Die Bolivarische Revolution im Blickpunkt imperialer Geopolitik

Venezuela am militärischen Kreuzweg

Die Bolivarische Revolution in Venezuela befindet sich im Blickpunkt der imperialen Geopolitik Washingtons. Der unermessliche Erdölreichtum, der in seiner Erde ruht, macht das karibische Land zu einer geschätzten Beute für die Gier der ersten Weltwirtschaft, die sich in hohem Maße von Erdöl ernährt. Und auf der anderen Seite stellen der Umwälzungsprozess, den die venezolanische Gesellschaft seit dem Amtsantritt von Präsident Hugo Chávez erlebt und das „schlechte Beispiel“, das dieser Prozess für die Nachbarn der Region darstellt – die schon begonnen haben, sich in einem autonomen und antiimperialistischen Projekt wie dem ALBA zusammenzuschließen – Situationen dar, die das Weiße Haus dringend umkehren möchte. Dazu hat es bereits eine Reihe von Aktionen (Staatsstreich, Sabotage der Erdölindustrie, Unternehmerstreik) ausprobiert; bislang ohne Erfolg. Aber der Kampf geht weiter, und es sind mehrere Fronten, an denen die Aktionen zur Destabilisierung fortgesetzt werden: der Krieg der Medien, die Wirtschaftssabotage durch mangelhafte Versorgung mit wichtigen Produkten, die Finanzspekulation, die tagtäglichen Versuche, das Land unregierbar zu machen, die Förderung so genannter demokratischer Kräfte wie der derzeitigen Mittelklassen-Studentenbewegung, die sich als fortschrittlich ausgibt usw. usf. Und zu alledem kommt dann die militärische Option.

Venezuela. Kolumbianische Paramilitärs, angeleitet von den USA, haben vor, den bolivarianischen Prozess zu destabilisieren.

Wenngleich zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine direkte Invasion US-amerikanischer Kräfte nicht als möglich erscheinen mag, so nimmt die militärische Option doch andere Formen an, die deshalb nicht weniger gefährlich sind. Um dies im Detail zu behandeln, sprach Argenpress in der Person seines Korrespondenten in Caracas, Marcelo Colussi, mit einem Spezialisten dieser Materie, dem Politikwissenschaftler italienischer Herkunft, Dario Azzellini, der seit fünf Jahren auf venezolanischem Boden lebt und hier diese Prozesse in allen Einzelheiten verfolgt. Autor mehrerer Veröffentlichungen zu militärischen Themen („Das Geschäft des Krieges“; „Das Unternehmen Krieg“), bestätigen und erweitern seine Publikationen mit genauen Daten das, was hohe Staatsfunktionäre in den letzten Tagen bereits erklärt haben und was selbst Präsident Chávez gerade heraus aussprach: Wir befinden uns inmitten einer von Washington ausgearbeiteten Strategie, der gemäß kolumbianische Paramilitärs in Venezuela eindringen um innerhalb des Landes eine Destabilisierung herbeizuführen. Dies scheint die Form zu sein, die der militärische Angriff heute annimmt: „Sie tragen keine Gewehre und sind nicht mit Tarnkleidung angezogen, sondern kaufen Häuser, richten Restaurants und andere Räumlichkeiten ein, in denen sie vorne Alkohol und hinten Drogen verkaufen.“

Argenpress: So wie die Dinge heute liegen: Ist es möglich an eine direkte militärische Intervention der Vereinigten Staaten auf venezolanischem Boden zu denken?

