Nach neuerlichen Armee-Massakern will in Mexiko die EPR-Abspaltung ERPI "auf den Volksaufstand" vorbereitet sein

Strafe, Selbstverteidigung, Sozialismus

Als die Arme das Dorf El Charco im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero umstellte, beschoß und schließlich elf Personen per Kopfschuß auf dem örtlichen Basketballfeld exekutierte, waren die Meldungen dazu widersprüchlich.
Die Armee behauptete, auf eine Einheit der Revolutionären Volksarmee (EPR) gestoßen zu sein, kurze Zeit später war von der ERPI (Revolutionäre Armee des Aufständischen Volkes) die Rede. In den Tagen nach dem Massaker führte die ERPI im Bundesstaat Guerrero mindestens zwei Angriffe auf Militär- und Polizeipatrouillen durch, bei denen nach offiziellen Angaben fünf Sicherheitskräfte ums Leben kamen. Das war im Juni.

Außer den Angaben der Militärs existierten bislang keine Informationen über die ERPI. Das sollte sich in der ersten Augustwoche ändern: Zwei ERPI-Comandantes äußerten sich bei einem Pressegespräch in Acapulco (Guerrero) zu den Ursprüngen und Zielen ihrer Organisation: In El Charco hätten sie nur eine Versammlung abgehalten, "um von den Bedürfnissen und Vorhaben der Bevölkerung zu erfahren" - in einer Phase der "stillen Arbeit": "Damit wären wir auch fortgefahren, hätte es das Massaker nicht gegeben". Eigene Ermittlungen nach dem Massaker hätten zudem zur Identifizierung der "Verantwortlichen" geführt: Eine Person außerhalb der Gemeinde und ein General an der Spitze der Militäroperation seien nun bekannt, die ERPI "garantiere, daß sie bestraft" würden.
Im Gegensatz zum militärischen Geheimdienst Mexikos, der davon ausgegangen war, daß etwa 60 Prozent der EPR-Strukturen in der ERPI aufgegangen seien, erklärten die "Aufständischen Comandantes" "Antonio" und "Santiago", ihre Organisation repräsentiere die gesamte ehemalige Struktur der EPR im Bundesstaat Guerrero. "Während der letzten zwei Jahre unterschieden sich die Standpunkte der Einheiten in Guerrero immer mehr von denen des Zentralkomitees. Die Ereignisse zwingen dazu, uns als eigenständige Kraft zu definieren, mit eigener militärischer Kraft, eigenem politischem Programm und Zielen."

Die ERPI-Comandantes nennen drei wesentliche Unterschiede zur EPR. Diese habe Wahlen wenig Bedeutung beigemessen, die ERPI erkenne jedoch eine Radikalisierung der Bevölkerung während des Wahlprozesses und ein neues politisches Bewußtsein: "Wir sahen die Möglichkeit des Wachstums für unsere Organisation und verstanden, daß die Wahl ein Ausdruck des Kampfes der Bevölkerung ist und unsere Rolle nicht nur die eines kritischen Beobachters sein kann", erklärte Comandante Antonio.
Die ERPI wolle zudem die "bewaffnete Selbstverteidigung auf Wunsch der Gemeinden entwickeln, als Antwort auf die Angriffe, die durch Armee, Polizei, Kaziken (eine Mischung aus Großgrundbesitzern und Landesfürsten; D. A.) und ihre Pistoleros erfolgen". Sie definiere sich als "Armee des Volkes und nicht irgendeiner Partei, wir tun nur das, was die örtliche Bevölkerung mehrheitlich von uns verlangt", so die Comandantes. Das Ziel sei ein "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" basierend auf der Idee der "Volksmacht". Die Aktionen der EPR hätten hingegen nicht auf den Vorstellungen und Notwendigkeiten der Dorfgemeinschaften basiert, sondern auf "landesweiten konjunkturellen Ereignissen".

Der dritte Unterschied sei strategischen Charakters. Während die EPR die Linie eines "verlängerten Volkskrieges" verfolge, wolle sich die ERPI auf einen möglichen "Volksaufstand" nach den Wahlen im Jahr 2000 vorbereiten. Damit wird Bezug auf die Wahlen von 1988 genommen, als es nach einem Wahlbetrug der regierenden PRI zu bewaffneten Aufständen und Zwischenfällen in verschiedenen Bundesstaaten kam.

Die von verschiedenen Medien vermutete Nähe zur EZLN bestritt Comandante Antonio. Während die Zapatisten eine politische Antwort gäben, führe die ERPI Selbstverteidigungs-Aktionen durch. Doch sei der Beitrag der EZLN politisch sehr wichtig und "es könne von einer Annäherung gesprochen werden, was die Losungen 'gehorchend befehlen' oder 'für alle alles, für uns nichts' betreffe". Zudem begrüße man die EZLN-Initiative zu einer Volksabstimmung über die Rechte der indianischen Gemeinschaften. Sie sei ein "Vorbild für Demokratie" und werde in den Einflußgebieten der ERPI unterstützt.

Der Bundesstaat Guerrero hat eine lange Guerilla-Tradition. Ab 1963 führte der Landschullehrer Genaro Vazquez Rojas eine bewaffnete Gruppe an, nachdem er von seinem Versuch, bei Wahlen in Guerrero anzutreten, repressiv abgehalten wurde. Die Gruppe, in den Untergrund gedrängt, wurde schließlich 1972 zerschlagen, Vazquez Rojas starb dabei.

1967 griff nach einem staatlichen Massaker in Atoyac, Lucio Caba-as, ebenfalls Landschullehrer, zu den Waffen und gründete die "Hinrichtungsbrigade der Partei der Armen", die auf breite Unterstützung von Bauern zählen konnte. 1974, als die Gruppe von Sicherheitskräften weitgehend aufgerieben wurde, starb auch er. Während der Aufstandsbekämpfung in der Region verschwanden über 500 Personen, viele sollen über dem Meer aus Hubschraubern abgeworfen worden sein.

Der bewaffnete Kampf schien damit für die Regierung, wie auch für Mexikos Linke, beendet. Doch wurde in den letzten Jahren deutlich, daß dies ein Trugschluß war. So wie die EZLN aus einer kleinen Gruppe hervorging, die jahrelang klandestin Aufbauarbeit geleistet hatte, so handelte es sich bei der EPR um einen Zusammenschluß verschiedener Gruppen. Diese waren aus den Resten der Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre hervorgegangen und hatten jahrzehntelang Organisationsarbeit geleistet.
In weiten Teilen der Welt noch als Urlaubsort gepriesen, bezeichnen mittlerweile selbst hohe Militärs Mexiko als "Land im Kriegszustand". Der militärische Geheimdienst der USA zählt in seinem jüngsten Bericht 37 Guerilla-Organisationen auf, die in zwölf Bundesstaaten Mexikos operieren. Andere Quellen geben bis zu 300 solcher Gruppen an. Doch die Zahlen verwirren, da einige Gruppen verschwindend klein sind, während andere über eine breite Basis verfügen. Außerdem werden zunehmend auch zur Selbstverteidigung bewaffnete Bauernorganisationen in die Klandestinität gedrängt - und verwandeln sich so langsam in Guerillagruppen.

" Dario Azzellini, San Cristobal de las Casas


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