Interview mit Rodrigo Chaves, nationaler Koordinator der Bolivarianischen Zirkel

Unser Kampf ist weltweit

Seit Dezember letzten Jahres sind selbst in den Medien hierzulande regelmäßig Bilder vom Streik der Opposition in Venezuela zu sehen. In oft sehr verkürzter Form wird dabei die Regierung Chávez dargestellt und verschwiegen, dass auch ihre AnhängerInnen massiv auf der Straße sind. Über die Hintergründe des „Bolivarianischen Projektes“, das seit dem Amtsantritt von Chávez angelaufen ist und das von den Einen vehement verteidigt und von den Anderen glühend gehasst wird, berichtet folgendes Interview.

Obwohl der Streik der Opposition bereits am ersten Tag offensichtlich gescheitert war, beschlossen Unternehmerverband und der rechte Gewerkschaftsdachverband CTV ihn fortzusetzen. Was steckt dahinter?

Zunächst ist es wichtig zu sehen, wer sich dem bolivarianischen Prozess entgegenstellt. Venezuela hat eine sehr hohe Marginalisierungsrate, denn obwohl es ein reiches Land ist, wurde es von sehr kleinen wirtschaftlichen und politischen Gruppen verwaltet, daran waren auch die Kirche und einige an die Parteien gebundene Gewerkschaften beteiligt. Sie haben die Institutionen und Organisationen in Beschlag genommen und das Bild eines wohlhabenden Landes gezeichnet. Dahinter verbarg sich jedoch eine völlig verarmte Bevölkerung. Statistisch lässt sich nachweisen, wie sich in den letzten 15 Jahren das Gesundheits- und Bildungssystem, die Wohnsitua¬tion, die Reallöhne, die sozialen Rechte usw. stets verschlechtert haben. Ein Bewusstseinsprozess der Ausgeschlossenen setzte ein, der schließlich Hugo Chávez ins Präsidentenamt brachte.
Daraufhin konnte damit begonnen werden, den völlig ausgeplünderten und verelendeten Staat wiederaufzubauen, die Bevölkerung konnte ihr Selbstbewusstsein zurückerlangen, der Rechtsstaat gestärkt und soziale Gerechtigkeit geschaffen werden und die staatlichen Ressourcen zu Gunsten der gesamten Bevölkerung und nicht nur zu Gunsten sozialer Eliten verteilt werden. Das hat denjenigen natürlich nicht geschmeckt, die während ihrer Demokratie über 400 Milliarden Dollar aus dem Land gesaugt, den Großteil der staatlichen Betriebe zu Grunde gerichtet und privatisiert und alles für den Neoliberalismus und die kapitalistische Globalisierung vorbereitet hatten. Der Prozess der bolivarianischen Revolution unterbrach diese Ausplünderung, und zwar mithilfe ihrer Spielregeln, den Wahlen. Diese Spielregeln achten die Stellvertreter des Imperialismus jetzt selbst nicht mehr. Der Aufbau eines neuen Staates hat den bewussten und selbstbewussten Menschen als Grundlage. Er kann nicht mehr manipuliert werden, und das passt der Oligarchie nicht. Deshalb greift sie den bolivarianischen Prozess an und tut gerade so, als hätte es vorher keine Klassen und keine Armut gegeben, als wäre vorher alles schön und gut gewesen: So wie sie es darstellen, hat sich ein vorher blühendes Venezuela ganz plötzlich in ein Desaster verwandelt.
Es war völlig logisch, dass diese ehemaligen Herren des Landes mit dem neuen Venezuela nicht einverstanden sein konnten. So setzte ein medialer Terror ein, 24 Stunden am Tag, über alle Fernseh- und Radiosender und alle Tageszeitungen – bis auf eine. Es ist kein Zufall, dass der ehemalige Vorsitzende des staatlichen Erdölkonzerns heute Berater von Bush und der US-amerikanischen Erdölkonzerne ist. Vorher hat er für eine ständige Überproduktion gesorgt, um den Barrel-Preis auf sieben Dollar zu drücken. Nun ist die Überproduktion wieder gedrosselt worden.
Die Opposition gegen die Chávez-Regierung hat sich immer weiter radikalisiert, bis es am 11. April 2002 zu einem Staatsstreich kam. Und obwohl der Präsident gefangen genommen wurde und außer Landes geschafft werden sollte, war es nach Ansicht der Justiz, die sich in den Händen der Opposition befindet, kein Staatsstreich. Dabei gab es 50 Tote und über 4000 Verhaftungen. Doch nach nicht einmal 48 Stunden wurde dieser Staatsstreich von der Bevölkerung, die ein gerechteres Land will, wieder rückgängig gemacht. Damit sind aber auch viele Oppositionelle wieder in ihre Ämter zurück gekehrt. Aber das ist eben ein Rechtsstaat.