Dario Azzellini: Eine direkte militärische Intervention scheint es nicht zu geben, weder kurz- nochmittelfristig. Es gibt in Lateinamerika keine politische Situation, die dies gegenwärtig zulassen würde. Hinzu kommt, dass eine direkte Intervention ein allzu großes Abenteuer wäre, und nichts weist darauf hin, dass die Vereinigten Staaten bereit wären, ein so großes Risiko einzugehen. Es gäbe viele Möglichkeiten, dass das zu einem neuen Vietnam würde, und sicherlich werden sie so etwas nicht wiederholen. Und zum anderen: angesichts des enormen inneren Erdölverbrauchs, den die Vereinigten Staaten haben, sind sie nicht in der Lage, den Verlust der Lieferungen aus Venezuela für eine Zeit zu riskieren, von der niemand wüsste, wie lange sie andauert, wenn sie sich auf eine direkte Militärintervention einließen.
Aus all diesen Gründen glaube ich, dass eine direkte Intervention mit ihren Truppen nicht denkbar ist, dass jedoch eine andere Modalität möglich ist, die sie in Wirklichkeit auch schon zur Anwendung bringen und die mittelfristig festere Konturen annehmen könnte, nämlich eine Option aufzubauen, ähnlich wie die Contras vor Jahren in Nicaragua, mit den notwendigen Anpassungen. Wie sie das hier machen würden? Sie machen es mit Hilfe der kolumbianischen Paramilitärs.
In einer ersten Phase begann dieser kolumbianische Paramilitarismus vom wirtschaftlichen Standpunkt aus in Venezuela einzudringen. Tatsächlich hat er hier die Kontrolle über viele Gebiete, mit landwirtschaftlichen Gütern und einer richtigen Logistik, die es ihm gestattet, sichere Orte zu haben, um zu agieren und sich zurückzuziehen, wenn es darauf ankommt. Auf nationalem Territorium kontrolliert er den Benzinschmuggel von Venezuela nach Kolumbien, und das ist ein großes Geschäft. Er kontrolliert den Drogenhandel und ausgehend von den Daten, die in jüngster Zeit ans Tageslicht gekommen sind, kann man annehmen, dass er auch den Schmuggel mit Lebensmitteln unter seiner Kontrolle hat. Und wenn sie die Struktur des Benzinschmuggels bereits aufgebaut haben, können sie diese nutzen, um jegliche andere Ware zu schmuggeln; in diesem Falle Nahrungsgüter.
Und gerade darin sieht man das destabilisierende Profil, das dieser Schmuggel in sich birgt: er provoziert eine Mangelwirtschaft, die zur Unregierbarkeit in Venezuela beiträgt. Faktisch haben in Kolumbien die Paramilitärs die Kontrolle über einen Gutteil der Sammelstellen für Milch. Daher könnte man schlussfolgern, dass hinter der gegenwärtigen Milchknappheit diese Organisationen stecken, die sich letztlich von politischen Kriterien leiten lassen.
Hinzu kommen weitere Erscheinungen des kolumbianischen Paramilitarismus auf venezolanischem Territorium wie zum Beispiel die Zusammenarbeit mit Viehzüchtern. Viele der gedungenen Mörder, die für die Ermordung von Bauernführern in Venezuela verantwortlich sind (186 seit 2001, als das Gesetz über die Bodenreform erlassen wurde), sind Kolumbianer. Und das festzustellen ist sehr leicht, denn man erkennt sie einfach an ihrem Akzent. Diesbezüglich gibt es viele Zeugenaussagen. Die Präsenz kolumbianischer Paramilitärs in Venezuela ist bekannt, wenngleich sie hier noch nicht als bewaffnete Einheiten agieren, wie sie es in Kolumbien tun. Derzeit erfolgen die von ihnen provozierten Morde noch selektiv und sie wirken in kleinen Gruppen von zwei oder drei Personen. Es sind nicht die enormen Mordorgien, die sie gewöhnlich in Kolumbien durchführen.
Sie begannen in venezolanisches Territorium über eine Grenzregion wie Táchira einzudringen. In der Stadt San Cristóbal in Táchira kassieren die Paramilitärs von allen Händlern „Schutzimpfung“ (Schutzgeld). Und wo sie nicht abkassieren, handelt es sich um ihre eigenen Geschäfte, die es natürlich auch gibt. San Cristóbal wählten sie aus, weil es das Tor zur Kordillere der Anden ist. Das strategische Projekt der kolumbianischen Militärs, das hier aufgebaut wird und bei dem versucht wird, auch Venezolaner zu integrieren, besteht darin, die Kontrolle über die Kordillere auszuüben.
Dies gäbe ihnen zugleich die militärische Kontrolle über die das Tiefland, die Llanos. Und andererseits ist dies ein direkter Kanal von Cúcuta, das die Hauptstadt des Paramilitarismus für ganz Kolumbien ist und an der Grenze zu Venezuela liegt, direkt ins Landesinnere von Venezuela, um dorthin alles zu bringen, was sie wollen: Waffen, Drogen, Menschen. Wenn sie sich also die Kontrolle über diese gesamte Zone sichern, könnten sie sich praktisch bequem von Kolumbien bis vor die Tore von Caracas bewegen.

