswaffen beantwortet. Dies obwohl in den ersten vier Tagen mindestens zwei Nationalgardisten und zwei Journalisten angeschossen wurden, und zwei weitere Personen ums Leben gekommen sind. Am Dienstagmorgen tauchten auch drei Leichen von Bewohnern aus Armenvierteln auf, die Folterspuren aufwiesen. Vor Ort wird die unter oppositioneller Kontrolle stehende Polizei der Hauptstadt der Morde verdächtigt.
Die Zurückhaltung der Regierungskräfte hindert die «demokratische Opposition» allerdings nicht daran, vor die Presse zu stehen und die Präsenz der Nationalgarde und der Militärpolizei in den Strassen als Beweis dafür anzuführen, dass es sich in Venezuela um eine Militärdiktatur handele. Ein runder Film nach einem Drehbuch der Destabilisierung, der mit Erfolg der anti-chavistischen Weltpresse verkauft werden kann.


Entscheidung des Nationalen Wahlrates

Dario Azzellini. Am Dienstag Abend verkündete der Nationale Wahlrat (CNE) das Ergebnis der Überprüfung der von der Opposition gesammelten Unterschriften für eine Volksabstimmung über den Verbleib von Hugo Chávez im Amt des Staatspräsidenten. Nach Angaben des Wahlrates sind 1832 493 der gegen Chávez eingereichten Unterschriften gültig. 145 930 wurden für ungültig erklärt, da sie von Verstorbenen, nicht im Wahlregistern eingetragenen, Minderjährigen oder ausländischen StaatsbürgerInnen stammten. Weitere 233 573 wurden für ungültig erklärt, da die Angaben nicht den Normen der Unterschriftensammlung entsprachen (zum Beispiel, weil die angegeben Personalausweisnummer nicht mit dem Namen übereinstimmte). 876 000 Unterschriften hingegen werden einem öffentlichen Überprüfungs- und Korrekturprozess unterzogen werden, da die Listen jeweils komplett mit der gleichen Handschrift ausgefüllt worden und deshalb Fälschungen möglich sind. Insgesamt sind von der Opposition etwas weniger als 3,1 Millionen Unterschriften abgegeben worden – und nicht die 3,4 Millionen, die die KoordinatorInnen der Unterschriftensammlung gegen Chávez selbst angegeben haben. Trotz der Meinungsverschiedenheiten innerhalb des CNE wurde diese Entscheidung einstimmig gefasst. Für die Durchführung des Referendums sind etwa 2,45 Millionen Unterschriften notwendig. Dass es der Opposition gelingt, die notwendige Anzahl zu erreichen, gilt als sehr unwahrscheinlich, da die mit einheitlicher Handschrift ausgefüllten Unterschriftenlisten wohl in großen Teilen ohne das Wissen der angeblich Unterzeichnenden ausgefüllt wurden. Zehntausende haben sich nach Veröffentlichung der Unterschriften bereits gemeldet und erklärt, ihre Angaben und ihre Unterschriften seien gefälscht worden. Die Überprüfung der entsprechenden Unterschriften wird vom 18. bis 22. März in 2700 Stellen im gesamten Land stattfinden. Zwei Tage später wird der CNE bekannt geben, ob die notwendige Anzahl Unterschriften erreicht worden ist und ob ein Referendum stattfinden kann.