Washington fordert Bürger zum Verlassen Venezuelas auf. Gegner von Präsident Chávez wollen Eskalation. Bevölkerungsmehrheit verteidigt Verfassung und Regierung

Medien produzieren Notstand

Wegen der anhaltenden Proteste gegen den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez hat die US-Regierung ihren Bürgern die Abreise aus dem südamerikanischen Land empfohlen. Das US-Außenministerium erlaubte am Dienstag auch allen Botschaftsmitarbeitern, deren Anwesenheit vor Ort nicht dringend notwendig sei, die Rückkehr in ihre Heimat. Als Begründung wurde die »sich verschlimmernde politische und Sicherheitssituation« in Venezuela angeführt. Am Mittwoch ging der sogenannte Generalstreik der Opposition in den zehnten Tag.

Auch die von der rechten Opposition Venezuelas kontrollierten Medien zeichnen ein Bild, als ob das Land kurz vor einem Kollaps stünde. Die Realität indes sieht anders aus. Die Versorgungs- und Produktionssituation in dem lateinamerikanischen Land normalisiert sich zunehmend.

Die Fernsehanstalten der Opposition schrecken bei ihren Manipulationen vor nichts zurück. Ein Video, das die privaten TV-Sender als Beweis für die Verantwortung der Regierung für die drei Toten eines Anschlags am Samstag zeigten, erwies sich als Fälschung.

Derweil ließ der venezolanische Expräsident Carlos Andres Perez, der für die Niederschlagung der Armutsrevolte 1989 mit Tausenden Toten verantwortlich war und im Hintergrund der Putschisten heute die Fäden zieht, aus dem Exil wissen, es sei »keine friedliche Lösung mehr möglich (...) es wird einen militärischen Ausgang als einzig möglichen geben«.

Tatsächlich setzt die Opposition mittlerweile alles auf eine derartige Zuspitzung der Situation, so daß die »demokratische Charta« der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Kraft tritt, gemäß derer eine militärische Intervention zur »Wiederherstellung der Demokratie« gutgeheißen werden kann. Der Präsident der OAS, der ehemalige kolumbianische Präsident Cásar Gaviria, der sich als vermeintlicher Vermittler zwischen Regierung und Opposition seit Ende November in Venezuela aufhält, hat sich mittlerweile offen auf die Seite der Putschisten geschlagen und in einer von privaten TV-Anstalten ausgestrahlten Rede die Polizei zum Einschreiten gegen demonstrierende Chávez-Anhänger aufgefordert. In diesem Kontext kündigten die Abgeordneten der Opposition auch an, nicht mehr an den Sitzungen der Nationalversammlung teilzunehmen.

Angesichts der medialen Inszenierung eines Notstandes bis hin zu offenen Aufrufen putschistischer Militärs zur Gewalt gegen Präsident Hugo Chávez und seine Anhänger über die oppositionellen TV-Sender führen Anhänger der »bolivarianischen Revolution« seit Montag Kundgebungen vor allen Oppositionsmedien durch und fordern diese auf, »die Wahrheit zu erzählen«. Von Chávez hingegen wollen sie, daß er diesen Sendern Lizenzen entzieht. Anhänger der Opposition führten hingegen eine Kundgebung vor der staatlichen Fernsehanstalt VTV durch, von der aus mehrere Schüsse auf das Gebäude abgegeben wurden. Anschließend versammelten sich Tausende Anhänger der Revolution, um den Sender zu schützen.

Aktiv am Streik beteiligen sich vor allem transnationale Konzerne und Ketten wie McDonald´s und Wendy´s sowie einige Banken. Die Milchabfüllanlage der italienischen Firma Parmalat wurde von Arbeitern und Chávez-Anhängern besetzt und wieder in Betrieb genommen, nachdem sich die Geschäftsleitung geweigert hatte, angelieferte Milch aufzukaufen. Ebenso erging es in den vergangenen Tagen zahlreichen anderen Fabriken, darunter auch dem Abfüllerbetrieb von Pepsi Cola.