Argenpress: Der Plan wäre also, eine neue Contra zu schaffen wie die, die in Nicaragua während der gesamten Periode der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts agierte, um schließlich die Sandinistische Revolution zu stürzen. Stehen wir wirklich vor einer solchen Situation?

Dario Azzelini: Mittelfristig könnte man das annehmen: eine Contra wie die von Nicaragua. Gegenwärtig wird die notwendige Struktur dafür aufgebaut: die Logistik, die ihnen erlaubt, ungestört zu operieren. Zum Beispiel versuchen sie, die Taxibetriebe und -genossenschaften unter ihre Kontrolle zu bekommen. In Barinas gehört die große Mehrheit der Taxifahrer direkt oder indirekt zu den Paramilitärs. Und in den Betrieben, wo die Paramilitärs die Kontrolle nicht haben, werden die Taxifahrer ermordet. Es ist anzunehmen, dass mit der Ermordung von Taxi- und auch Lkw-Fahrern versucht wird, den Transportsektor in eine Position gegen die Regierung zu bringen. Und wer sich an Chilemit Salvador Allende erinnert, weiß, wie wichtig dieser Sektor in einer Strategie der Destabilisierung ist. Gegenwärtig arbeiten die Paramilitärs mit den Taxifahrern, weil dies ein wesentlicher Sektor dafür ist, nachrichtendienstlich zu wirken. Das ist nichts Neues; das wird überall so gemacht.
Die Paramilitärs haben bereits vor zwei Jahren eine Strategie des massiven Eindringens in die Stadtbezirke von Caracas begonnen. Die Form, mit der sie Einfluss gewinnen, ist die, dass sie an kriminelle Vereinigungen Kokain zu sehr niedrigen Preisen abgeben oder verschenken. Damit fangen sie an Leute anzuwerben und eine Struktur in den Wohnvierteln zu haben. Der nächste Schritt wird sein, sie zu bewaffnen, um dieser Struktur Festigkeit zu geben und sie für ihre Zukunftspläne einsatzfähig zu machen.
Schon seit etwa einem Jahr versuchen sie mit diesen Strukturen die Organisierung der Menschen in den Wohngebieten zu verhindern. An den Orten zum Beispiel, wo sich die Kommunalen Räte organisiert und begonnen haben, bestimmte Ziele zu erreichen – u.a. mehr Ruhe in die Wohnviertel zu bringen, die Unsicherheit zu senken, wieder mehr gesundheitsfördernde Aktivitäten zu organisieren usw. - genau hier entsteht die Kriminalität von Neuem und mit größerer Wucht. Nicht dass sich dort irgendein Bösewicht zeigt; nein, es gibt eine richtige geplante Organisation des Verbrechertums, beinahe mit einer militärischen Logik. Das Ansteigen der Zahl der Morde im letzten Jahr - niemand sollte denken, dass
das ein Zufall ist. Es ist eine Doppelstrategie: auf der einen Seite Panik machen, Unruhe schaffen, Instabilität provozieren. Und auf der anderen Seite die Bedingungen schaffen, dass in einem bestimmten Moment sie selbst in Erscheinung treten und sich als eine Ordnungskraft anbieten können. Das ist derselbe Ablauf wie sie ihn in Kolumbien hatten. In den Grenzregionen, sei es in Barinas, Apure, Táchira, Mérida, Zulia gibt es Bürgermeister, die mit den Paramilitärs zusammenarbeiten, sowohl solche von der Opposition als auch „bolivarische“. All das weiß die dortige Bevölkerung, auch wenn es keine Beweisdokumente dazu gibt. Es gibt Hinweise an der Basis, aber das wird nicht so bald bekannt.
Soweit man weiß gibt es kein staatliches Organ, das dabei wäre, alle diese Informationen organisatorisch und systematisch zu sammeln. Ich weiß nicht, ob das von Seiten irgend eines Bereiches des Nachrichtendienstes der Streitkräfte Venezuelas geschieht; vielleicht ja, aber das ist bislang noch nicht bekannt. Es gibt Bemühungen gegen die Paramilitärs vorzugehen, aber es gibt – zumindest derzeit – keine klare Politik des Staates zu alledem und keine überzeugende und komplette Antwort, um dieses Phänomen zu bekämpfen.
Hinzu kommt die Straffreiheit, die weiterhin besteht. Wir wissen, dass ein großer Teil der Justiz noch unter Kontrolle der Opposition zur Revolution steht. So gibt es zum Beispiel bezüglich der 186 toten Bauern, von denen ich sprach, keinen einzigen Verhafteten. Das erleichtert natürlich den Paramilitärs die Arbeit, denn die Straffreiheit öffnet ihnen Türen anstatt sie zu schließen.

