Gespräch mit Tarek William Saab Halabi aus Venezuela

»Wir sind dabei, Brücken zu bauen«

Tarek William Saab Halabi ist Dichter, Menschenrechtsexperte und Abgeordneter der Partei des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, MVR (Bewegung Fünfte Republik), in der Nationalversammlung. Saab gilt als einer der charismatischsten Regierungsabgeordneten, ist Mitglied des »Taktischen Kommandos«, also der nationalen Leitung der MVR, und wird als Anwärter auf den Vorsitz der MVR gehandelt. Als im April 2002 Teile des Militärs mit Unterstützung der Opposition gegen den Präsidenten putschten war er Vorsitzender der Parlamentskommission für Auslandsangelegenheiten

F: Vor einem Jahr enthob ein Putsch der Opposition, organisiert von Vertretern des Arbeitgeberverbandes und einigen rechten Militärs, den verfassungsgemäß gewählten Präsidenten Hugo Chávez des Amtes. Wie würden Sie aus heutiger Sicht die Reaktion der Bevölkerung zusammenfassen?

Es war die Geburtsstunde der Basisbewegungen. Vor dem 11. April 2002 gab es keine organisierte Massenbewegung, aber der Putsch mobilisierte die Bevölkerung und die Streitkräfte. So etwas hat es in der jüngsten venezolanischen Geschichte noch nicht gegeben: Ein Präsident, der gestürzt und verhaftet und keine 48 Stunden später durch Bevölkerung und Armee wieder an die Macht gebracht wird. Das hat zweierlei deutlich gemacht. Zum einen: Der Großteil der Streitkräfte ist verfassungstreu. Zum anderen: Die Bevölkerung war in der Lage, massiv zu reagieren, obwohl sie nicht besonders gut organisiert war. Millionen Menschen gingen auf die Straßen.

F: Sie gehörten zu jenen, die von den Putschisten verhaftet wurden. Was waren die Umstände?

Über hundert Menschen belagerten unser Haus, in dem ich mit Frau und Kindern lebte, und riefen, sie würden mich umbringen. Ich solle herauskommen, damit sie mich lynchen könnten. Das waren haßerfüllte Gestalten, die seit Tagen von der Propaganda der privaten Fernsehanstalten aufgestachelt worden waren. Schließlich kamen 20 Beamte der Geheimpolizei Disip und beschuldigten mich, Kriegswaffen in meinem Haus zu verstecken. Das war natürlich Unsinn. Ich wurde abgeführt und war zwei Tage lang von der Außenwelt abgeschnitten. Meine Verhaftung wurde gefilmt und in allen TV-Sendern übertragen. Man wollte den Chávez-Anhängern Angst einflößen, indem ihre bekanntesten Vertreter verhaftet werden. Denn wenn schon ein Abgeordneter verhaftet wird, der Immunität genießt, was durften dann alle anderen erwarten?

Wir haben zu sehen bekommen, wie eine Diktatur installiert wurde, die repressiv gegen soziale Bewegungen vorging und führende Aktivisten von Basisorganisationen ermordete. Das war eine schlimme Erfahrung, die meine revolutionäre Überzeugung bestärkt hat.

F: Sie sprechen die Morde an Aktivisten der sozialen Bewegungen an. Gibt es genaue Zahlen über die Toten?

Für die Zeit vom 11. bis zum 13. April haben wir Zahlen, die von mindestens 70 Toten ausgehen. Am ersten Tag waren es 19 Tote. Und in Asovic, einer Organisation der Angehörigen von Opfern vom 11. April, sind Angehörige von 16 Ermordeten und 104 mit Schußwaffen Verletzten Mitglied. Diese Menschen werden von den kommerziellen Medien totgeschwiegen, sie existieren in den Zeitungen und im Fernsehen nicht. Gezeigt werden nur Angehörige eines einzigen Toten, der von der Opposition war. Es ist, als ob es nur einen Toten gegeben hätte.

Das Blutbad wäre weitergegangen, wenn der Putsch nicht zurückgeschlagen worden wäre. Der Diktator Carmona und seine Truppe wollten den Chávismus ausrotten.

F: Wie sieht es heute mit der Strafverfolgung aus? Gegen wieviel Personen wird wegen des Putsches ermittelt, und wie weit sind die Ermittlungen gediehen?

Die Ermittlungen kommen nur sehr langsam voran. 90 Prozent der Justiz befinden sich in Händen oppositioneller Kräfte, die dem Putschisten nahestehen. So wurden zum Beispiel die Putschisten vom Obersten Gerichtshof, der von der Opposition kontrolliert wird, freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt aber weiter, und die Gerichte können immer noch Anklage erheben.

Als eine der Konsequenzen daraus liegt der Nationalversammlung ein Gesetz vor, das die Anzahl der Richter in den Kammern zu erhöhen soll, nicht um regierungsnahe Leute einzusetzen, sondern Richter, die sich an die Gesetze halten.

F: Sie sagen, daß Sie von der Geheimpolizei Disip verhaftet wurden. Wie ist das Kräfteverhältnis innerhalb der Institutionen?

