Ein Interview mit Dario Azzellini

Soziale Bewegungen und der Staat

Privatisierung von Militäraufgaben, lokale Selbstverwaltung und Demokratie am Arbeitsplatz sind drei Themenblöcke, denen sich Dario Azzellini in seiner Forschung widmet. Im Interview mit der Autorin ging Azzellini auf die notwendige Heterogenität sozialer Bewegungen sowie ihre Potenziale ein und diskutierte die Rolle des Staates.
Geografisch hat sich Dario Azzellini auf Lateinamerika spezialisiert. In seinen Büchern und Dokumentarfilmen analysiert er die aktuellen Entwicklungen vor allem in Venezuela unter der Regierung von Hugo Chávez. Was haben die verschiedenen sozialen Bewegungen weltweit gemeinsam und wo kommen bestimmte Praktiken der Selbstverwaltung und politischen Partizipation her? Diesen und vielen anderen Fragen geht der wissenschaftliche Mitarbeiter der Abteilung Politik- und Entwicklungsforschung am Institut für Soziologie der Johannes Kepler Universität Linz nach.

Organisation ohne Hierarchie
Was haben die Occupy Bewegung, Movimiento 15-M in Spanien und eine Fabriksbesetzung in Venezuela gemeinsam? "Menschen kommen erstmal gleichberechtigt und ohne Hierarchien zusammen", erklärt Azzellini im Interview. In diesen Bewegungen organisieren sich die Menschen in ähnlicher Weise, indem sie sich auf einer gesellschaftlich horizontalen Ebene begegnen und nicht zuerst "einen Chef" wählen. Mit dieser Erkenntnis fordert Azzellini das oft propagierte Menschenbild heraus, das den Menschen als von Eigennutz und Instinkten getriebenes Wesen darstellt. Für den Wissenschaftler persönlich bedeutet das, möglichst viele Bereiche seiner Arbeit, ob Bücher, Vorträge oder Dokumentarfilme auf seiner Website (www.azzellini.net) kostenlos zur Verfügung zu stellen. Er glaube nicht an intellektuelles Eigentum und umgehe "copy right" wenn möglich, da seine Arbeit ein Resultat gesellschaftlicher Interaktion sei.

Die Bewegung der Bewegungen
Beim "Global Justice Movement" wurde der Begriff "Bewegung der Bewegungen" geprägt. Dieser Begriff spiegle die notwendige Heterogenität von Bewegungen, ihren Forderungen und Perspektiven wider, denn: "Niemand kann die Welt alleine ändern. Es muss die Bewegung der Bewegungen sein, die etwas verändert", erläutert Azzellini. Ob MigrantInnenselbstorganisierung, Gemeinschaftsgärten oder Studierendenproteste – sie alle seien mehr als eine soziale Bewegung, da sie sich mit verschiedenen gesellschaftlichen Strukturen und Bereichen auseinandersetzen.

Soziale Bewegungen im Sog des Kapitalismus
"Wenn wir nicht gewinnen, modernisieren wir", warnt Dario Azzellini. Man könne beobachten, dass in der Vergangenheit Forderungen sozialer Bewegungen vom Kapital aufgesogen und ins System integriert wurden. Sobald sich Grundzüge einer alternativen Gesellschaft etablieren, werden diese vom Staat entweder unterdrückt oder aber es findet eine Verwertung für das kapitalistische System statt. Als Beispiel nennt Azzellini die Transformation alternativer Stadtviertel, die sich vorher oft durch ihre billigen Cafés, Second-Hand-Shops und Volksküchen ausgezeichnet haben und plötzlich als moderne und beliebte Viertel extreme Preissteigerungen erleben. "Der Kapitalismus ist ein totalitäres System, es lässt dir nicht die Wahl, ob du mitmachen willst oder nicht", postuliert Azzellini.

Staat und Transformation – passt das zusammen?
Den Staat in Prozesse der sozialen Transformation zu involvieren, sei grundsätzlich problematisch und genauso unvermeidbar. Azzellini betont, dass der Staat nicht der Akteur der Veränderung sein könne, dafür sei er nicht gemacht und es sei auch nicht in seinem Interesse. Der Staat sei hingegen zur Aufrechterhaltung von Bestehendem, also zum Beispiel für den Schutz von Privateigentum und zur Einhaltung der Wettbewerbsbedingungen erschaffen worden. Er sei insofern äußerst funktional für das kapitalistische System. Durch die Globalisierung sei es Wirtschaftseliten gelungen, die politische Steuerungsfähigkeit abzubauen und den Staat auf einen "Bereitsteller" zu reduzieren. Aus diesen Gründen, erklärt Azzellini, müssten die Leute selbst die Form, in der sie sich organisieren wollen, entwickeln.

Von Venezuela lernen
Es sei ausschlaggebend, dass alternativen Lebens- und Wirtschaftsformen Chancen und Hoffnungen eingeräumt werden, damit es zu einer Bewegung der Bewegungen kommen kann. Dazu sei es für Azzellini wichtig, bereits Ideen für den Aufbau einer anderen Lebensform und einer anderen Gesellschaft zu formulieren.

In Venezuela wurde 1999 ein verfassungsgebender Prozess ausgerufen und die Infrastruktur von staatlicher Seite für solidarische Wirtschaftsformen und politische Partizipation maßgeblich erweitert. Zum Beispiel gibt es staatliche Begleitmaßnahmen für die Belegschaft im Falle einer Genossenschaftsgründung beziehungsweise einer Fabriksübernahme oder die Möglichkeit, sich in so genannten "Consejos Comunales" (eine Art von Bezirksrat) zu organisieren und dadurch staatliche Unterstützung für lokale Projekte zu bekommen.

"Die Basisbewegung [in Venezuela] ist stärker geworden, als die politische Bewegung verstanden hat, dass es nicht darum geht in den Basisbewegungen zu intervenieren, sondern ihnen die Arbeit zu erleichtern und ihnen das Werkzeug in die Hand zu geben damit sich die Gesellschaft selbst organisieren kann", erklärt Alfonso Tovar von der Simón Bolívar Stiftung in dem Dokumentarfilm "Venezuela von unten" von Dario Azzellini und Oliver Ressler. Diese Entwicklungen schließen Konflikte zwischen der Basisbewegung und dem Staat jedoch nicht aus. "So kommt es auch in Venezuela immer wieder zu Konflikten zwischen den Institutionen, die ihre Macht konsolidieren und ausbauen wollen und zur Kontrolle sozialer Prozesse tendieren, und den Basisbewegungen, deren Entwicklung und Ausrichtung nicht vorhersehbar und kontrollierbar ist", betont der Wissenschaftler und Filmemacher.

Ja, der Staat ist eine Institution, die Rahmenbedingungen schafft. Wünschenswert wäre eine Infrastruktur, die demokratische Selbstverwaltung und politische Partizipation fördert und nicht ihren Fokus auf ökonomische Interessen legt, denen alles andere untergeordnet wird.


Die Autorin ist Praktikantin im Paulo Freire Zentrum und studiert Internationale Entwicklung. Reaktionen bitte an redaktion@pfz.at


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