Argenpress: Wenn die Regierung über Informationen zu diesem Anwachsen des Paramilitarismus verfügt und wenn sogar der Präsident Chávez dies in seinen jüngsten Reden erwähnt, wieso hat es dann den Anschein, dass es keinen Organisationsplan gibt, diese Erscheinung zu bekämpfen? Woran könnte das liegen?

Dario Azzellini: Es ist richtig, dass der Präsident Chávez das Problem der Paramilitärs angesprochen und seine tiefe Besorgnis darüber geäußert hat, aber wir wissen auch, dass er oftmals eine Sache sagt und danach machen diejenigen, die beauftragt sind, das Gesagte in die Praxis umzusetzen, etwas ganz anderes. Das zeigt einmal mehr die Anfälligkeit dieses ganzen Prozesses: hier gibt es eine Unzahl von Leuten, die die Staatsangelegenheit regeln ohne die geringste ideologische Überzeugung zu haben, die auf diesen Posten sind aus purem Opportunismus, auf Grund von Korruption oder einfach weil sie keinerlei politische Bildung haben und die Situation sie überfordert.
Betrachten wir den Fall des Treibstoffschmuggels. Hier werden nicht etwa ein paar Liter beiseite geschafft, nein: hier fließen täglich tausende und abertausende Liter Benzin ab. Hier geht es sich nicht um Taschendiebstahl. Dort fahren massenhaft Lkw-Fahrer ungestört die Autobahn entlang und das zweifellos in Komplizenschaft mit jemandem, der mit im Geschäft ist: venezolanische Soldaten und Polizisten und auch kolumbianische. Ohne das wäre es nicht möglich. Und dasselbe mit dem Schmuggel von Lebensmitteln, der nicht durch eine Person mit einer Plastetüte geschieht, die ein paar Kilo Brotmehl mitgehen lässt, sondern der tonnenweise Nahrungsgüter betrifft, die in Lkw weggeschafft werden müssen.
Nachdem jetzt die Aktivitäten zur Aufdeckung dieses Schmuggels verstärkt worden sind, konnten zwischen dem 18. und dem 25. Januar 6000 Tonnen Lebensmittel beschlagnahmt werden. Das ist natürlich sehr viel. Und was bedeutet das? Wenn man in einigen wenigen Tagen diese Menge zurückhalten konnte: wie viel ist zuvor über die Grenze abgeflossen? Und wie viel fließt weiterhin in anderen Grenzregionen ab, wo diese Kontrolloperationen nicht durchgeführt werden? Dies zuwissen, ist erschreckend. Was wurde denn das ganze Jahr vorher gemacht? Arbeiten die Kontrollorgane nicht?

Argenpress: Das heißt also, dass dieses gesamte Phänomen des Paramilitarismus nicht etwas Zufälliges, Vorübergehendes ist, sondern einer gut vorbereiteten mittel- und langfristigen militärischen Strategie entspricht. Da Sie gerade aus Kolumbien kommen, wo der „Patriotische Plan“ realisiert wird: welche Beziehungen kann man finden zwischen diesem Vormarsch des Paramilitarismus in Venezuela und den kontinentalen Kriegsplänen, die die Regierung der Vereinigten Staaten unter Nutzung Kolumbiens als seinen großen Stützpunkt für Lateinamerika vorantreibt?

