Ecuador: Alles änderte sich, damit es blieb wie es war

Ein Aufstand, ein geplanter Putsch, ein verdeckter Putsch und ein neuer Präsident

Das Staunen war groß, als am Freitag, den 21. Januar, gegen Mittag etwa 1.500 Indígenas gemeinsam mit einer Gruppe rebellierender Militärs das Parlamentsgebäude der ecuatorianischen Hauptstadt Quito stürmten und den Präsidenten Jamil Mahuad für abgesetzt erklärten. An seine Stelle setzten die Aufständischen eine "Regierung der Nationalen Rettung", ein Triumvirat bestehend aus dem Oberst Lucio Gutiérrez, dem ehemaligen Vorsitzenden des Obersten Gerichts Ecuadors Carlos Solórzano und dem Vorsitzenden der "Konföderation Indigener Nationen Ecuadors" (Conaie) Antonio Vargas. Gleichzeitig jubelte auf den Straßen des Landes die Bevölkerung. Die Freude hielt jedoch nur wenige Stunden. Bereits am Samstag übernahm Gustavo Noboa, der ehemalige Vizepräsident Mahuads, dank eines Schachzugs der ecuatorianischen Militärführung die Amtsgeschäfte. Er wurde von einer kurzfristig einberufenen Sitzung des Parlaments im Auditorium der Zentralbank von Ecuadors zweitgrößter Stadt Guayaquil als neuer Präsident bestätigt. Die etwa 10.000 Indígenas, die die Hauptstadt Quito über mehrere Tage besetzt gehalten hatten und den friedlichen Machtwechsel mit ihren Protesten einleiteten, zogen enttäuscht wieder ab.

Die Besetzung des Parlaments, des Obersten Gerichtshofes und anderer öffentlicher Gebäude war der Höhepunkt einer Streik- und Protestwelle, die das südamerikanische Land seit dem vorangegangenen Wochenende gelähmt hatte. Die Conaie hatte zu Protesten gegen die durch den seit 1998 regierenden Präsidenten Jamil Mahuad geplante Abschaffung der nationalen Währung Sucre und die Einführung des US-Dollars als offizielles Zahlungsmittel aufgerufen. In Umfragen sprachen sich nach der angekündigten Dollarisierung über 70 % der Bevölkerung gegen Mahuad aus. Sie befürchtete, die Dollarisierung würde die ecuatorianische Wirtschaft auf Kosten der Mittel- und Unterschichten stabilisieren. Doch genau diese sind die Leidtragenden der wirtschaftlichen Krisensituation, die sich unter dem Rechtspopulisten Mahuad im letzten Jahr weiter zugespitzt hatte: Die Inflation stieg im Jahr 1999 auf 60,7 %, die Rezession der Wirtschaft betrug 7,5 % und die Landeswährung wurde um 67 % abgewertet. Nahezu die Hälfte der Bevölkerung Ecuadors lebt mittlerweile in Armut, über 15 % sogar in extremer Armut. Bereits im März und im Juli 1999 hatten daher breite Protestbewegungen das Land nahe an den Kollaps geführt.

Der im Rahmen der Dollarisierung eingeführte Wechselkurs von 25.000 Sucre für einen Dollar reduziert den monatlichen Mindestlohn nun auf umgerechnet vier Dollar. Zusätzlich ist die Reform von mehr als 30 geltenden Gesetzen des Wirtschafts-, Arbeits- und Zivilrechts geplant, sowie die Privatisierung des Erdölsektors, der Gesundheitsversorgung und des Erziehungswesens.

Den Protesten der Indianerorganisation Conaie, die als die stärkste und mobilisierungfähigste Organisation des Landes gilt, in dem etwa 40 % der 12,5 Millionen Einwohner Indianer sind, schlossen sich schnell über 500 Organisationen verschiedener anderer gesellschaftlicher Sektoren an. Die meisten Kleinhändler schlossen ihre Geschäfte, während die Angestellten der Sozialversicherungsanstalt in einen unbefristeten Streik traten. Ein Streik im Gesundheitssektor führte zur Schließung der staatlichen Krankenhäuser des Landes, Arbeitsniederlegungen bei den Transportarbeitern legten eine Woche lang nahezu den gesamten Verkehr lahm.

Angesichts der massiven Proteste verhängte Mahuad den nationalen Notstand und die Armee übernahm alle Polizeifunktionen. Auf den Straßen des Landes patroullierten über 35.000 Soldaten, rund um den Regierungspalast und den Kongress wurden Panzer aufgefahren. Die Einschüchterungen zeigten allerdings keine Wirkung. Der Conaie-Vorsitzen- de Antonio Vargas erklärte, der indianische Aufstand sei unbefristet sowie landesweit und würde nach der schrittweisen Ausweitung von Straßenblockaden im gesamten Land, zur Besetzung von öffentlichen Gebäuden, Städten und Banken übergehen. Die Erdölarbeiter der staatlichen Petroecuador sowie die Beschäftigten der drei Raffinerien des Landes schlossen sich dem Streik an. Erdöl ist die wichtigste Devisenquelle des Landes, und die staatliche Erdölfirma Petroecuador fördert nahezu 80 % der täglich geförderten 375.000 Barrels.

