Michael Brie in Arbeit – Bewegung – Geschichte, Zeitschrift für historische Studien

Dario Azzellini (Hrsg.): An Alternative Labour History. Worker Control and Workplace Democracy, Zed Books, London 2015, 325 S.


Jedes Buch, das Einblicke in reale kapitalismusüberschreitende Praktiken gibt, ist mehr wert als hundert abstrakte Forderungen. Schon deshalb verdient das von Dario Azzellini herausgegebene Buch zu Arbeiterinnen- und Arbeiterkontrolle und Demokratie am Arbeitsplatz Beachtung. Das Buch knüpft damit an die noch viel umfangreichere Darstellung an, die Dario Azzellini und Immanuel Ness bei Haymarket Books in Chicago 2011 unter dem Titel „Ours to master and to own: workers’ control from the commune to the present“ herausbrachten. Das neue Buch spannt den Bogen von einer theoretischen Einführung Alex Demirović ’ über historische und aktuelle Kämpfe und Experimente für eine wirkliche Kontrolle der Arbeiterinnen und Arbeiter über die Produktion, ihr Leben und ihr Einkommen. Die zentrale Frage des Buches wird schon zu Beginn gestellt, wenn Azzellini darauf hinweist, dass sich „die Arbeiterkontrolle nicht auf großer Stufenleiter durchsetzen konnte“ und dafür vor allem „die Drohung mit oder die Anwendung von gewaltsamer Unterdrückung“ (S. 2) verantwortlich macht. Dies bedeutet dann auch, dass die Hauptaufgabe einer umfassenden politischen Umgestaltung darin besteht, dass neue Rahmenbedingungen für die Arbeiterinnen- und Arbeiterkontrolle entstehen.
Die Beiträge des Buches geben eine differenziertere Antwort auf die Frage, warum die Selbstverwaltung der Arbeiterinnen und Arbeiter sich nicht viel umfassender durchzusetzen vermochte, als es der bloße Verweis auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt unterstellt, und zeigen eine Reihe von neuen Ansätzen auf, die sich wesentlich von früheren Kämpfen für die Arbeiterselbstverwaltung unterscheiden. Die Analysen wenden sich so heterogenen Fällen zu wie den Versammlungen von Arbeiterinnen und Arbeitern in Kanada (Elise Danielle orburn), den Erfahrungen der österreichischen Revolution von 1918/19 (Peter Haumer) oder während der Allende-Regierung in Chile zwischen 1970 und 1973 (Franck Gaudichaud), den Ansätzen in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg (Kimiyasu Irie), den brasilianischen Fabrikkomitees in den frühen 1960er Jahren (Henrique T. Novaes und Maurício S. de Faria) sowie Versuchen in Mexiko (Patrick Cuninghame), Uruguay (Anabel Rieiro) und Griechenland (Alexandros Kioupkiolis und eodoros Karyotis).

In seinem stark demokratietheoretisch geprägten Beitrag kontrastiert Alex Demirović die Rätedemokratie mit der liberalen Demokratie. Dabei greift er vor allem auf die Liberalismuskritik von Marx aus den Jahren 1843 bis 1845 zurück. Ausgehend von seiner Analyse der Hegelschen Rechtsphilosophie hatte Marx die Aufhebung der Trennung der „bürgerlichen Gesellschaft“ vom „politischen Staat“, des „unpolitischen Menschen“ vom Staatsbürger als zentrales Ziel einer radikalen Emanzipation gefordert. Demirović hätte allerdings bedenken müssen, dass es heute nicht mehr der liberale Staat von John Locke ist und auch nicht der englische Staat und die englische Gesellschaft nach 1830, die emanzipatorisch zu transformieren sind, sondern eine ganz andere Wirklichkeit engster Durchdringung des Wirtschaftlichen, Sozialen, Politischen und Kulturellen. Von getrennten Sphären mit völlig eigenen Logiken, die sich gegensätzlich spiegeln, kann keine Rede sein. Die heutige Situation hat völlig neue Ansätze für radikaldemokratische Umgestaltungen und neue Hindernisse geschaen. Die gesellschaftlichen Kräfte sind schon in hohem Maße als solche anerkannt, aber zugleich unter die Dominanz einer nanzmarktkapitalistischen, teilweise auch staatskapitalistischen Verwertung und Verfügung gestellt.
Alex Demirović fragt nicht, ob diese Analyse von Marx vor 175 Jahren auch eine hinreichende Beschreibung des heutigen Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft ist – hinreichend, um ihm die Demokratie der Pariser Kommune entgegenzustellen. Zur Darstellung von deren Grundprinzipien greift Demirović wiederum auf die Marxsche Analyse und die Ansätze aus der Novemberrevolution 1918/19 in Deutschland zurück. Trit aber auf die heutigen Staaten in Europa oder auch Lateinamerika zu, dass sie liberale Demokratien sind, die „die wirtschaftliche von der politischen Sphäre, die öentliche von der privaten Sphäre, das Universelle vom Partikularen in der gesellschaftlichen Sphäre“ (S.33f.) trennen? Ist es wirklich richtig, dass das „Leben auf Arbeit, in der Schule oder in der Familie als private Angelegenheit” (S. 34) betrachtet wird? Eine solche Annahme ist blind einerseits für die Emanzipationskämpfe der Arbeiterinnen und Arbeiter oder der Frauen bzw. der rassistisch Unterdrückten, auch der Schwulen- und Lesbenbewegung sowie ökologische Kämpfe und sie ist blind für die herrschaftlichen Regulierungen von Arbeitsverhältnissen, Bildung, Reproduktion und Pege, Familie usw. usf. Aus diesen Kämpfen müssten die heutigen Alternativen entwickelt werden.

Die weiteren Beiträge in dem von Dario Azzellini herausgegebenen Band schildern vor allem die Geschichten oft heroischer Aufbrüche und bitterer Niederlagen. Teilweise hätten die inneren Widersprüche und die Lernprozesse in diesen Projekten noch stärker ins Zentrum gerückt werden können. Verblüend ist vor allem, dass die Tatsache, dass die heutigen Kämpfe für Kontrolle der Produktion durch die Arbeiterinnen und Arbeiter anders als früher vor allem defensive Kämpfe sind (S. 68), nicht noch intensiver durch den Herausgeber selbst re-ektiert wurde. Während bei den Revolutionen vor einhundert Jahren in Russland, Deutschland, Österreich, aber auch im Spanischen Bürgerkrieg und anderen großen Bewegungen jener Zeit ganz selbstverständlich die Übernahme der Betriebe durch die dort Arbeitenden selbst als Ziel verfolgt wurde, hat die Krise von 2008 nur dort zu Betriebsbesetzungen geführt, wo es um die nackte Existenz ging, um die Behauptung der eigenen Würde und darum, nicht „wie Abfall“ behandelt zu werden. Diese Projekte, so zeigen alle diesbezüglichen Beiträge, sind aber durch bekannte Probleme wie Mangel an Kapital, Knowhow, Marketing und die Abwanderung jener gekennzeichnet, die sich bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt ausrechnen. Sie werden wie viele genossenschaftliche Projekte, so sie überleben, zu Unternehmen, die auf den kapitalistischen Märkten um das Überleben kämpfen und deshalb durch eine indirekte, aber deshalb oft umso größere Ausbeutung geprägt sind (siehe dazu exemplarisch die Darstellung für Brasilien oder Uruguay, S. 268, 290).

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