Interview mit der venezolanischen Abgeordneten Elsa Castro

„Ich folge nicht einem Mann“

Dr. Elsa Castro, Rechtsanwältin, Abgeordnete der Fraktion Movimiento Quinta República (MVR) in der Nationalversammlung der Bolivarianischen Republik Venezuela ist Mitglied in der parlamentarischen Kommission „Familie, Frauen und Jugend”. In der MVR arbeitet sie als Direktorin für Frauenfragen im Bundesland Miranda. Bis 2001 war sie Rechtsberaterin in der Kommission für Stadtentwicklung des Abgeordnetenhauses von Caracas und arbeitete unter anderem für den sozialen Aufbau im Bundesland Miranda im Rahmen der Landesplanung „Bolivar 2000“ der Regierung des Präsidenten Hugo Chávez. Sie ist Vorstandsvorsitzende der Gesellschaft zur Förderung der Frauen (CENDIMUJER).

Am 10. Oktober mobilisierte die Opposition wieder gegen die Regierung, wie verlief die Mobilisierung?

Sie schafften es, viele Menschen auf die Straße zu bringen, etwa 200.000, doch davon waren einige bezahlt und bewaffnet und das führte dazu, dass viele andere, Familien beispielsweise, die Demonstration wieder verließen. Das wird natürlich nicht in den Medien gezeigt, ebenso wenig wie die Demonstrationen der AnhängerInnen der bolivarianischen Revolution, die nur wenige Tage später zwei Millionen Menschen mobilisierten.
Zugleich gewinnt Primero Justicia als offene parteipolitische Opposition viel Kraft, sie kontrolliert die Rathäuser mehrerer Stadtteile von Caracas und ist auch im Parlament sehr aktiv. Primero Justicia wird unter anderem auch aus Deutschland, von der Konrad-Adenauer-Stiftung, finanziert.

Die Situation in Venezuela erscheint von außen ziemlich konfus. Es ist nicht klar, welche Macht die Regierung wirklich besitzt. Woran liegt das?

In Venezuela besteht eine „doppelte Macht“, wie wir es nennen. Das heißt, dass wir zwar den Präsidenten und die Regierung stellen, aber viele andere Bereiche von der Opposition kontrolliert werden. Es wurden zwar die Minister ausgetauscht, doch in vielen Institutionen sind die Funktionäre die gleichen geblieben. So ist die Justiz zum Beispiel in den Händen der Opposition. Mehr als die Hälfte der Richter entscheidet im Interesse der Reichen und Korrupten. Ebenso sieht es in der Nationalversammlung aus, wo die Opposition mittlerweile über 80 von 165 Sitzen verfügt, weil eine Reihe Abgeordneter zur Opposition übergewechselt ist. So wird eben alles boykottiert. Im Parlament zum Beispiel wird seit Monaten die Verabschiedung der Gesetze zur sozialen Sicherung, die die Bevölkerung fordert, von der Opposition blockiert.

Der Prozess in Venezuela erscheint ungewohnt. Es findet sozusagen eine „Emanzipation“ von oben statt.

Die Behauptung, das Volk sei für einen solchen Prozess nicht bereit, stammt ja von denjenigen, die daran gar kein Interesse haben. Ich selbst bin Amtsträgerin und komme aus ärmlichen Verhältnissen, meine Mutter wurde als Kommunistin politisch verfolgt. Daher weiß ich, dass das Volk oftmals viel bereiter ist als die politischen Führungspersonen. Wir verfügen erstmals in der Geschichte Venezuelas über eine republikanische Verfassung, und vor allem die unteren Schichten tragen die Verfassung immer bei sich, sie kennen ihre Rechte und sie wissen in dem ganzen Durcheinander, wer die Korrupten sind.

Ist es nicht ein Problem, dass sich alles stark auf Chávez’ Person konzentriert?

Ja, das ist ein Problem. Ich weiß, dass ich nicht einem Mann folge, sondern bestimmten Idealen und Realitäten. Ich weiß, dass wir eine Realität haben in Venezuela, die es uns erlauben würde, ein entwickeltes Land ohne so viel Armut zu sein.
Chávez wird von der Bevölkerung geliebt. Er verkörpert eine gewisse Ehrlichkeit und Haltung, die Vertrauen hervorbringt. Er hat es geschafft, die venezolanische Linke zu einigen, was über Jahre vergeblich versucht worden war. Aber es wird viel unternommen, gerade auch von Chávez selbst, um nicht alles auf ihn zu konzentrieren. Es gibt inzwischen viele neue Leute. Vor allem durch die Bolivarianischen Zirkel.