Der Putsch hat die Masken vieler Leute fallenlassen. Du hattest jemanden an deiner Seite, von dem du dachtest, er sei ein Weggenosse, doch er entpuppte sich plötzlich als Putschist und Verräter, der dein Grab schaufelte. So wie es Abgeordnete gab, die sich wie wir für die Verteidigung der Verfassung erhoben, so gab es auch welche, die das Gegenteil taten. Das geschah in allen Institutionen, die Disip eingeschlossen. Wir haben danach einen Prozeß der Reorganisation begonnen, auch in der Armee. Es wurden natürlich Leute entlassen, aber in Venezuela läuft noch immer alles im Zeitlupentempo. Ein Jahr ist vergangen, aber noch immer sind nicht alle Karten auf dem Tisch. Immerhin haben wir den staatlichen Erdölkonzern PDVSA zurück erobert, der jetzt im Dienste der Nation und nicht mehr im Dienste der technokratischen Führungsspitze steht. Der Plan der Putschisten war, sofort nach dem Sturz Chávez PDVSA zu privatisieren, aus der OPEC auszutreten, die Erdöl-Lieferverträge, die Zentralamerika und der Karibik Vorzugskonditionen einräumt, aufzukündigen und Venezuela in eine Bananenrepublik zu verwandeln. Wir haben es geschafft, das zu durchkreuzen und der Welt eine wichtige Lektion zu erteilen: Wer das Öl will, wird Millionen von Venezolanern umbringen müssen. Wir lassen uns unser Öl, unseren Reichtum nicht einfach wegnehmen.

F: Die Putschisten hatten auch Unterstützung aus dem Ausland. Welche Länder waren das, und wie tief waren sie verstrickt?

Die Regierungen der USA, Spaniens und Kolumbiens haben nachweislich den Putsch unterstützt. Die US-Regierung hat vor dem Putsch alle hohen Putschisten zu Gesprächen empfangen und das Außenministerium hat sie ermutigt. Primero Justicia (PJ), eine der faschistischen Parteien, die offen an dem Putsch beteiligt waren, wird von der Stiftung der Republikaner in den USA, rechten Stiftungen aus Spanien und von der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung finanziert. Bürgermeister von Primero Justicia waren während des Putsches an den Angriffen auf die kubanische Botschaft beteiligt, der PJ-Bügermeister von Baruta, Leopoldo Lopez, und der von Chacao, haben den Minister Rodriguez Chassín abgeführt und zum Angriff auf das staatliche Fernsehen aufgerufen. Deutschland sollte auf seine Stiftungen aufpassen. Destabilisierende Bewegungen zu finanzieren, ist kein freundlicher Akt gegenüber Venezuela.

Aber es gibt auch viele Regierungen, die auf der Seite Venezuelas stehen, weil sie wissen, daß das Schicksal Chávez’ auch das ihre ist. Lula in Brasilien zum Beispiel weiß das, und ebenso wissen es die Basisbewegungen des Kontinents.

F: Waren der Putsch und die Zuspitzung der Auseinandersetzungen in Venezuela absehbar gewesen?


Noam Chomsky analysierte 2001 die Chávez-Regierung als nationalistisch und prophezeite, daß sie in Widerspruch mit dem Empire geraten würde, sollte sie den Erdölreichtum in den Dienst sozialer Reformen stellen. Genau das geschah. Unsere Regierung ist in der Tat eine nationalistische, und zwar in dem Sinne, daß sie auf Souveränität und eigene kulturelle Identität besteht. Und das ist in die Seele der Bevölkerung eingegangen. Das ist alles Teil des Prozesses und der Entwicklung. Es ist ein Prozeß, in dem die Basisbewegungen und die revolutionäre Bewegung vorangekommen sind. Der Nationalismus zur Verteidigung der venezolanischen kulturellen Identität ist gewachsen. Wir wissen in welche Richtung wir gehen. Wir werden die Demokratie weiter vertiefen, die Naturressourcen in den Dienst der Menschen stellen.

Eine Bestätigung dessen war der Widerstand der Bevölkerung gegen einen erneuten Putschversuch im Dezember 2002, als die staatliche Erdölindustrie PDVSA durch leitende Angestellte sabotiert wurde, unterstützt vom Arbeitgeberverband Fedecameras und der illegitimen Gewerkschaft CTV. Sie legten die gesamte Erdölförderung still. Die internationalen Währungsreserven Venezuelas fielen drastisch auf 13 Milliarden Dollar. Sie dachten, Chávez würde innerhalb von fünf Tagen zurücktreten müssen. Doch wir haben nicht nur den ganzen Dezember durchgehalten, sondern die Erdölindustrie im Januar reaktiviert. Und zwar mit Unterstützung eines Teils der PDVSA-Führung und Arbeitern, die verstanden hatten, daß diese kriminelle Handlung so faschistisch war wie der Putsch vom 11. April.