Dario Azzellini: Der Paramilitarismus von Kolumbien ist etwas, was vom Staat und seinen Streitkräften geschaffen wurde in Kombination mit der Herrschaftsstrategie der Regierung der Vereinigten Staaten und zugleich im Dienste der Eliten und der Regierung Kolumbiens. In der Zeit des „Plan Colombia“, dem Vorgänger des gegenwärtigen „Plan Patriota“, hatte der Ombudsmann von Putumayo schon klar gesagt, dass es mehr als genug Hinweise darauf gebe, dass die Paramilitärs die Speerspitze dieser kriegerischen Initiative sind. Tatsächlich kamen zuerst die Paramilitärs um das Terrain vorzubereiten und danach begann der „Plan Colombia“. Es gibt massenhaft Hinweise, die die kolumbianischen Streitkräfte mit den Paramilitärs in Zusammenhang bringen, obwohl das natürlich niemals offiziell ist.
Kolumbien auf die Art zu bewaffnen, wie es geschehen ist, ist eine Strategie der Vereinigten Staaten um eine Bedrohung nicht nur für Venezuela aufzubauen sondern auch für die anderen lateinamerikanischen Länder. Man will zeigen, dass man in Kolumbien eine starke Basis hat, einen Militärstützpunkt, bereit, an jedem Ort des Kontinents zu operieren. Deshalb ist es für die Vereinigten Staaten wichtig, die Kontrolle über Kolumbien nicht zu verlieren. Für die Geostrategie der USA-Regierung hat dieses Land eine Schlüsselposition: es ist das einzige mit Zugang zum Pazifischen Ozean und zum Atlantischen Ozean, es hat Grenzen mit fünf Ländern, es verfügt über beträchtliche Energieressourcen, es hat Zugang zum Amazonas-Gebiet und außerdem eine Brücke nach Norden: es ist die einzige Landverbindung vom Süden nach Mittelamerika und von dort nach Norden.
Es ist klar, dass das Land einen sehr wichtigen Platz in der Strategie der USA einnimmt, und diese werden alles tun, um es nicht zu verlieren. Außerdem dient es ihnen dazu, die Bedrohung gegenüber den anderen südamerikanischen Ländern aufrecht zu erhalten.

Argenpress: Das heißt also, dass die Rolle, die Kolumbien jetzt mit dem „Plan Patriota“ als Erbe des „Plan Colombia“ zu spielen hat, sogar über die Bolivarische Revolution und die „Belästigung“ die Hugo Chávez dem Imperium bereitet, hinausgeht.

Dario Azzellini: Genau. Der „Plan Colombia“ und diese ganze Strategie sind unter Clinton entstanden, das dürfen wir nicht vergessen. Diese Washingtoner Geostrategie der Beherrschung des Kontinents ist unabhängig von Chávez. In ihrer Quintessenz besteht sie darin, diese militärische Festung als Bedrohung für alle Länder der Region aufzubauen. Und was speziell ihr derzeitiges Wirken gegen Venezuela betrifft, so geht auch dieses über die Paramilitärs hinaus; das heißt, es werden verschiedene Waffen benutzt. Darunter die militärischen Provokationen durch die kolumbianische Armee, die darauf abzielen könnten, eine bewaffnete Reaktion von Seiten Venezuelas zu suchen, um dann die Regierung von Venezuela in der OAS anzuklagen und sie mit einem furiosen Krieg der Medien zu überziehen.
Tatsächlich hat es in den letzten Jahren sehr oft Grenzverletzungen durch kolumbianische Truppen, das Heer und Paramilitärs gegeben. Sie überschreiten die Grenze, provozieren irgend einen Gewaltakt und kehren dann nach Kolumbien zurück. Es gibt keinen Zweifel, dass sie sehen wollen, ob Venezuela irgendwann militärisch darauf antwortet, um dann eines der medialen Spektakel zu machen, von denen wir ja wissen, dass sie das gut können, mit der Klage über eine Bedrohung, die die Regierung Chávez für den Frieden auf dem Kontinent darstelle.

Argenpress: Bei diesen Perspektiven, d.h. angesichts der militärischen Bedrohung, die der Vormarsch des Paramilitarismus darstellt, des Medienkrieges, dem sich das Land Tag für Tag ausgesetzt sieht, dann der Niederlage im Referendum im vergangenen Dezember und mit den Wahlen der Bürgermeister und Gouverneure am Jahresende: welches Szenario sehen Sie für die Bolivarische Revolution im Jahre 2008?

