In Venezuela machen Gewerkschaften und Regierungsvertreter nun tatsächlich Ernst mit der Enteignung von stillgelegten Betrieben und neuen Modellen der Arbeiterselbstverwaltung

Venezuela rüttelt an den Produktionsverhältnissen

Ende Juli 2005 erklärte der venezolanische Präsident Hugo Chávez in seiner TV-Sendung «Aló Presidente», man prüfe derzeit die Enteignung von 136 geschlossenen Unternehmen. «Die Existenz geschlossener Unternehmen verstösst gegen die nationale Verfassung; das ist genauso wie bei brach liegendem Land», sagte Chávez. Die Ankündigung erfolgte bei der Wiedereröffnung einer neun Jahre lang geschlossen Kakaofarm, die von den Arbeitern mit einem Kredit der Regierung gekauft und in die «Unión Cooperativa Agroindustrial del Cacao» verwandelt wurde. Die Kakao produzierende Kooperative sei ein Beispiel für die neu ausgerufenen «Unternehmen sozialer Produktion » (EPS), die laut Chávez den Mittelpunkt einer «wirtschaftlichen Wende in Richtung des Sozialismus des 21. Jahrhunderts» darstellen. Chávez verlas mehrere Listen mit über tausend Unternehmen, die sich im Prozess der Enteignung befänden, deren Enteignung geprüft werde und die teilweise oder ganz ihre Arbeit eingestellt hätten. Er forderte die Bevölkerung auf, weitere geschlossene Unternehmen zu melden.

Enteignungen…

Die Besetzungen von Fabriken, die in Folge des Unternehmerstreiks von 2002/2003 geschlossen worden sind, brachte das Thema der Enteignungen auf die politische Tagesordnung. Unterstützung fanden die BesetzerInnen vor allem im linken Flügel des bolivarianischen Gewerkschaftsdachverbands «Unión Nacional de Trabajadores» (UNT). Nach langem Zögern der Regierung wurden in den letzten zwei Jahren erste Enteignungen in die Wege geleitet. Die Enteignung geschlossener Betriebe wurde dann Teil eines strategischen Plans zur Belebung der Produktion. Zugleich werden die enteigneten Unternehmen meist in kollektiven Besitz überschrieben. Sie erhalten staatliche Unterstützung finanzieller und technischer Art.
Obwohl die Verfassung bereits seit dem Jahr 2000 in Kraft ist, gab es bis September diesen Jahres erst zwei Fälle erfolgreich abgeschlossener Enteignungen. Im Januar wurde die Papierfabrik «Venepal» enteignet und Ende April die «Constructora Nacional de Válvulas» (CNV ), eine Fabrik, die Ventile für die Erdölindustrie herstellt. Ab Juli hat die Regierung begonnen, der Situation geschlossener Betriebe besonderes Augenmerk zu schenken. Ende September erklärte die Nationalversammlung die Zuckerrohrverarbeitungszentrale von Cumanacoa und den Rohrhersteller für die Erdölindustrie Sidororca zu Betrieben «von gesellschaftlichem Interesse».
Die UNT erklärte, sie unterstütze das Vorgehen der Regierung und bereite einen Antrag an die Nationalversammlung mit der Forderung vor, bei 700 Betrieben ein «allgemeines öffentliches Interesse» festzustellen, damit diese enteignet und von den Arbeitern in Mitverwaltung reaktiviert werden könnten. Die UNT kündigte auch an, 800 geschlossene Unternehmen besetzen zu wollen. Darunter seien auch verschiedene Anlagen des nach einem Finanzskandal in Konkurs gegangenen italienischen Milchmultis Parmalat und des US-amerikanischen Ketchup-Produzenten Heinz. «Angesichts der Angriffe des Neoliberalismus und Kapitalismus werden wir die Mechanismen der Arbeiter anwenden und gemeinsam mit den Gemeinden diese Unternehmen besetzen», sagte die Gewerkschafterin Marcela Máspero.
Anfang September übernahm die Armee die Maisverarbeitungsanlage Promabrasa, die zum grössten venezolanischen Lebensmittel- und Bierhersteller «Alimentos Polar» gehört, nachdem entlassene Arbeiter das Unternehmen besetzt hatten. Gemäss einer parlamentarischen Untersuchungskommission kaufte Polar das Unternehmen, schloss es und verlegte einen Teil der Maschinen nach Kolumbien, um sich so eine Monopolstellung auf dem venezolanischen Markt zu verschaffen. Ende September schliesslich enteignete der Gouverneur des Bundesstaats Barinas per Dekret die Anlagen. Der Marktwert wird den Ex-Besitzern ausbezahlt. Die Anlagen sollen möglichst schnell der aus 160 Ex-Beschäftigten bestehenden Kooperative «Maiceros de la Revolución» zur Verwaltung übergeben werden.
Als Vorbild für die angestrebten Enteignungen gelten die Papier- und die Ventilfabrik. In beiden wurden Arbeitermitverwaltungsmodelle eingeführt und beide befinden sich zu 51 Prozent im Staatsbesitz und zu 49 Prozent im Besitz einer aus allen Beschäftigten bestehenden Kooperative. Präsident Chávez enteignete am 19. Januar 2005 per Dekret den gesamten Besitz von Venepal (mittlerweile in Invepal umbenannt). Ebenso erging es der CNV, die sich im Besitz des Oppositionsführers Andrés Sosa Pietri befand, Ex-Direktor des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA. Er schloss während des «Unternehmerstreiks» 2002/2003. Der Versuch, die Produktion für den Binnenmarkt zu steigern, beschränkt sich nicht auf Enteignungen oder Förderungen für Privatunternehmen. Kooperativen erhalten Kredite zu sehr niedrigen Zinssätzen, um geschlossene Unternehmen zu kaufen, kleine Kooperativen erhalten sogar zinslose Darlehen. Teilweise unproduktive Unternehmen mit ökonomischen Problemen wird staatliche Unterstützung angeboten. Chávez forderte die Eigentümer unlängst auf, sich beim Staat zu melden, um die Möglichkeit einer Reaktivierung zu ermitteln. Unternehmer, die neue Arbeitsplätze schaffen, haben Zugang zu günstigen Krediten, wenn der Betrieb ein Modell der Arbeitermitverwaltung einführt, das den Arbeitern eine Beteiligung an der Leitung und den Gewinnen einräumt. Gemäss Arbeitsministerin Iglesias habe man sich in 155 Betrieben auf ein Modell der «cogestión» einigen können.