F: Große Teile der Leitung der PDVSA hatten bereits diesen Putsch unterstützt. Weshalb hat man diese Leute nicht schon vor dem Streik ausgetauscht?

Die Regierung hatte die kriminellen Fähigkeiten der Opposition unterschätzt. Nachdem Chávez an die Macht zurückkehrte, haben wir keine repressiven Maßnahmen gegen die putschistische Leitung eingeleitet, sondern einen Dialog begonnen. Wir hatten ihnen verziehen und jene in der PDVSA-Führung, die den Putsch unterstützt hatten, sogar wieder eingestellt. Wir hatten eine romantische Vorstellung von der Opposition. Aber wir werden diesen Fehler sicher nicht wiederholen. Nach den Sabotageakten vom Dezember wurden die Verantwortlichen entlassen, und die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sie.

F: Wie hat sich das Kräfteverhältnis zwischen der Opposition und den Kräften, die den in Venezuela eingeleiteten Prozeß unterstützen, seit dem Putsch entwickelt?

Im vergangenen Jahr ist die demokratische Kultur Venezuelas gewachsen, und die Bevölkerung ist besser organisiert. Ihre Organisationen sind heute so stark, daß es in zwölf Monaten gelungen ist, vier Versuchen zu trotzen, Präsident Hugo Chávez zu stürzen: Einem Militärputsch, einem wirtschaftlichen Umsturzversuch und zwei weiteren Streikversuchen. Während wir durchgehalten haben, ist die Opposition heute zerfallen. Ihre wichtigsten Führer haben sich als Justizflüchtlinge ins Ausland abgesetzt, und das ehemalige Bündnis ist atomisiert. Der Demokratie erweist das allerdings keinen guten Dienst. Wir brauchen eine Opposition, die ein würdiger und repräsentativer Gesprächspartner der Regierung ist. Die gibt es jedoch nicht, und leider habe ich auch nicht viel Hoffnung, daß sich das in nächster Zeit ändert.

F: Wie agiert die Opposition heute?


Sie fühlt sich durch die US-Invasion im Irak im Aufwind. Sie denkt, daß ihnen die Kolonialisierung des Iraks, unter Mißachtung der UNO und des internationalen Rechts, die Möglichkeit eröffnet, durch eine erneute Radikalisierung ihrer Aktionen unter dem Bruch der Verfassung einen Ausweg zu suchen. Das zeigt sich auch in ihrer TV-Propaganda, in der es heißt: »Jetzt holen wir dich«, nach dem Motto »Nachdem der Irak gefallen ist, ist Venezuela dran«. Doch Venezuela ist weder der Irak noch Afghanistan. Venezuela bewegt sich vollkommen im Rahmen des internationalen Rechts, und die Regierung ist verfassungstreu. Chávez hat sieben aufeinanderfolgende Wahlen gewonnen. Und wenn schon der Angriff auf den Irak die Ablehnung von 90 Prozent der Welt gestoßen ist, so wird es kein leichtes sein, einfach nach Venezuela zu kommen. Die Bevölkerung, die Armee und auch andere Länder in Lateinamerika würden das nicht einfach hinnehmen. Venezuela ist ein wichtiger Bezugspunkt in Lateinamerika und der gesamten Welt.

F: Die Einnahmeausfälle aus der Erdölindustrie hinterließen ein Loch von sieben Milliarden Dollar in den Staatskassen. Das ist im Alltag spürbar, die wirtschaftliche Situation ist viel schwieriger geworden. Wie wird es mit der Wirtschaft weitergehen? Hat die angespannte Wirtschaftslage zu einem Rückgang der Unterstützung in der Bevölkerung geführt?

Es gibt eine sehr harte Losung, die auf den Demonstrationen gerufen wird: »Ob Hunger oder Arbeitslosigkeit – ich bin Chávez verpflichtet«. Die Leute sind sich bewußt, daß es schwierige Zeiten gibt, und dieses Bewußtsein verleiht uns Kraft und Würde. Die Regierung hat gigantische Anstrengungen unternommen, um die Situation abzufedern. Wir haben es geschafft, die Erdölkrise vom Dezember und Januar zu überwinden. Das ist ganz unglaublich. Damals gab es hier kilometerlange Schlangen an den Tankstellen. In einem Land wie Venezuela, das Benzin produziert und exportiert. Wir mußten Benzin und zusätzliche Lebensmittel importieren.

Aber jetzt, da wir die PDVSA erobert haben, werden wir voranschreiten. Wir sind von der Erdölindustrie abhängig, und jetzt wo die PDVSA wieder in unseren Händen ist, können wir nach und nach alle Löcher stopfen und den Umbau zu einer diversifizierten Ökonomie, die nicht von lediglich einer einzigen Branche abhängig ist, beginnen. Es werden Arbeitsplätze geschaffen, in dem die kleinen und mittleren Unternehmen Kredite erhalten und indem die Investitionen im Land gefördert werden. Es fehlt eine starke ökonomische Schicht, die im Inland investiert. Wir sind dabei, Brücken zu diesem Sektor zu bauen.