Dario Azzellini: Ein essentieller Punkt ist zu sehen, ob wirklich eine Effektivität in der Arbeit der Regierung erreicht wird. Wir wissen, dass es viele Dinge gibt, die nur halb funktionieren und andere funktionieren nur gelegentlich.. Mir scheint, dass es für den Gesundheitszustand der Revolution wichtig ist, dass die Leute mehr und bessere Ergebnisse bei allen Projekten sehen, die durchgeführt werden. Das heißt, dass die Dinge funktionieren, von etwas scheinbar Banalem wie der Müllabfuhr in jeder Stadt bis hin zu allgemeinen Problemen nationalen Charakters. Und etwas ebenso Grundlegendes ist es zu sehen, ob es für die nächsten Wahlen geschafft wird, Kandidaten zu haben, die wirklich von der Basis gewählt werden.
Das hat bisher nicht funktioniert und diesen Aspekt zu verbessern wäre sehr wichtig für den Vormarsch der Revolution. Ich glaube, um all das in den Griff zu bekommen, d.h. von den Paramilitärs bis hin zu diesen Aspekten der Korruption und Ineffektivität, die der Revolution von innen so viel Schaden zufügen, ist die einzige Option: mehr Macht des Volkes.
Die Massen, die Menschen stärker einbeziehen, das muss der Ausweg sein. Zum Beispiel beim Militär: auch die Kommandanten jedes Stützpunktes der Armee oder der Polizei sollten durch die Wohnbezirke bestätigt werden. Das ist ein Beispiel, aber so sollte die Dynamik sein, denn die Wohnbezirke sind diejenigen, die wirklich wissen was los ist, ob dieser Kommandant eines Stützpunktes korrupt ist oder nicht, ob er Geschäfte mit Holz macht oder die Drogendealer schützt.
Die Leute am Ort wissen das alles, aber es kommt vor, dass sie keine Kanäle haben, über die sie ihre wirklich Macht ausüben, ihre Beschwerden öffentlich machen und Druck ausüben können. Bei einer neuen Nationalen Polizei, die gebildet werden soll, ist an diese Art von Mechanismen gedacht, und etwas Ähnliches sollte es bei allen Strukturen des Staates geben: dass die Menschen jedes Wohnbezirks die Funktionäre bestätigen oder ablösen.

Argenpress: Wenn es so ist, dass nur die Organisierung des Volkes von unten eine Garantie für die Stärkung der Revolution sein kann, was ist dann zu den militärischen Aspekten zu sagen: dann also bewaffnete Volksmilizen? Das Volk unter Waffen, um die Revolution zu verteidigen?

Dario Azzellini: Zweifellos. Das ist absolut notwendig als eine Form der Volksmacht. Diese Strategien der Destabilisierung wie die Paramilitärs oder seinerzeit die Contras in Nicaragua bestehen gerade darin, sich nicht mit der regulären Armee zu konfrontieren. Sie widmen sich vielmehr der Zermürbung der Bevölkerung indem sie kleinere militärische Angriffe starten. Und die beste Art darauf zu antworten – und dabei auch eine übermäßige Verstärkung des Heeres zu vermeiden – ist es, die zivile Bevölkerung zu bewaffnen und die revolutionäre Selbstverteidigung zu fördern.
In diesem Sinne ist der Aufbau von Volksmilizen zur Verteidigung des Voranschreitens des Prozesses eine notwendige politische Aufgabe. Es gibt Basisorganisationen des Volkes, die das verlangen. In den jüngst durchgeführten Versammlungen der Räte der Wohnbezirke (Consejos Comunales) und revolutionärer Basisorganisationen, die nach der Niederlage im Referendum entstanden sind, wurde dieses Thema behandelt und die Forderung gestellt, dies in die Praxis umzusetzen. Man muss sehen, wie das weitergeht und was die Regierung dazu sagt. Mit der Bauernbewegung hat man das Thema weitgehender behandelt. Es gibt ziemlich viel Bauern, die in den Reserven mitarbeiten und in Verbindung mit einigen Sektoren des Heeres stehen. Nicht im ganzen Land, aber es gibt doch bewaffnete Bauernmilizen.