Die Opposition ist nach diesem Rückschlag weiter auf ihrer putschistischen Linie geblieben. Die jetzigen Streiks sind Ausdruck davon – die Reaktionen eines verletzten Tieres. Obwohl die Opposition eine subtile Manipulation mittels der Medien betreibt, hat sie es nicht geschafft, das Land davon zu überzeugen, dass Chávez gehen muss. Also rufen sie zum Streik auf. Der Streik ist gescheitert, weil sie es nicht geschafft haben, das Land zu paralysieren, nicht einmal den Erdölsektor, wie sie dachten. Daher haben sie den Streik sogar noch verlängert, und wie am vergangenen 11. April beschlossen sie, auf die Straße zu mobilisieren, als sie sahen, dass der Streik scheitert. Sie haben massiv zum Erdölunternehmen mobilisiert, wo sich die korrupteste aller Eliten befindet, wo es eine Elite von etwa 1000 Personen geschafft hat, die PDVSA zum unproduktivsten Erdölunternehmen der Welt zu machen. Es gibt kein Erdölunternehmen der Welt, das für seine TeilhaberInnen – in diesem Fall die venezolanische Bevölkerung – so wenig abwirft. Diese Eliten stützen sich auf einen kleinen Kreis korrupter Reicher, auf die katholische Kirchenhierarchie, und sie werden auch von verschiedenen transnationalen Unternehmen und Regierungen unterstützt. Nicht umsonst hatten Bush und der spanische Regierungschef Aznar den Putsch im April begrüßt, während die US-Marine schon vor der Küste Venezuelas ihre Runden drehte. IWF und Weltbank verkündeten bereits am nächsten Tag, Venezuela könne alle Kredite bekommen, die es brauche.
Wir kämpfen in Venezuela den gleichen Kampf wie in den vergangenen 500 Jahren: Eine Bevölkerungsmehrheit kämpft gegen eine extrem ungerechte und ungleiche Welt und für gleiche Rechte, die sich nicht nach Klassenzugehörigkeit oder Hautfarbe richten. Und dies ist ein weltweiter Kampf. Das sollten auch alle linken Parteien und Bewegungen weltweit verstehen, auch wenn sie Kritik an uns haben. Wir haben sicher Fehler begangen, aber unsere politische Ausrichtung ist sehr klar. Wir stehen für eine andere Gesellschaft, in der jeder von Geburt an gleich ist und Zugang zu Bildung, Ernährung, Wohnung, Gesundheit usw. hat.

Zugleich besteht aber in Venezuela auch das Problem der sogenannten doppelten Macht, d.h., dass viele Ämter und Institutionen von Leuten besetzt sind, die den Prozess nicht unterstützen. Oft scheint es, als würde die Basis den Prozess viel stärker radikalisieren wollen als die Regierung.

Die Strukturen der Institutionen entsprechen natürlich anderen Interessen als denen eines revolutionären Prozesses mit bolivarianischen Charakter. Doch mit der neuen bolivarianischen Verfassung haben wir auch beschlossen, die Rechte der ArbeitnehmerInnen zu achten. Viele von ihnen sind über das alte klientelistische System an ihre Stellen gekommen. Das führt dazu, dass die sozialen Organisationen eine extrem wichtige Rolle in unserem Prozess spielen: Sie sind es, die Druck auf die Institutionen ausüben müssen, damit diese ihre Gelder breiter streuen und die Politik dezentralisieren. Es kann einen Minister geben, der mit allem einverstanden ist, aber wenn die Institutionen nicht funktionieren, dann ist alles schwer durchzusetzen. Es gibt die Macht der Obstruktionspolitik, die den Prozess blockieren will. Hier spielen die sozialen Organisationen eine fundamentale Rolle. Genau deswegen sind die zwei grundlegenden Ziele der Opposition, Hugo Chávez zu beseitigen und die sozialen Organisationen zu zerschlagen. Innerhalb der sozialen Organisationen haben die bolivarianischen Zirkel ein besonderes Gewicht. Neun Prozent der gesamten Bevölkerung sind in ihnen organisiert. Die Politiker können die Räume öffnen, die von den sozialen Organisationen gefüllt werden müssen.
In den Bolivarianischen Zirkeln sollen die Menschen Akteure in einem Prozess sein, ihn mitgestalten, sich an Entscheidungsprozessen beteiligen. Diese Gemeindeentscheidungen sind dann bindend für die Institutionen. Das steht klar und deutlich in der bolivarianischen Verfassung, in der sich 80 Artikel mit der sozialen Organisierung und dem Recht auf Beteiligung beschäftigen – sowohl in der Entscheidungsfindung des Staates als auch in der öffentlichen Kontrolle der Gelder.

