Anfang Dezember 2000 übernahm Vicente Fox als erster Kandidat der Opposition die Präsidentschaft Mexikos

Das demokratische Elend

Anfang Dezember 2000 übernahm Vicente Fox als erster Kandidat der Opposition nach mehr als 70 Jahren die Präsidentschaft Mexikos und beendete die seit der mexikanischen Revolution anhaltende Dauerherrschaft der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI). Entschlossen anpacken und alles umkrempeln wollte der ehemalige Coca-Cola-Manager: Die Korruption beenden, den Konflikt in Chiapas schnell lösen, die Menschenrechtssituation unmittelbar verbessern, Arbeitsplätze schaffen und vieles mehr. Er versprach sieben Prozent Wirtschaftswachstum und ein großartiges Mexiko. Ein Jahr später hat die anfängliche Hoffnung vieler, die sich blenden ließen, der Ernüchterung Platz gemacht.

Weltweites Aufsehen verursachte die Ermordung der Menschenrechtsanwältin Digna Ochoa am 19. Oktober, die mit zwei Schüssen regelrecht exekutiert tot in ihrem Büro aufgefunden wurde.

Auch in Chiapas, hat sich die Situation keineswegs gebessert. In fünfzehn Minuten würde er das Problem mit der EZLN lösen, tönte Fox noch im Wahlkampf. Ein Jahr später verkündet er nun zwar, „die Flüchtlinge sind alle in ihre Gemeinden und Häuser zurückgekehrt und alles ist friedlich und ruhig“, doch mit der Realität hat dies wenig gemein. Während Zehntausende Flüchtlinge immer noch darauf war­ten, in ihre Gemeinden zurückzukehren, haben Polizei, Militär und Paramilitärs in Chiapas immer noch freie Hand und vertreiben weiterhin AnhängerInnen der ZaptistInnen, brennen ihre Hütten nieder und eignen sich ihren bescheidenen Besitz und die mühsam eingebrachte Ernte an. Da das von der Fox-Regierung verabschiedete Autonomiegesetz sowohl den Forderungen der indianischen Gemeinden wie auch vorherigen Vereinbarungen mit der EZLN widerspricht, zapatistische Gefangene weiterhin inhaftiert sind und in den zapatistischen Gebieten keine Entmilitarisierung sondern lediglich eine Umstrukturierung der Truppen erfolgt ist, herrscht seit Monaten Funkstille zwischen EZLN und Regierung. Nun kündigte Fox auf seiner Europa-Reise im Oktober zwar an, er wolle die vor einem knappen halben Jahr verabschiedeten Autonomiegestz für Indigenas einer „Überprüfung unterziehen“. Doch schon einen Tag später wiesen die Abgeordneten seiner Partei PAN, die das Gesetz verabschiedeten, eine erneute Überprüfung weit von sich.

Keine Fortschritte bei der Staatsreform

Auch ein weiteres der großen Versprechen Fox’ blieb bisher unerfüllt. Hatte er im Wahlkampf und nach der Amtsübernahme noch großspurig angekündigt, eine Verfassungs- und Staatsreform in die Wege zu leiten, liegen der seit acht Monaten arbeitenden parlamentarischen “Kommission für die Staatsreform“ diesbezüglich immer noch keine Vorschläge der Regierung vor. „Ich kann mich an keine Regierung erinnern, die so lange nach ihrer Machtübernahme noch kein Projekt politischer Reformen in die Wege geleitet hat“, beklagt Diego Valadés, verantwortlich für eine der sechs Unterkommissionen. „Das ist sehr schlimm, wo doch von Veränderung geredet wird. Es gibt keine Veränderung.“

Tatsächlich ist es Fox nicht einmal gelungen, das Regime der ehemaligen Staatspartei PRI zu demontieren. Struktur, Funktionsweise und sogar die meisten Amts­inhaber des alten klientelistischen Systems sind unter Fox unverändert geblieben. Hinter Vicente Fox steht auch der gleiche Kreis mexikanischer Unternehmer mit transnationaler Reichweite, der auch den vorangegangenen Präsidenten Ernesto Zedillo an die Macht gebracht und gestützt hatte.

Auf Kritiken reagiert Fox jedoch stets gereizt. „Ich habe schon aufgehört eine Menge Zeitungen zu lesen, da sie mir den Tag verderben“, äußerte er in seiner samstäglichen Radiosendung und forderte seine Zuhörer auf, gedruckten Medien keine Vertrauen mehr zu schenken. „Sie verdrehen die Meldungen, erfinden, betrügen und lügen“, so der Präsident.

Je größer die Probleme in Mexiko selbst werden, desto mehr Zeit verbringt Fox auf Auslandsreisen. 72 Tage seiner ersten elf Monate als Präsident verbrachte er im Ausland. Im eigenen Land wächst der Unmut über seine ständige Abwesenheit, zumal die Er­gebnisse seiner Unternehmungslust eher bescheiden sind. Spöttisch verzeichnen Kommentatoren der mexikanischen Presse, das deutlichste Resultat sei die mittlerweile kontinuierliche Präsenz des Präsidenten und seiner ehemaligen Sprecherin Martha Sahagún, die er kürzlich heiratete, auf den Titelseiten der weltweiten gelben Presse.