… und «cogestión»

José Khan, UNT-Vertreter und Abgeordneter der Regierungskoalition, erklärte im August, 88 Unternehmen hätten das von der Regierung vorgeschlagene cogestión-Modell, das ein kollektives Arbeitereigentum von 49 oder 51 Prozent vorsieht, bereits eingeführt. Der Vorsitzende der Kammer kleiner und mittlerer Industrie zweier Bezirke im Bundesstaat Miranda verkündete im August, vor Ort würde in 22 Unternehmen über die Einführung der «cogestión» verhandeln. Im Mai 2005 wurde aus den Reihen der UNT ein Gesetzesentwurf zur Regelung der Mitverwaltung in der Nationalversammlung eingereicht. Der Entwurf sieht vor, dass die Arbeiter «Zugang haben zu den operativen, juristischen und finanziellen Unterlagen» des Unternehmens. Ziel dieser Intervention sei eine «korrekte und effiziente Arbeitsweise». Als kollektive Entscheidungsorgane sind Arbeiterversammlung, Teilhaberversammlung, Verwaltungskomitees und ein mindestens zur Hälfte mit ArbeiterInnen besetztes Direktorium vorgeschlagen. Kritik an dem Entwurf kam von der Gewerkschaft der ALCASA-Arbeiter, Sintralcasa, die das weitgehendste «cogestión»-Modell praktizieren.
ALCASA, das zweitgrösste Aluminiumwerk Venezuelas, ist ein Versuchsbetrieb der Regierung. Das in Guayana im Bundesstaat Bolivar gelegene Aluminiumwerk gehört zum staatlichen Basisindustrie-Konglomerat «Corporación Venezolana de Guayana» (CVG). Es besteht aus 13 Unternehmen mit mehr als18 000 Beschäftigten in fünf südostlichen Bundesstaaten und untersteht dem Ministerium für Basisindustrien und Minen unter Minister Víctor Álvarez, ein starker Vertreter einer weitgehenden «cogestión», der mit den neuen Modellen «dem Staatskapitalismus einen Stoss versetzen » will. Mitte Februar dieses Jahres wurde der Ex-Guerillero und marxistische Soziologe Carlos Lanz von der Teilhaberversammlung ALCASAs zum Direktor gewählt. Er führte sofort eine weitgehende Mitbestimmung ein. Ziel ist neben der Demokratisierung ein produktiver und profitabler Betrieb.
Die cogestión in ALCASA ist klar als Arbeiterkontrolle des Unternehmens definiert. Die Arbeiterversammlung wurde als höchste Autorität des Werks festgelegt, ihr folgen die runden Tische der in den Abteilungen gewählten Sprecher. Dann kommen erst die internen Direktoren. Die Arbeiterversammlung beschloss eine Lohnerhöhung für die Arbeiter von 15 Prozent und die Ablösung aller internen Direktoren in den ersten 15 Tagen nach Antritt von Carlos Lanz. Das neue Leitungspersonal wurde von den Arbeitern aus ihrer Mitte gewählt, verdient genauso viel und ist abwählbar. Carlos Lanz legt Wert darauf, nicht als «Macher» dargestellt zu werden. Die Initiative sei von den Arbeitern ausgegangen, er habe nur die Verfahrensweisen erleichtert und ermöglicht. Die Gewerkschaft betont, es sei ihr Ziel, dass auch der Direktor durch die Arbeiter ernannt werde. Zudem schwebt ihnen ein spezielles Modell der Unternehmensleitung vor: Ihr sollen vier ArbeiterInnen, zwei VertreterInnen der Regierung und einE VertreterIn der organisierten lokalen Bevölkerung angehören. ALCASA gehöre nicht den Arbeitern und auch nicht dem Staat, sondern «dem gesamten Volk», betonen die GewerkschafterInnen. Wer geglaubt hat, dass dieses Projekt zum Scheitern verurteilt sei, wurde eines besseren belehrt. Im August kündigte Carlos Lanz an, die Produktion habe um elf Prozent gesteigert werden können.