Interview mit SHAFIK JORGE HANDAL, Koordinator der FMLN und Vorsitzender der Kommunistischen Partei El Salvadors

"Wenn die Armut immer größer wird, ist Demokratie unmöglich"

Nach zwölf Jahren Krieg, der 80 000 Menschenleben ausgelöscht hat, wurde in El Salvador Frieden geschlossen. Ein erzwungener Frieden?

Die Frage geht an die andere Seite. Die Regierungspartei ARENA hat sich jahrelang den Verhandlungen widersetzt, ihr Motto war "Verhandeln ist Verrat". Wir haben während der zwölf Jahre Krieg für eine politische Verhandlungslösung gekämpft und Vorschläge gemacht. Die Tatsache, daß am Schluß verhandelt wurde, war ein Erfolg.

Hat die FMLN bei den Verhandlungen alles erreicht oder hatte sie sich mehr erhofft?

Wir haben Verträge ausgehandelt, die ein ganzes Bündel an demokratischen Veränderungen vorsehen. Der Staat wird derart umgebaut, daß Demokratie, soziale Gerechtigkeit und eine glaubwürdige und vertrauenswürdige Justiz möglich werden. In El Salvador bestand seit 1931 eine Machtstruktur, in der es für Demokratie keinen Platz gab, weil die Armee meist auch die Regierungsmacht direkt in ihren Händen hielt. Also war es das Verhandlungsziel der FMLN, die Streitkräfte der Autorität einer demokratisch gewählten Macht zu unterwerfen. Das wurde erreicht.
Eine andere Sache ist die Umsetzung dessen in die Praxis. Das ganze letzte Jahr über haben wir darum gekämpft, daß die Verträge eingehalten werden, und sie wurden dennoch nicht gänzlich erfüllt. Das Abkommen über die Säuberung der Streitkräfte beispielsweise ist nicht vollständig erfüllt, die Landverteilung ist noch nicht beendet, da werden sicherlich noch bedeutende Kämpfe stattfinden . . . Ein unumkehrbarer Wandel ist nur auf lange Sicht zu erlangen.

Wer garantiert denn, daß die Verträge eingehalten werden?

In erster Linie wir und der Kampf der Volksbewegungen. Das hat das Jahr 1992 deutlich gezeigt: Die Regierung wollte die Verträge nicht erfüllen, mehrfach mußten neue Fristen festgesetzt werden, immer wieder ließ sie das vereinbarte Datum verstreichen.
Ein Garant sind auch die Vereinten Nationen, die in El Salvador bisher ihren einzigen erfolgreichen Friedensprozeß haben und ihn hüten müssen. Und schließlich gibt es Staaten, die ihre finanzielle Hilfe an die Erfüllung der Verträge geknüpft haben. Das alles sind Garantien, wobei man in der Politik natürlich nie absolut sicher sein kann.

Welches waren für Sie die größten Hindernisse auf dem Weg zum Frieden?

Ein Hindernis, auch wenn es widersprüchlich erscheinen mag, war das Ende des kalten Krieges und der Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa und der Sowjetunion. Die USA-Regierung, die salvadorianische Regierung und die Armee folgerten zunächst, daß die FMLN dadurch geschwächt würde, und glaubten deshalb die militärische Option wählen zu können. Unsere große Offensive im November 1989 öffnete den Weg zu Verhandlungen, und durch die Beteiligung der UNO erhielt der Prozeß eine gewisse Ernsthaftigkeit. Dann aber verloren die Sandinisten in Nikaragua die Wahlen gleich bekamen die Vorstellungen von einer militärischen Zerschlagung der FMLN neuen Auftrieb und die Verhandlungen stockten wieder. Wir mußten im November 1990 erneut eine Offensive starten, um die Gespräche wieder in Gang zu bringen. Während der eigentlichen Verhandlungen wurde dann das Thema Streitkräfte, sozusagen die Machtfrage, am heißesten diskutiert.

Die Situation scheint nach wie vor kritisch. Die Mentalität der Militärs und der Rechten, auch der Tenor der größten Tageszeitungen, ist nicht viel anders als zu Kriegszeiten. Seit das Friedensabkommen im Januar 1992 unterschrieben wurde, sind etwa 150 Personen durch Todesschwadronen ermordet worden. Wie steht die FMLN dazu?