Tatsächlich scheint Vicente Fox die Realität außerhalb des Glanzes festlicher Empfänge kaum zu kennen. „Die Situation Mexikos ist, verglichen mit fast jedem anderen Land der Welt, viel besser!“, erklärte Fox gleich mehrmals während einer Asienreise Ende Oktober und erntete in Mexiko Staunen und Unverständnis. Es herrsche ein „sicheres Investitionsklima mit einer sehr stabilen und soliden Wirtschaft“, fügte der Präsident hinzu. Die Analysten des Sistema de Información Regional de México (Sirem) hingegen warnten zur gleichen Zeit davor, dass sich die mexikanische Wirtschaft momentan in der gleichen Situation wie Ende 1994 befände. Damals hatten Investoren und Unternehmer innerhalb weniger Tage ihr Kapital aus Mexiko abgezogen und den folgenschweren „Tequila-Crash“ provoziert, der zu einer drastischen Entwertung des mexikanischen Peso, dem Zusammenbruch kleiner und mittlerer Unternehmen und zu einer massiven Verarmung der Bevölkerung führte.

Stagnierende Wirtschaft

Die Analysten des Sirem warfen Fox vor, im Wesentlichen die Wirtschaftspolitik von Carlos Salinas – der das Land von 1988 bis 1994 regierte – fortzusetzen und übten vehemente Kritik am Vorgehen der Regierung, das sich darauf beschränke den Finanzsektor durch anti-inflationäre Politik und die Überbewertung des Peso stabil zu halten. Diese Maßnahmen würden den weiteren Rückgang der Produktion beschleunigen und seien für die mexikanische Wirtschaft auf mittlere und lange Sicht nicht tragbar.

Tatsächlich ist die wirtschaftliche Situation geradezu desolat. Hatte in den zwei Jahrzehnten vor der Amtsübernahme von Vicente Fox das Wirtschaftswachstum jährlich durchschnittlich über zwei Prozent betragen, in den zwölf Monaten vor seiner Präsidentschaft sogar fast sieben Prozent, sank es im laufenden Jahr rapide und stagniert etwa bei Null. Finanzminister Francisco Gil Díaz musste Ende Oktober zugeben, dass seit dem Amtsantritt Fox in Mexiko etwa 500.000 Arbeitsplätze verloren gegangen sind. Ein Grund für die schlechte ökonomische Situation ist beispielsweise die, vor allem nach den Anschlägen vom 11. September, erlahmte US-Wirtschaft. Immerhin wickelt Mexiko 85 Prozent seines Außenhandels mit dem nördlichen Nachbarland ab. Doch die Ursachen sind auch in Mexiko selbst zu suchen, denn sogar die privaten Inlandsinvestitionen sind im Verlauf des Jahres um 5,3 Prozent gefallen.

Selbst Picard del Prado, Vorsitzender des größten Unternehmerverbands Mexikos CANACINTRA, der 30.000 Firmen des verarbeitenden Gewerbes vertritt, äußerte sich besorgt: „Unter den Industriellen herrscht die Ansicht vor, dass es in der Regierung keine klaren Erkenntnisse über die aktuelle Situation gibt.“

Dass die Kassen auf Grund der verminderten Steuereinnahmen leer sind, hat Fox allerdings bemerkt, und so wurde ein Sparprogramm für die laufenden Kosten verkündet. Es ist bereits das dritte in diesem Jahr; insgesamt wurde das ursprünglich vorgesehene Bu­dget um ca. 1,5 Milliarden US-Dollar gekürzt. Jede Kürzung hat jedoch direkte Konsequenzen auf den Binnenmarkt und heizt so einen Teufelskreis an. Die Auslandsschuld Mexikos beträgt mittlerweile 77,3 Milliarden US-Dollar, ein Prozent mehr als bei Fox‘ Amtsantritt und die Binnenverschuldung beläuft sich auf etwa 649 Milliarden Peso (ca. 60 Milliarden US-Dollar), satte 3,6 Prozent mehr als im vergangenen Dezember.

Die Lösung sieht die Regierung im IWF, dessen Richtlinien die Wirtschaftsplanung der Regierung für die verbleibenden fünf Jahre ihrer Amtszeit bestimmen. Das Programm soll dem Abgeordnetenhaus in der zweiten Novemberhälfte vorgelegt werden. Das Programm sieht auch mögliche weitere Kredite des IWF in Höhe von 17 Milliarden US-Dollar vor. Diese sollen jedoch laut Finanzminister Francisco Gil Díaz nur in Anspruch genommen werden, wenn die Teilrückzahlung von Schulden und Zinsen nicht geleistet werden kann.