Über die Bolivarianischen Zirkel ist wenig bekannt, auf welche Idee geht ihre Gründung zurück?

In der Präambel der neuen Verfassung steht, dass das Volk „Mitverwalter“ öffentlicher Arbeiten ist. Ein Großteil der Artikel der Verfassung ist so ausgelegt und das macht sie revolutionär. Das Volk ist in der Verfassung als handelndes Subjekt festgelegt. Dafür wurden die Bolivarianischen Zirkel aufgebaut. Sie sind nach Simón Bolívar benannt, der an Prinzipien wie Ehrlichkeit und die Entwicklung des Menschen durch Bildung glaubte. Ein gebildetes Volk hält die Macht in den Händen, es kann nicht manipuliert werden.

Bevor wir diese Struktur eingeführt hatten, besuchten die Reichen und die PolitikerInnen die Armenstadtteile nur vor den Wahlen um beispielsweise eine neue Treppe bauen lassen. Die wurde dann so gebaut, dass sie nur zwei Jahre hielt, damit für die nächste Kampagne wieder eine Treppe angefertigt werden musste. Für den Bau der Treppe wurden dann Firmen von Bekannten oder Verwandten beschäftigt und eine Kommission dafür kassiert. Was geschieht heute? Die Bevölkerung soll selbst die Arbeiten überwachen, mitarbeiten und verantwortlich sein.

Welches Ziel haben die Zirkel?

Anstelle der Haltung „die Regierung macht nichts, die Regierung gibt mir nichts...“ soll die Eigenverantwortung gefördert werden. Und so entstehen die Zirkel aus mindestens fünf Personen in einem Wohnblock, einem Stadtteil oder einer Gemeinde. Sie evaluieren die Problematik vor Ort und stellen zum Beispiel fest: „Wir haben keine Schule und kein Krankenhaus... aber wir haben Maurer, Schreiner, Näherinnen und Lehrerinnen, und so können wir uns organisieren und selbst aufbauen, was wir in unserem Stadtteil brauchen“. Dann bilden sie Dienstleistungskooperativen und führen ihre Arbeiten selbst durch. Die Finanzierung kommt vom Staat. Der bürokratische Apparat soll auf die Hälfte reduziert und die Korruption verringert werden, indem alles direkt auf der lokalen Ebene angesiedelt wird.

Unter den Maßnahmen der Chávez-Regierung war auch das „Landgesetz“, nach dem brachliegende Ländereien enteignet werden können und eine kleine Landreform stattfindet. Diese kommt sehr langsam voran. Seit Dezember 2001 haben von den 2,5 Millionen Landlosen, die es geben soll, erst ungefähr 100.000 Menschen Land bekommen.
Zunächst einmal ist die Ernährungssicherheit in der Verfassung verankert. Das bedeutet, dass Land und die Mittel zur landwirtschaftlichen Entwicklung garantiert werden müssen.
Enteignet wurde bisher aber nichts. Zunächst wird geschaut, welches Land nicht genutzt wird und warum. Wenn sich das nach einigen Jahren trotz Krediten nicht geändert hat, werden Geldstrafen festgelegt. Erst wenn weiterhin nichts mit dem Land geschieht, wird eine Enteignung juristisch in die Wege geleitet.
Der erste Schritt ist, überhaupt festzustellen, wieviel bebaubares Land es gibt. Es wurde ein Institut mit Regionalbehörden gegründet, in dem sich alle landwirtschaftlichen Produzenten einschreiben müssen, ganz gleich ob das Land ihnen gehört oder gepachtet ist. Die meisten Produzenten haben sich mittlerweile eingeschrieben. Dem stehen einige Goßgrundbesitzer gegenüber, die für das Land, das sie nutzen, keine Titel besitzen. Häufig haben sie es sich unter dubiosen Umständen angeeignet. Sie verfügen über Ländereien, die von Bauern in sklavenähnlichen Bedingungen bewirtschaftet werden. Widerrechtlich angeeignete Ländereien werden jetzt an die Landlosen verteilt. Insgesamt haben bereits mehrere zehntausend Familien Land bekommen. Die Großgrundbesitzer reagierten mit bewaffneter Gewalt, in der Region südlich des Sees von Maracaibo gab es bereits 25 Tote. Das waren alles Landarbeiter und ihr Tod konnte nicht, wie so oft, irgendwelchen Auseinandersetzungen zwischen Drogenhändlern oder kriminellen Gruppen zugeschrieben werden. Das waren Killer, angeheuert von Großgrundbesitzern, die von den Regulierungsmaßnahmen betroffen sind. Es gab auch schon zwei Attentate auf den Minister für landwirtschaftliche Entwicklung. Bei einem davon wurde sein Fahrer angeschossen.

