Hunderttausende Mexikaner warten an der Grenze auf eine Möglichkeit, illegal in die USA einzureisen. Aber die »Linie« wird militärisch abgeschottet

Mexiko - USA - Die Linie

In Tijuana will eigentlich keiner bleiben. Trotzdem wird die mexikanische Grenzstadt immer größer. Die Busse aus dem Süden bringen jeden Tag Hunderte, deren Reisegepäck in eine Tüte oder einen kleinen Koffer paßt. Menschen aus Guatemala, El Salvador, Nikaragua, die meisten aber aus Mexikos Süden. Auch aus dem Norden, aus den USA, treffen jeden Tag Tausende ein, unfreiwillig. Ihr Gepäck ist genauso ärmlich. Etwa 1,5 Millionen Mexikaner wurden von den USA-Behörden letztes Jahr offiziell des Landes verwiesen. Sie hatten geschafft, was die Ankömmlinge in Tijuana noch vor sich haben: illegal die Grenze, die »Linie«, zu überqueren.

Der Hauptfeind der kleinen Leute

Tijuana ist für viele Ausgangspunkt und Endstation ihrer Reise ins Land der spiegelverglasten Wolkenkratzer, wo es Arbeit geben soll und wo man Geld verdienen können soll, wenn man nur tüchtig genug ist. Wo allerdings auch jeder verhaftet wird, der nicht um Erlaubnis gefragt hat, ob er sich den »amerikanischen Traum« erfüllen darf.

Kleinunternehmer Florencio Arteaga Rivas fährt mit seinem Bus die Strecke Mexiko-Stadt - Tijuana. 3000 Kilometer, drei Tage hin, ein Tag Pause, drei Tage zurück. Er kennt die Schicksale vieler seiner Fahrgäste. »Sie verkaufen ihr bißchen Land oder verpfänden es, um sich einen Fahrschein nach Tijuana kaufen zu können. Aber es gibt viele Probleme auf dem Weg. Der Hauptfeind der armen Leute ist die Regierung, die Straßensperren errichten läßt, von der Bundesgerichtspolizei, der Straßenpolizei oder der Migrationspolizei. Die lassen beispielsweise fünf, sechs Personen aussteigen und fragen sie „Wohin fahrt ihr?“ Wenn sie nicht antworten oder keine Ausweispapiere haben, nehmen ihnen die Polizisten zehn bis zwanzig Dollar ab.« Arteaga Rivas ist sichtlich erbost: »Manchmal mißbrauchen die Polizisten auch die Frauen, ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«

Auch die Menschenrechtsakademie Baja California hat »zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen Migranten von der mexikanischen Polizei verhaftet wurden, weil sie keine Ausweispapiere bei sich trugen«, berichtet Fidel Fuentes López in Tijuana. Er holt die Verfassung aus der Tasche, in der geschrieben steht, daß kein Mexikaner Ausweispapiere benötige, um sich innerhalb Mexikos zu bewegen: »Die Migranten werden lediglich wegen ihres Aussehens, ihrer Armut festgenommen.«

In den Augen Fidel Fuentes Lopez' tragen die Regierungen der USA und Mexikos eine gemeinsame Verantwortung für den Menschenstrom gen Norden. »Die Kluft zwischen armen und reichen Staaten hat sich in den letzten 20 Jahren drastisch vergrößert. An dieser Grenze schweben wir über diesem Abgrund. Die Handels- und Wirtschaftsverträge zwischen den beiden Ländern, zuletzt das Nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA, haben über die Jahre hinweg immer den mächtigen Wirtschaftsinteressen gedient und nicht der Lösung der inneren Probleme Mexikos. Daher konnte die Regierung nie ausreichend Arbeitsplätze im Land schaffen.« Zudem orientiere sich Mexiko seit den 40er Jahren an den Entwicklungsmodellen westlicher Industrienationen, meint er. »Die Regierungen unterstützten Großinvestoren durch den Bau von Straßen und sonstiger Infrastruktur, gewährten aber den Kleinbauern keine günstigen Kredite mehr und hoben die garantierten Mindestpreise auf. Eine massive Abwanderung aus den ländlichen Regionen in die Städte und nach Norden in die USA ist die Folge.«

Der Menschenrechtsaktivist klärt Migranten, die im Haus des Scalabriner-Ordens in Tijuana für zwei Wochen Unterschlupf und Verpflegung bekommen können, über ihre Rechte auf. Seine Informationsabende sind gut besucht. In Hochzeiten beherbergt das Haus bis zu 170 Menschen, mehr Betten gibt es nicht.

Wie bezahlt man einen »Coyoten«?