Argenpress: Wenn wir vom Paramilitarismus sprechen, der aus Kolumbien mit seinem „Plan Patriota“ kommt, können wir nicht außer Acht lassen, was in diesem Lande geschieht und welche realen Perspektiven für die Zukunft erkennbar sind. Wir wissen, dass dort die älteste bewaffnete Bewegung des Kontinentes mit zwei sehr starken Guerilla-Gruppen wirkt, es aber ein technisches Unentschieden mit den bewaffneten Streitkräften des kapitalistischen Staates gibt, zu dem das Drogenhandelgeschäft hinzukommt, das ein weiteres großes Thema ist, dessen sich die Rechte bedient. Es sieht nicht danach aus, dass diese ganze höchst komplizierte Situation bald oder mittelfristig gelöst werden könnte. Welches Szenario kann man dort beobachten und welchen Einfluss hätte das auf Venezuela?

Dario Azzellini: Das ist wirklich ein schwieriges Problem weil die kolumbianische Oligarchie die härteste des ganzen Kontinents ist. Ganz eindeutig ist sie nicht bereit irgend ein Zugeständnis zu machen. Frieden wird es aber nur geben können, wenn es eine reale Veränderung in der sozialen und ökonomischen Struktur des Landes gibt. Das ist es, was die beiden aufständischen Gruppen FARC und ELN suchen und keine von beiden wird in irgendwelche Verhandlungsprozesse eintreten wie die in Guatemala oder El Salvador und in diesen Fragen Konzessionen machen.
Das heißt, dies ist eine sehr komplizierte Angelegenheit, denn die bewaffneten Gruppen werden die Waffen nicht niederlegen solange es keine effektive Veränderung in der sozialökonomischen Struktur gibt, aber die kolumbianische Oligarchie ist nicht bereit, in dieser Hinsicht zurück zu weichen. Im Moment gibt es ein Unentschieden und derzeit ist nicht absehbar, wie man das lösen kann. Es war eine gute Nachricht, dass die Linke die Bürgermeisterwahlen in mehreren wichtigen Städten des Landes gewonnen hat. Aber ich weiß nicht, welche reale Perspektive dies auf lange Sicht mit sich bringt. Die Situation ist zweifellos sehr, sehr kompliziert. Ich glaube, dass die Herrschenden das für die Zukunft berücksichtigen müssen, denn die bewaffneten Gruppen haben erklärt, dass sie niemals die Waffen niederlegen werden. Vielleicht werden sie sie nicht benutzen, wenn der Fall eintritt, dass sich Befriedungsprozesse ergeben sollten, aber sie werden sie niemals abgeben. Was verständlich ist, denn alle Guerilla-Bewegungen, die in Kolumbien in Friedensverhandlungen eingetreten sind und die Waffen abgegeben haben, endeten auf dem Friedhof. Deshalb gibt es keine Perspektive, dass es zu einer Entwaffnung kommt. Und keine der beiden Seiten weicht einen Schritt zurück.
Andererseits ist es unmöglich, dass die bewaffneten Bewegungen militärisch siegen, denn wenn das geschähe, würde die Regierung der Vereinigten Staaten das sicherlich nicht zulassen und vielleicht sogar das Land bombardieren. Mit den aggressiven Plänen wie dem „Plan Colombia“ oder dem „Plan Patriota“ wurde für die Aufständischen, die militärisch nicht besiegt werden konnten, die Möglichkeit zur politischen Arbeit noch schwieriger. Früher konnten sie größere Präsenz in den Wohngebieten zeigen und auf dem Lande beherrschten sie große Territorien. Aber mit der Durchsetzung dieser „Pläne“ wurden ihnen die Möglichkeiten ihrer Arbeit in den Wohnbezirken, also vor allem ihre politische Arbeit, außerordentlich erschwert. Auf diese Weise soll zugleich die Botschaft unterstrichen werden, die die Eliten und die Vereinigten Staaten lancieren wollen: dass diese Guerillas keine politischen Bewegungen sind, womit sie noch stärker in Misskredit gebracht werden.

Argenpress: Zweifellos ist das politische Panorama für die Volksbewegungen ganz Lateinamerikas schwierig. Könnte in diesem Sinne der ALBA eine alternative Option sein?