Was Sie erwähnen, trifft insbesondere auf die Bereiche Innere Sicherheit und Geheimdienst zu. Die sind immer noch in den Händen von Leuten, die für die gesamte Repression erhebliche Verantwortung tragen. Und das, obwohl eine neue Militärdoktrin und die Verfassungsreform die Aufgaben der Armee verändert haben. Obwohl die Streitkräfte nicht mehr für den inneren Frieden zuständig sind, folgen die militärischen Geheimdienste immer noch der alten Doktrin, wonach der Hauptfeind der Armee im Inneren steht. Die Vergangenheit hat gezeigt, daß damit alle gemeint sind, die das Militär nicht unterstützen.
Aus diesen Sektoren der militärischen Geheimdienste sind in der Vergangenheit die ersten Todesschwadronen hervorgegangen. Auch dass rechtsextreme Privatpersonen sich eigene Todesschwadronen halten können, ist nur möglich, weil sie von den Geheimdiensten geschützt werden. Schließlich existiert nach wie vor die Abteilung 5 des Generalstabs, die für psychologische und politische Kriegführung zuständig ist. Das widerspricht sogar den Abkommen und der neuen Verfassung. Das zeigt, daß viel in Bewegung gesetzt, aber noch nicht zu Ende geführt wurde. Und deshalb müssen wir weiter für die Erfüllung der Verträge kämpfen.

Die FMLN wird diesen Kampf ja nicht alleine führen . . .

Wir führen ihn nicht alleine! Aber die FMLN ist die bedeutendste Kraft.

Welches Ziel verfolgen Sie im Hinblick auf die Wahlen 1994?

Aus den Wahlen muß eine Regierung hervorgehen, an der sich alle Kräfte beteiligen, die für den Wechsel stehen und bereit sind, die Veränderungen zu vertiefen. In dem großen Raum, der durch die Verhandlungen für die Demokratisierung und die Herstellung größerer sozialer Gerechtigkeit geschaffen wurde, konkurrieren Kräfte unterschiedlicher ideologischer und sozialer Herkunft. Die wollen wir für den Wahlkampf vereinen. Das heißt aber nicht, daß die FMLN und die Linke ihre Positionen verwässern, wir werden uns nicht von den grundlegenden Forderungen der Armen und der arbeitenden Bevölkerung trennen.

Welche Bündnispartner wird die FMLN suchen?

Alle Parteien der Linken, Sektoren des Zentrums, und über die Parteien hinaus die sozialen und religiösen Bewegungen, Teile der Unternehmerschaft und unabhängige Persönlichkeiten.

Und wie bewerten sie die Chancen dieses Bündnisses?

Die Aussichten sind sehr gut. Aus diesem Kräfteblock den Präsidentschaftskandidaten auszuwählen, will gut überlegt sein, denn es handelt sich faktisch um die Auswahl des künftigen Präsidenten.

Wird die FMLN, falls sie an die Macht kommt, überhaupt den nötigen Spielraum für eine Politik haben, die sich von den neoliberalen Konzepten unterscheidet?

Wenn wir mit den genannten Kräften an die Macht kommen, müssen wir eine andere Politik machen. Im ökonomischen Bereich herrscht grundlegende Übereinstimmung: Das neoliberale Schema entspricht nicht den Interessen der Bevölkerungsmehrheit. Viele, die bei den letzten Wahlen noch dafür gestimmt haben, bereuen das jetzt, denn es hat sich gegen sie gewandt. Wenn die Armut immer größer wird, ist keine Demokratie möglich. Das haben die letzten Jahre in Lateinamerika und selbst in den USA gezeigt. Die neoliberalen Modelle befinden sich überall im Niedergang, vor allem jene, die der Dritten Welt als Rezept verschrieben wurden. Das Modell, wonach die Länder der Dritten Welt ihre Grenzen für den Handel öffnen müssen, während die Industrieländer ihre Grenzen für Exporte aus Entwicklungsländern schließen, trägt nicht zur Entwicklung bei, sondern erzeugt nur noch mehr Armut. Selbst die Weltbank und der Internationale Währungsfonds werden ihre Politik ändern müssen.

Die werden aber kaum ein Projekt vorschlagen, das Bevölkerungsmehrheiten begünstigt . . .

Das ist ja auch uns e r e Aufgabe, nicht die von internationalen Organisationen. Das europäische Denken, das der Linken eingeschlossen, ist sehr rigide. Uns armen Völkern der Dritten Welt wird nicht einmal die Möglichkeit zum Nachdenken eingeräumt, ob im politischen oder im ökonomischen Bereich. Diese Zeiten sind jetzt aber vorbei, glaube ich. Wenn die Krise in Europa, und nicht nur die im Osten, für uns etwas bewirkt, dann ist es das Ende des Eurozentrismus. Die Denkweise, daß das internationale Finanzsystem