Es war ja auch schon die Rede von der Entstehung paramilitärischer Gruppen mit Verbindungen zu den kolumbianischen Paramilitärs.

Es wurde bereits nachgewiesen, dass in Gegenden, die von der Opposition regiert werden, Funktionäre für polizeiähnliche Aufgaben ernannt wurden, die bewaffnet sind, aber juristisch gesehen nicht existieren dürften. Viele von ihnen nahmen auch nachweislich an der Demonstration der Opposition vom 10. Oktober teil. Ein Bus aus dem Bundesstaat Carabobo wurde auf dem Weg zur Demonstration aufgehalten, und er war voll mit Bewaffneten. Verantwortlich dafür ist ein ehemaliger Militär, Ex-Chef des Generalstabs, der in der Regierung von Miranda arbeitet und in die Putschversuche vom 11. April verwickelt war.

In einigen Zeitungen wird mit rassistischen Argumenten gegen Chávez und seine AnhängerInnen mobilisiert. Sie werden als Schwarze, Indianer und dummer Pöbel bezeichnet. Welches Gewicht hat dieser Diskurs?

Der Rassismus war schon immer da, aber jetzt tritt er offen zu Tage. Bei den Aktionen und Demonstrationen der Opposition werden die Anhänger der Regierung als Bastarde bezeichnet, ein Wort das eigentlich nicht gebräuchlich ist. Auch gibt es ständig sexistische Sprüche, selbst von Frauen, wie beispielsweise, dass wir in der Regierung so viele Frauen sind, weil Chávez mit allen ins Bett geht. Diese Kampagne basiert auf den Ressentiments der Oberschicht gegenüber den ärmeren Schichten. Außerdem wird Hugo Chávez abfällig angesehen, weil er schwarze und indigene Vorfahren hat und dazu steht.

Welche Arbeit wird denn in der Frauenpolitik geleistet und was hat sich verändert?

Diese Regierung hat die Sache von Anfang an anders gemacht. Schon bei der Diskussion um die Verfassung wurden in allen Bereichen spezielle Frauenkommissionen gebildet, damit wir Frauen zum ersten Mal in der Geschichte sichtbar werden. Die Berufsbezeichnungen wurden geändert und es gibt jetzt für alle Berufe auch weibliche Formen. Die Genderfrage ist zu einer Querschnittsaufgabe geworden. Venezuela ist ja wie jedes andere lateinamerikanische Land ein Macho-Land, so dass das für uns Frauen eine wichtige Veränderung bedeutete, vor allem für Frauen aus den unteren Schichten. Als Chávez an die Macht kam, forderten wir Frauen, dass María León, eine Gewerkschaftsführerin aus der Unterschicht mit kommunistischer Vergangenheit, zur Leiterin des Nationalen Fraueninstituts wird. Das war damals noch ein Präsidentschaftsinstitut, das Chávez sofort in ein autonomes Institut mit eigenem Haushalt umgewandelt hat. Nun gibt es ständig Aufrufe und Einladungen, dass sich die Frauen aus den armen Stadtteilen mit der Leiterin des Fraueninstituts treffen sollen, das hatte man vorher nie erlebt. Wir Frauen lernen nun auf allen Ebenen unsere Rechte kennen.

Was macht die parlamentarische Kommission „Familie, Frauen und Jugend”, der Sie auch angehören?

Die Kommission, die unter der Leitung der Abgeordneten Marelis Perez steht, erarbeitet gerade ein Gleich¬stellungsgesetz. Darunter fallen dann alle Rechte und Pflichten der Frauen. Wir arbeiten zu innerfamiliärer Gewalt, zum Recht auf Ausbildung und Chancengleichheit, dem Recht auf Arbeit und auf politische Teilhabe und dem Recht auf Arbeit ohne Altersdiskriminierung. Die größten Auswirkungen zeigt aber die Integration der Frauen in die soziale und wirtschaftliche Entwicklung.
In einem Großteil der Haushalte in Venezuela sind Frauen Haushaltsvorstand und stehen meist völlig alleine dar. Bisher war nicht einmal die „verantwortungslose Vaterschaft“ strafbar. Dazu machen wir gerade ein Gesetz. Bislang gab es keine soziale Sicherung für Frauen, die dem Haushalt vorstehen, sich um Haus und Kinder kümmern. Das ist jetzt anders. Den Frauen soll eine soziale Sicherheit garantiert werden, ob sie nun Hausfrauen sind oder im informellen Sektor arbeiten.