Der Streik konzentriert sich ohnehin nahezu vollständig auf die Hauptstadt und ist dort eindeutig fehlgeschlagen. Flughäfen, Häfen, kleine und mittlere Betriebe sowie Geschäfte haben - bis auf einige große Einkaufszentren und Läden in reichen Stadtteilen - regulär geöffnet. Die oberen Klassen bestreiken sich also nur selbst. Ebenso arbeiteten auch der Nah- und Fernverkehr reibungslos. Die U-Bahn in Caracas funktioniert weiterhin regulär. Francisco Torrealba, Vorsitzender der Metroarbeiter-Gewerkschaft von Caracas (Sitramenca), erklärte, es habe nur zwei kurzzeitige Unterbrechungen bei zwei Linien aufgrund von Sabotageakten gegeben, versicherte jedoch, die U-Bahn würde weiterhin normal funktionieren. Ebenso ist die Lebensmittelversorgung entgegen der Meldungen der Presse vollständig sichergestellt. Selbst der Großmarkt von Caracas funktioniert und hat sich nie dem Streik angeschlossen.

Die Blockade innerhalb der Erdölgesellschaft PDVSA ist ebenfalls kein Arbeiterausstand, sondern eine Arbeitsverweigerung der Unternehmenseliten, die den Betrieb durch ihre enormen Gehälter und die maßlose Korruption zum unproduktivsten Erdölunternehmen der Welt gemacht haben. Im Ausstand befinden sich die Unternehmensleitung, einige Kapitäne der Öltanker, einige Ingenieure und Teile des oberen Verwaltungsapparats. Da diese auch aktive Sabotage der computergesteuerten Anlagen betreiben, sind die Folgen teilweise beträchtlich.

Die Treibstoffversorgung im Land ist sichergestellt. Während die transnationalen Erdölkonzerne Mobil Oil, Shell und BP ihr Tankstellennetz geschlossen haben, funktionieren alle Tankstellen der staatlichen PDV, also der Großteil der Stationen. In Caracas, dem Zentrum der oppositionellen Proteste, werden die Tankstellen von der Nationalgarde bewacht, während sie außerhalb der Hauptstadt ohnehin in Betrieb sind.

Indes häufen sich terroristische Aktionen der »demokratischen Opposition«. Anwohner meldeten, daß oppositionelle Militärs von der Plaza Altamira auf ein vorbeifahrendes Auto geschossen hätten. Oppositionelle haben auch einen Milchtransporter in Brand gesetzt. Andere wurden angehalten und die Milch abgelassen. Auf das Auto des Ministers für Land und Landwirtschaft wurde mehrmals geschossen. Ebenso wurden auf sein Büro im Ministerium mehrere Salven abgegeben. Dabei wurden zwei Personen verletzt. Im Nationalen Institut für Fluß- und Kanalschiffahrt brach - wahrscheinlich durch Brandstiftung - ein Feuer aus. Und als am Dienstag morgen Unbekannte das Feuer auf den Personaleingang des Erziehungsministeriums eröffneten, kam ein Angehöriger der Nationalgarde ums Leben, der sich in einem Auto davor befand.

Die Plaza Altamira, auf der sich seit Wochen die am Putsch beteiligten Militärs, unterstützt von einigen hundert Anhängern, sammeln, war am Montag abend leer. Die Galionsfiguren der Ultrarechten, vom Gewerkschafter Carlos Ortega bis zu den putschistischen Generälen, haben seit einigen Tagen keine öffentlichen Auftritte mehr gehabt. So wird bereits spekuliert, sie würden versuchen, das Land zu verlassen. Allein das Gerücht führte dazu, daß sich Hunderte Anhänger der »bolivarianischen Revolution« zum Flughafen von Caracas begaben, um dies zu verhindern.

Die Armen, die am Dienstag nach tagelangen bewaffneten Angriffen der Opposition auf ihre Wohngebiete wieder begannen, zu Zehntausenden von den Slums auf den Hängen rund um Caracas ins Zentrum der Hauptstadt zu kommen, um »ihre Regierung« zu verteidigen, sind diesmal zu allem entschlossen. »Wir wollten sehen, wie weit sie gehen«, so ein Demonstrant, »aber wenn sie Chávez stürzen, entfesseln sie einen Bürgerkrieg«.

Präsident Hugo Chávez hat indes zur allgemeinen Mobilisierung der Bevölkerung gegen den erneuten Putschversuch aufgerufen. Im ganzen Land sind Millionen von Menschen unterwegs, demonstrieren ihre Unterstützung für die Regierung, besetzen Fabriken, schützen Institutionen und versuchen, eine Eskalation zu verhindern.