Dario Azzellini: Ja, zweifellos. Er hat bereits angefangen, ein interessanter Pol als Alternative zu werden. Jetzt, zum Beispiel, beginnt die Perspektive Gestalt anzunehmen, auch die Karibik mit einzubeziehen. Wenngleich diese ihrem ökonomischem Gewicht nach nicht sehr bedeutend ist, ist sie es doch in politischer und kultureller Hinsicht. Wenn diese ganze Region beginnt, nach Süden, nach Lateinamerika zu schauen und nicht mehr so sehr nach den Vereinigten Staaten, stellt das eine wichtige Veränderung dar. Jetzt ist Dominica dem ALBA beigetreten. Natürlich ist dessen wirtschaftlicher Beitrag mit seinen 150.000 Einwohnern nicht bedeutend; aber das hat einen sehr großen symbolischen Wert: man beginnt Beziehungen zwischen Ländern und Völkern herzustellen, die historisch getrennt waren. Ich denke dass es mehr Beitritte aus der Karibik geben kann, denn für diese kleinen Länder kann das Projekt sehr interessant sein.
Natürlich sind in beim gegenwärtigen Panorama die Wachstumsmöglichkeiten als Block beschränkt. Einige dieser karibischen Länder sowie Ecuador können noch beitreten, aber ich glaube nicht, dass es danach noch sehr viel mehr Länder sein werden, die sich anschließen. Es gibt aber keinen Zweifel, dass diese Initiative ein immer stärkeres Gewicht bekommt.
Als der ALBA auf denWeg gebracht wurde, waren es gerade einmal mal zwei Länder – Venezuela und Kuba – und nur gute Absichten. Das hat sich in wenigen Jahren geändert. Jetzt ist es wichtig zu schauen, ob sich dem ALBA nicht nur Regierungen anschließen sondern auch Volksbewegungen. Das kann ein sehr interessanter Ausgangspunkt sein und diesbezüglich leistet Venezuela einen großen Beitrag, zum Beispiel mit Stipendien und Fördermitteln. Ein kontinentales Bewusstsein zu schaffen – auch wenn die Regierungen nicht dabei sind – kann sehr wichtig sein, mit einer großen Ausstrahlungskraft auf die Volksmassen. All diese Dinge stören natürlich das Imperium. Sie stören sogar aus dem einfachen Grunde, weil sie die merkantile Logik für die Einheit von Gruppen brechen. Darin besteht die Bedrohung: es wird ein anderes Modell vorgeschlagen. Es wird ersichtlich, dass wirklich „eine andere Welt möglich ist“. Man wird sehen müssen, wie das weitergeht, ob es stagniert oder weiter wächst.

Argenpress: Wenn der ALBA wächst und sich festigt, so wissen wir, dass dies in hohem Grade so ist, weil Venezuela mithilfe der phänomenalen Einnahmen, die ihm sein Erdöl einbringt, dies möglich macht. Wäre angesichts dessen eine direkte militärische Intervention des Imperiums auf diese Erdölreserven denkbar?

Dario Azzellini: Ich würde glauben, dass die Strategie der Vereinigten Staaten, wenngleich sie darin besteht, weiterhin von allen Seiten Druck auszuüben, eher darauf gerichtet ist, zu warten, dass Venezuela von selbst fällt. Noch ist eine Intervention nicht notwendig. Ich glaube sogar, dass eine militärische Intervention von außen eher das revolutionäre Projekt stärken könnte. Deshalb zielt die Politik des Imperiums eher auf den weiteren Vormarsch des Paramilitarismus. Und wenn man diesen nicht sofort stoppt, wird es wahrscheinlich sehr schwer werden, den Prozess der Veränderungen in Venezuela weiterzuführen. Dieser Paramilitarismus wird es sein, der die Weiterführung der Organisation des Volkes verhindert, der die von der Regierung auf den Weg gebrachten verschiedenen Programme zum Scheitern bringt und der weiterhin Lebensmittel schmuggeln und nach Kolumbien bringen wird. All das ist eine Zeitbombe für die Revolution, deshalb muss man es jetzt stoppen.

Übersetzung exklusiv für das Breite Bündnis für Kolumbien
In: Nueva Colombia Info Nr. 19 / Februar-März 2008


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