Nebenan liegt ein ähnliches Haus für Frauen und Kinder. »Wir wollen nach Los Angeles«, erzählt Isabel. »In unserem Dorf haben wir weder genügend Arbeit noch ausreichendes Einkommen, um davon leben zu können. Deshalb sind wir hier, um Geld zu sparen, einen Schlepper zu bezahlen und nach drüben zu gelangen. Die Schlepper verlangen 700 bis 1500 Dollar.«

Isabel hat mit der Notunterkunft Glück gehabt, ihr Mann muß draußen schlafen, wie so viele Neuankömmlinge. Sie verbringen die Nacht unter freiem Himmel und stellen sich morgens an die Straße. »Hin und wieder kommt hier ein Unternehmer vorbei und nimmt uns mit in eine Fabrik oder auf eine Baustelle«, erklärt Ramón, der mit einem Dutzend anderer junger Männer zusammensteht. Wie die meisten möchte er Geld verdienen, um einen »Coyoten« - einen Schlepper - bezahlen zu können. »Wir dachten, es wäre einfach rüberzukommen. Aber nein, wir sehen, daß es sehr schwer ist.« An der Grenze in Tijuana ist tatsächlich kein Durchkommen mehr. An einem Metallzaun enden die ärmlichen Hütten aus Wellblech, Plastik und Holz. Die Mittagssonne knallt auf einen kahlen, staubigen Hügel dahinter.

Flutlichtanlagen sind auf Metalltürmen angebracht, in der Nacht ist der Grenzstreifen hell erleuchtet. Unter einer Plane, die Schatten spenden soll, steht ein Fahrzeug der Border Patrol, der USA-Grenzpolizei. Direkt hinter dem Metallwall zieht sich ein steiniger Feldweg entlang, auf dem andere Jeeps patrouillieren. Hin und wieder knattert ein Hubschrauber im Tiefflug die »Linie« entlang.

Ein Lastwagen kommt die Straße herunter und stoppt. Die Arbeitsuchenden recken ihre Finger, rufen und rangeln sich nach vorne. Ein hemdsärmeliger Mann zeigt auf eine Handvoll, die aufsteigen dürfen, dann fährt er davon. Die anderen stehen wieder an der Ecke.

»Wir waren schon drüben, in Montana, in der Nähe von Kanada. Dort hat uns die Migrationspolizei aufgegriffen. Jetzt warten wir hier auf die nächste Gelegenheit«, erzählen zwei der Übriggeblieben ihr Vorhaben. Dann schiebt sich Martin in den Vordergrund: »Ich habe in den Vereinigten Staaten einen offenen Fall. Ich habe eine Tochter im Alter von zwei Jahren und sieben Monaten, sie ist Amerikanerin, ihr Mutter ist Amerikanerin. Die Regierung hat mich aufgegriffen, weil ich keine Papiere besitze. Sie packen mich, dann nehmen sie mir meine Tochter weg, geben mir einen Tritt und schmeißen mich aus dem Land«, erzählt er verbittert.

Geprügelt wird hier wie dort

Noch ist die mehr als 3000 Kilometer lange Grenze zwischen Mexiko und den USA nicht überall so befestigt wie in Tijuana. Die Aufrüstung gegen die Armutsflüchtlinge ist freilich im vollen Gang. 10 000 Soldaten sollen an die Grenze verlegt werden, Radargeräte werden installiert. Die Nationalgarde und verschiedene Sondereinheiten, wie das INS (Immigration and Naturalization Service) und die Border Patrol wurden bereits verstärkt. An verschiedenen Stellen in Tijuana kann man beobachten, wie hinter der ersten zwei weitere Mauern aufgebaut werden.

Zu den künstlichen Barrieren kommt die Natur entlang der Grenze: Die unerträgliche Hitze der Wüste im Sommer, die Canyons, die sich in der Regenzeit binnen Minuten in reißende Ströme verwandeln, und im Winter die eisige Kälte in den Bergen wenige Kilometer östlich von Tijuana. Laut einer Studie des American Friends Service Committee in San Diego und der Universität Houston sind zwischen 1993 und 1996 nicht weniger als 1185 Menschen an der Grenze umgekommen.

An der Ecke der Arbeitsuchenden in Tijuana ist es nicht schwer, Zeugen für die Vorwürfe der Menschenrechtsgruppen zu finden, die von Übergriffen, Mißhandlungen und Vergewaltigungen durch USA-Grenzpatrouillen und –Polizei berichten. Immer wieder erzählen die Männer von den Prügeln, die sie einstecken mußten, bevor sie deportiert wurden. Doch auch auf der mexikanischen Seite werden sie verfolgt. »Warte noch ein paar Minuten, dann kommt hier die Polizei vorbei und vertreibt uns«, sagt einer. Tatsächlich fährt pünktlich um acht Uhr ein Polizeifahrzeug vor und kündigt per Lautsprecher an, daß alle verhaftet werden, die sich nicht sofort entfernen. »Manchmal sperren sie uns für 24 oder 36 Stunden ein, ohne Grund, nur weil wir nach Arbeit suchen«, sagt der Mann und setzt sich wieder an den Randstein.

Auch die anderen bleiben, denn wenn sie nicht Arbeit finden, bis die Polizei wiederkommt, wartet auf sie ein verlorener Tag, ohne Geld in der Tasche, ohne Essen, ohne Unterkunft in der Nacht.