Einige Ereignisse in Venezuela versteht selbst die Basis nicht und fordert deshalb ein Eingreifen des Staates – etwa die Tatsache, dass sich eine Gruppe Militärs in Uniform auf einem Platz sammeln kann und wochenlang zum Sturz der Regierung aufruft. Das mag ja für die „Freiheiten“ in Venezuela sprechen, aber das gibt es nirgendwo sonst. Warum greift der Staat nicht ein?

Das muss im internationalen Kontext betrachtet werden. Die USA haben ein großes Gewicht, und es ist für niemanden ein Geheimnis, wem die OAS oder die UNO dient. Es stimmt wohl, dass es nirgendwo auf der Welt erlaubt werden würde, dass sich Militärs, die aufgrund ihrer Beteiligung an einem Putsch ins Gefängnis müssten, auf einem öffentlichen Platz wochenlang hinter Frauen und Kindern verstecken können. In den USA würde Bush bestimmt nicht erlauben, dass sich ein General auf einen Platz setzt, ihn als „Irren“ beschimpft und dazu aufruft, ihn zu stürzen. Aber wir wissen genau: Wenn wir dort eingreifen, wäre dies sofort für alle möglichen Staaten, die US-amerikanischen Interessen folgen, ein Grund, um Maßnahmen gegen Venezuela zu ergreifen. Ständig wird versucht, vermeintliche Gründe für ein Vorgehen gegen Venezuela zu konstruieren. Venezuela ist wahrscheinlich das Land mit der weitgehendsten Pressefreiheit der Welt, und dennoch sind wir bei dem Internationalen Presse-Institut unter Beobachtung. Stell dir vor, was passieren würde, wenn wir eine Zeitung anrühren oder einem Journalisten etwas tun würden! Die falsche Medienmacht muss auf internationaler Ebene durchbrochen werden. Auf dem XI. Foro de São Paulo wurde z.B. im Andenforum von allen anwesenden linken Organisationen und Parteien beschlossen, Venezuela auf seinem Weg zu unterstützen. Das ist sehr wichtig, denn die Putschisten sind sehr mächtig, hinter ihnen steht zum Beispiel der Ex-Präsident Carlos Andres Pérez, der ein Mörder ist. Er ist verantwortlich für Tausende Tote bei der Niederschlagung von Protesten; sogar ein Anwalt, der gegen ihn geklagt hatte, wurde beseitigt. Dann ist da noch Gustavo Cisneros, ein internationaler Multimilliardär, Hauptaktionär mehrerer TV-Sender in Venezuela, einer Mobiltelefongesellschaft – das ist die Macht des Geldes, die die Politik gefügig macht.

Warum wird dann nicht stärker am Aufbau eigener großer Medien und Kommunikationsstrukturen gearbeitet?

Wir haben viele wirtschaftliche Einschränkungen. Wir haben eine Situation geerbt, in der 40 Prozent der staatlichen Einnahmen für die Zahlung der Auslandsschulden verwendet werden. Die korrupte Elite in der Erdölgesellschaft streicht weiterhin ein Großteil der Einnahmen ein. Selbst wenn der Barrel Öl bei 22-23 Dollar liegt, kommen beim Staat nur etwa 5 Dollar davon an.
Daher haben wir vor allem auf die Förderung alternativer Medien gesetzt: Lokales Fernsehen und Radios, Zeitungen, Flugblätter, Telefonketten, Internet. Denn wenn du deinen Fernseher anschaltest, siehst du ein Venezuela, das mit der Wirklichkeit um dich herum nichts zu tun hat. Aber es stimmt, in Bezug auf internationale Kommunikationsmedien haben wir große Schwächen. Wir versuchen jetzt auch mehr zu reisen und von der Wirklichkeit Venezuelas zu berichten, denn wir haben keinen Zugang zu den Hebeln der Welt und müssen daher direkt mit den Menschen sprechen.

In Lateinamerika wird oft die negative Rolle der USA betont und man erwartet sich dabei mehr von Europa ...


Die USA behandeln uns wie ihren Hinterhof. Aber wir unterschätzen auch Europa nicht. Spanien hat in Venezuela 300 Jahre lang gewütet und auch die Putschisten unterstützt. Wir sind uns dessen durchaus bewusst. Aber wir müssen mit verschiedenen Ländern Beziehungen aufnehmen ohne dabei zu vergessen, dass alle eigene Interessen in Venezuela haben.

Welche Perspektiven hat die bolivarianische Revolution?


Wir wissen, dass es ein sehr lange Prozess ist. Aber wir werden alles tun, um eine gerechtere Gesellschaft aufzubauen und die Reichtümer gerecht zu verteilen. Die Gegenseite, das hat uns auch Cuba gezeigt, wird wiederum alles tun, um ihr Ziel zu erreichen. Aber ich vertraue darauf, dass die Zeit auf unserer Seite ist.