Die Conaie kündigte daraufhin an, sie werde in den nächsten Wochen gemeinsam mit anderen Organisationen der Zivilgesellschaft die Macht im Staate übernehmen. Der Conaie-Vorsitzende Vargas, gewählter Vizepräsident des Parlamentes des Volkes, erklärte, das so genannte Parlament des Volkes werde die wirkliche Nationalversammlung darstellen und eine Regierung der Nationalen Rettung wählen, die die Regierung Mahuad ersetzen und eine Volksjustiz schaffen werde. In diesem Parlament sind zur Zeit die Repräsentanten der Opposition vereint, neben den Vertretern der indianischen Gemeinden also auch Repräsentanten der schwarzen Bevölkerung, der Beschäftigten im Gesundheitssektor, von Frauenorganisationen, Menschenrechtsgruppen, KleinhändlerInnen, Studierenden, RentnerInnen und BäuerInnen.

Vargas rief zudem das Militär öffentlich auf, sich der Protestbewegung anzuschließen. Mindestens 120 mittlere Dienstgrade der Armee rund um Oberst Lucio Gutiérrez folgten diesem Appell und unterstützten den Aufstand. Dabei handelte es sich um ein "bolivarianische" Strömung innerhalb der Militärs im Stile des venezolanischen Präsidenten Chavez. Militärs und Indígenas gemeinsam gelang es ohne Blutvergiessen, das Parlament zu stürmen. In der zunächst gebildeten Junta saß auch Oberst Gutiérrez. Er verkündete, man werde hören, was das Parlament des Volkes fordert und dafür sorgen, dass die Forderungen erfüllt werden. Wenig später räumte Gutiérrez, überzeugt von den guten Absichten des Generals Mendozas, seinen Posten. Neben Mendoza und dem Conaie-Vorsitzenden Vargas nahm auch der ehemalige Vorsitzende des Obersten Gerichts Ecuadors Carlos Solórzano an der neuen Junta teil. Er war 1997 abgesetzt worden, nachdem er gegen den damaligen Präsidenten Fabián Alarcon ein Korruptionsver fahren eingeleitet hatte. Solórzano versicherte, die neue Regierung werde die Veränderungen durchführen, die die Bevölkerung erhofft.

In einer ersten Stellungnahme forderten die ecuatorianischen Streitkräfte die Indígenas und die rebellierenden Militärs auf, ihr Vorgehen zu beenden. Doch schon kurze Zeit später drängte der Generalstab der ecuatorianischen Armee Mahuad dazu, zurückzutreten um eine "soziale Explosion" zu vermeiden. Mahuad jedoch blieb hart und betonte, er sei der rechtmäßig gewählte Präsident und mit Gewalt abgesetzt worden, bevor er in die chilenische Botschaft flüchten musste.

Während in Ecuador die Bevölkerung den Machtwechsel bejubelte, waren die internationalen Reaktionen alles andere als euphorisch. Der Aufstand wurde von nahezu allen lateinamerikanischen Staaten - ausser Venezuela - und der EU verurteilt. Die USA drohten sogleich, Ecuador politisch und wirtschaftlich zu isolieren.

So war es scheinbar auch auf den Druck des US State Departments zurückzuführen, dass Mendoza nur drei Stunden nach Konstituierung des Triumvirats dieses für aufgelöst erklärte, um die Machteinführung des ehemaligen Vizepräsidenten Noboa vorzubereiten. Damit sollte der Machtwechsel trotz der verfassungswidrigen Absetzung Mahuads einen legalen Anschein erhalten. Noboa verkündete, alle Pläne der Mahuad-Regierung, die Dollarisierung eingeschlossen, weiter zu verfolgen. So schwanden denn auch international plötzlich alle verfassungsrechtlichen Bedenken und die USA sicherten prompt ihre volle Unterstützung zu.

Von Mendoza aufgefordert "um der Demokratie willen" das Parlament zu verlassen, räumte Vargas mit seinen Gefolgsleuten friedlich das Parlament und erklärte, die Bewegung sei von den Militärs verraten worden. Die Vertreter der Conaie kündigten jedoch auch an, der Kampf habe gerade erst begonnen und man werde nach der Rückkehr in die Gemeinden erneut mit Straßenblockaden den Verkehr und die Lebensmittelversorgung der Großstädte Quito und Guayaquil lahmlegen.

Trotz vorheriger Zusicherung der Straffreiheit durch den neuen Präsidenten Gustavo Noboa wurde Oberst Gutiérrez bereits am Samstag morgen vom militärischen Geheimdienst verhaftet und an einen unbekannten Ort verschleppt, weitere Militärs wurden ebenfalls inhaftiert oder strafversetzt. Die Generalstaatsanwaltschaft wiederum forderte das höchste Gericht auf, gegen alle anderen am Umsturzversuch Beteiligten Anklage zu erheben, inklusive der Leitung verschiedener Gewerkschaften und linker Parteien. Die hohen Militärs wurden im Juni schließlich freigesprochen. Mehr als Hundert Angehörige unterer Ränge wurden allerdings in den Urwald nahe der peruanischen Grenze verlegt und sind so völlig isoliert.

Die rebellierenden Indígenas Ecuadors fühlen sich von den Streitkräften betrogen. Diese missbrauchten das Aufbegehren der Indígenas, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, um eine Regierung nach ihren eigenen Wünschen zu installieren. Nicht wenige Beobachter der Situation befürchten, der neue Präsident Gustavo Noboa sei eine Marionette der Armee. Dass dieser sein gesamtes Regierungsprogramm mit führenden Militärs abgesprochen hat, bestärkt diesen Eindruck.

Der Vorsitzende der Conaie, Vargas, warnte Noboa, dass es "ihm sehr schlecht gehen werde", wenn er die Politik der Privatisierung, Dollarisierung und Zahlung der Auslandsschulden seines Vorgängers weiter verfolge: "Wenn diese Regierung das gleiche macht wie Mahuad, wird die Bevölkerung sich erheben und wir werden in sechs Monaten eine noch größere soziale Explosion oder sogar einen Bürgerkrieg erleben".