Betrug bei Referendum befürchtet? Interview mit dem italienischen EU-Parlamentarier Vittorio Agnoletto

Linke EU-Delegation in Venezuela:

Betrug bei Referendum befürchtet?
Interview mit dem italienischen EU-Parlamentarier Vittorio Agnoletto

Zeitung: Sie werden vom 12. bis 17. August als Mitglied einer Delegation von Europaabgeordneten in Venezuela das Referendum über die Fortsetzung der Amtszeit von Präsident Hugo Chávez beobachten. Warum wollen Sie vor Ort sein?

Agnoletto: Wir wollen die Durchführung beobachten, also schauen, ob alles ordnungsgemäß abläuft. Wir werden untersuchen, wie sich die Opposition verhält und darüber berichten. Außerdem freue ich mich darauf, das Venezuela von Hugo Chávez aus nächster Nähe kennenzulernen. Venezuela befindet sich auf einem beachtenswerten Weg, auf der Suche nach Souveränität und Kontrolle über die eigenen Ressourcen. Dieser politische Kurs bringt das Land zwangsläufig in Konflikt mit den Interessen transnationaler Konzerne. Vor allem durch den Umgang mit seinen Erdölvorräten stellt sich Venezuela direkt gegen mächtige US-amerikanische Konzerne. Aber auch vielen anderen Wirtschaftsinteressen steht Chávez im Weg.

Zeitung: Woher stammen die Teilnehmer der Delegation?

Agnoletto: Die Delegierten sind im wesentlichen Mitglieder der Fraktion der Vereinigten Linken im Europaparlament. Sie stammen aus Deutschland, Italien, Griechenland, Belgien und Portugal. Das sind Abgeordnete, die für eine Politik an der Seite der sozialen Bewegungen stehen und Teil der weltweiten globalisierungskritischen Bewegung sind. Daher auch das Interesse an Venezuela und dessen von der einer breiten Basis getragenen, demokratisch gewählten Regierung. Uns haben sich auch Abgeordnete aus grünen und sozialdemokratischen Parteien angeschlossen, die darum gebeten haben, mitreisen zu können.

Zeitung: Sollte es nicht auch eine offizielle Delegation des EU-Parlaments geben?

Agnoletto: Ja, aber leider wird es die nicht geben. Ich habe in der Kommission für internationale Politik des EU-Parlaments auf der letzten Sitzung am 29. Juli eine entsprechende Anfrage gestellt. Aber mir wurde mitgeteilt, eine solche Delegation sei nicht vorgesehen. Das halte ich für sehr gravierend. Denn als in Venezuela im April 2002 die Rechte mit Unterstützung der USA einen Putschversuch unternahm, hatte der damalige spanische Ministerpräsident José Maria Aznar, als turnusmäßiger Vorsitzender der EU, den Putschisten sofort eine mögliche Anerkennung ihrer Regierung signalisiert.

Zeitung: Halten Sie Venezuela für ein Vorbild für europäische Bewegungen oder gar für die Entwicklung der Staaten in Europa?


Agnoletto: Zunächst muß ich sagen, daß wir vor dem Hintergrund der europäischen Geschichte und Erfahrungen natürlich zurückhaltend reagieren, wenn in einem Land ein Militär Staatschef ist. Das ist auch nicht falsch. Aber zugleich ist der Prozeß der sich in Venezuela abspielt, eine mögliche Antwort auf die Art Globalisierung, die auch wir bekämpfen. Die Suche nach einer Alternative zum Neoliberalismus ist vielleicht die entscheidende Aufgabe für uns alle.

Zeitung: Was ist besonders bemerkenswert an der venezolanischen Gesellschaft?

Agnoletto: Wir wollen uns das Netzwerk aus Basisorganisationen anschauen, das Chávez und den Transformationsprozeß unterstützt. Außerdem sind die vielen neuen demokratischen Elemente hochinteressant. Es ist mir beispielsweise kein europäisches Land bekannt, in dem der Präsident nach der Hälfte der Amtszeit abgewählt werden kann, wie in Venezuela.

Zeitung: Was bedeutet die Entwicklung Venezuelas für Lateinamerika?


Agnoletto: Der Versuch, einer kleinen Oligarchie die Kontrolle über die Ressourcen zu entreißen, ist für jedes Land interessant. Auch im Kontext der politischen Situation in Südamerika. Kolumbien steht beispielsweise im Moment vor einer mehr oder weniger direkten US-Intervention. Venezuela zeigt, daß wirkliche Souveränität für einen lateinamerikanischen Staat nur möglich ist, wenn er auch seine Ressourcen vor dem direkten Zugriff multinationaler Konzerne schützt.

Interview: Dario Azzellini

(Donnerstag, den 12.August 2004)

Vittorio Agnoletto ist Arzt und ehemaliger Sprecher des Sozialforums in Genua. Er wurde als unabhängiger Kandidat auf der Liste der italienischen Partei Rifondazione Comunista (Kommunistische Neugründung) in das EU-Parlament gewählt und ist Mitglied der Venezuela-Delegation, die von der Fraktion der Vereinigten Linken (GUE-NGL) organisiert wird.