Weshalb der Richtungswechsel? Interview mit Luis Tascón und Roger Rondón*

Caracas stimmt Referendum zu

Nachdem sich die Regierung Venezuelas Ende vergangener Woche grundsätzlich bereit erklärt hat, ein Referendum über den Präsidenten zu akzeptieren (siehe Zeitung vom 5. Juni 2004), rief Hugo Chávez am Sonntag vor mehreren Hunderttausend Anhängern (die Angaben in unserer gestrigen Ausgabe, in der wir von ”Zehntausenden“ Demonstranten sprachen, sind nicht zutreffend, sie stammen von der US-amerikanischen Nachrichtenagentur AP) in Caracas zur politischen Kampagne ”Mission Florentino“ auf. Bis zum Referendum im August sollen im ganzen Land Gruppen von fünf bis sieben Personen organisiert werden, die ”von Haus zu Haus“ für die Regierung werben. Chávez prophezeite den ”Oppositionsgruppen“ eine Niederlage. Ziel der Kampagne sei es, doppelt so viele Stimmen wie die Opposition zu erlangen.

Zeitung: Wie bewerten Sie das Ergebnis der Unterschriftensammlung gegen Präsident Chávez?

Tascón: Die Opposition und all ihre Unterstützer im In- und Ausland haben mit der Ankündigung des Referendums an Glaubwürdigkeit verloren. Das Außenministerium der USA und auch spanische und deutsche Politiker hatten stets wiederholt, Venezuela sei auf dem Weg zu einer Diktatur, und Chávez werde niemals ein Referendum akzeptieren. Diese Propaganda wurde nun endgültig ad absurdum geführt.

Zeitung: Als die Unterschriften vor zwei Wochen überprüft wurden, beschlagnahmte die Polizei Tausende gefälschte Personalausweise. Macht das den knappen Sieg der Opposition, die nur 15.000 Unterschriften mehr als notwendig gesammelt hat, nicht äußerst fragwürdig?


Tascón: Ich gehe davon aus, daß es massive Fälschungen gegeben hat. Unsere Datenbasis war sehr dürftig, in Venezuela gibt es sehr lückenhafte Melderegister. In den Karteien finden sich nach wie vor die Namen vieler Verstorbener. Diese Schwächen im System wurden von der Oppositionskampagne Súmate (”Reih‘ dich ein“) mutmaßlich genutzt, um den Wahlbetrug in Venezuela zu organisieren.

Zeitung: Warum wurde das Ergebnis dann nicht angefochten?

Tascón: Das hätte nur in einem politischen Schlagabtausch geendet. Außerdem ist dieser Schritt auch strategisch wichtig, denn das US-Außenministerium hatte erklärt, daß der Übergang zu einer Diktatur vollzogen sei, sofern das Referendum nicht einberufen werde. Diese These hatte sich im Ausland schnell verbreitet.

Zeitung: Mit der jüngsten Entwicklung steht auch das Comando Ayacucho, das Leitungsgremium der MVR-Koalitionsparteien, in der Kritik von Basisgruppen. Obwohl es gegen 37 Oppositionsabgeordnete Referenden organisieren sollte, wird nun nur über neun Parlamentarier abgestimmt werden ...

Tascón: Die politische Leitung hat eindeutig Fehler begangen, die untersucht werden müssen. Ich weiß nicht, ob es weiterhin ein Comando Ayacucho geben wird, aber Präsident Chávez hat auf jeden Fall die Verantwortung, diese Teilniederlage zu analysieren.

Rondón: Wir müssen unsere eigene Mobilisierungskampagne aufbauen, so wie es die Opposition mit Súmate geschafft hat. Die Struktur muß sich weg von einem zentralisierten Kommando hin zu einer breiten Beteiligung der Basis verändern. Wir können uns keine Fehler erlauben. Die USA werden sehr viel in dieses Referendum investieren, um Präsident Chávez loszuwerden.

Zeitung: Also werden auch bolivarianische Basisorganisationen zum Referendum mobilisieren?

Rondón: Auf jeden Fall. Es ist wahrscheinlich, daß die Opposition ihr Ziel nicht erreicht und weniger Stimmen gegen Chávez sammelt, als die geforderten 3,7 Millionen, die bei den letzten Wahlen für ihn gestimmt haben. Unabhängig davon wäre es für uns aber eine politische Niederlage, wenn weniger für als gegen Chávez stimmen.

Tascón: Wir werden nicht nur zum Referendum mobilisieren, sondern zeitgleich zu den Lokal- und Regionalwahlen, die im September stattfinden. Wir wollen auf lokaler und regionaler Ebene die Kräfteverhältnisse verändern, vor allem in Bundesstaaten wie Zulia, Miranda und Carabobo, die von der Opposition in den vergangenen Jahren als Trutzburgen gegen die Regierung benutzt wurden.

Zeitung: Und wenn das Referendum doch verloren geht?

Tascón: Dann würde sich Chávez bei den gemäß der Verfassung innerhalb von 30 Tagen stattfindenden Neuwahlen erneut zur Wahl stellen. Denn es ist fraglich, ob sich die Opposition überhaupt auf einen Kandidaten einigen kann.

Rondón: Chávez wird zu den nächsten Wahlen, ganz gleich ob nach dem Referendum oder regulär, erneut antreten. Aber sollte dies aus irgendwelchen Gründen nicht möglich sein, dann gibt es genügend andere Kandidaten und Kandidatinnen. Es geht nicht um Messianismus. Auch wenn Chávez die unbestrittene Führungsfigur des Prozesses ist, so ist doch völlig klar, daß der bolivarianische Prozeß mit oder ohne Chávez weitergeht.

*Luis Tascón ist Abgeordneter der Chávez-Wahlallianz Bewegung Fünfte Republik (MVR) in der venezuelanischen Nationalversammlung. Roger Rondón gehört der Partei Podemos (”Wir können es“) an, die Teil der Regierungskoalition ist.

Interview: Dario Azzellini