Leben in Berlins armen Stadtteilen

Ohne Schattenökonomie geht nichts

Wenn am 1. Januar 2001 die PDS-Hochburg Friedrichshain und die Grünen-Hochburg Kreuzberg im Rahmen der Gebietsreform zusammengelegt werden, entsteht mit 250.000 EinwohnerInnen einer der größten - und ärmsten - Bezirke Berlins. Der traditionsreiche Westbezirk Kreuzberg, Zentrum der Hausbesetzerbewegung der 80er Jahre, der radikalen Linken, StudentInnen und MigrantInnen sowie der Ostbezirk Friedrichshain, Herz der Hausbesetzerszene der 90er, haben als ehemalige Arbeiterviertel in den 90er Jahren eine massive Deindustrialisierung erlebt. Als Folge der Wiedervereinigung blieben in beiden Stadtteilen nicht-konkurrenzfähige Unternehmen auf der Strecke. Im "Westbezirk" Kreuzberg setzte beispielsweise DeTeWe, ein Telekom-Zulieferer für Kommunikationstechnik, alle 800 Mitarbeiter auf die Straße. Der Betrieb musste schließen, da er keine Abteilung für Forschung und Entwicklung unterhielt.

Kreuzbergs Bürgermeister Franz Schulz von den Grünen betont, dass die Ursache der Verarmung Kreuzbergs im Prozess der Binnenverarmung liegt und nicht, wie häufig von den Medien propagiert, im Zuzug einkommenschwacher Bevölkerung. "Viele Einwohner Kreuzbergs waren Industriearbeiter, die ohnehin nicht viel verdienten. Nach der Entlassung bekommen sie ein Arbeitslosengeld von etwa 60 Prozent des letzten Lohns. Danach werden sie auf die noch geringere Arbeitslosenhilfe gesetzt und bewegen sich schon fast am Existenzminimum. Nach zwei Jahren gelten sie dann als 'nicht-vermittelbar' und gehen in die Sozialhilfe", so Schulz. "Das ist aber kein Kreuzberger Problem, sondern der Berliner Innenstadtkrise geschuldet. In Schöneberg und Tiergarten dauert es nur länger, da die ursprünglichen Löhne höher lagen."

Der "Mauerfall" hat den ehemaligen Randbezirk Kreuzberg in das Zentrum der neuen Hauptstadt katapultiert. Immobilienspekulanten witterten einträgliche Geschäfte und die Mieten stiegen in der ersten Hälfte der 90er Jahre rasant an. Zwar blieb der erhoffte Boom aus, doch viele Kleinbetriebe hatten dem Bezirk bereits den Rücken gekehrt und waren in den "Speckgürtel" um Berlin gezogen. Die nicht deutsche Bevölkerung Kreuzbergs, etwa ein Drittel der insgesamt 150.000 BewohnerInnen des Bezirks, traf die Entlassungswelle im industriellen Sektor besonders hart. Vorwiegend als Industriearbeiter oder prekär beschäftigt, werden sie auf Grund des strukturellen Rassismus schneller entlassen und landen in der Arbeitslosigkeit als Beschäftigte mit deutschem Pass.

Vom Rand ins Zentrum und zurück

So bleibt vielen MigrantInnen kaum eine andere Möglichkeit als die Selbstständigkeit. "Die Vietnamesen gründen kleine Handelsbetriebe, Italiener und Griechen sind vorwiegend in der Gastronomie tätig. Jede Bevölkerungsgruppe hat eigene Ressourcen, die bei den geschäftlichen Aktivitäten genutzt werden. Die GUS-Zuwanderer wiederum machen zum Beispiel Ost-West-Geschäfte, da sie Beziehungen in ihren Ländern haben," berichtet Ahmed Örsez, Sprecher der Türkisch-Deutschen Unternehmerunion (TDU). "Die türkischen Existenzgründer", beschreibt er weiter, "haben traditionelle Berufe wieder aufgenommen, beziehungsweise ihre Produkte und Dienstleistungen mitgebracht, wie türkische Bäckereien, Schlachtereien, Vermittlungsbüros. Sie gehen aber auch zunehmend in für sie neue Bereiche rein, wie Computer oder Dienstleistungen."

Der Druck, die eigene Arbeit zu erfinden und häufig schlechter gestellt zu sein, als ein Arbeitnehmer ist ein weit verbreitetes Phänomen in Kreuzberg. So liegt die Arbeitslosenrate im Bezirk bei nahezu 30 Prozent (bei einem Berliner Durchschnitt von etwa 17 Prozent), nahezu 20 Prozent der Kreuzberger Bevölkerung bezieht Sozialhilfe und Tausende tummeln sich in öffentlich subventionierten Arbeits- und Fortbildungsprogrammen. Birgit Daiber, Ex-Europa-Abgeordnete und ehemalige Sprecherin der Berliner Grünen, kennt als Mitarbeiterin der Beschäftigungsgesellschaft LOWTEC die Problemlage des Bezirks sehr gut: "Ich arbeite mit dem unteren Drittel der Gesellschaft, doch in einigen Vierteln Berlins entspricht es zwei Dritteln. Das traditionelle Kreuzberger Proletariat lebt faktisch vollständig von Sozialhilfe, denn niedrig qualifizierte Arbeit existiert nur noch in prekärer Form. Und nahezu 70 Prozent der Kreuzberger Jugendlichen finden keinen Ausbildungsplatz," beklagt Daiber, heute PDS-Mitglied, und warnt: "Wenn nichts Entscheidendes passiert, kann ich mir vorstellen, dass Kreuzberg in fünf Jahren ein Getto ist, in dem Randale Alltag ist."

Andererseits ist die Armut in Kreuzberg weniger sichtbar als in statistisch gesehen reicheren Bezirken. Dies liegt vor allem an der ausgedehnten Schattenökonomie. Auch viele Arbeitslosen- oder SozialhilfeempfängerInnen kombinieren die kaum ausreichende Unterstützung mit "inoffiziellen" Tätigkeiten. In vielen Bereichen - Gastronomie, Bau, Familienbetrieben, Handwerk bis hin zur Produktion - sind "irreguläre" Arbeitsverhältnisse weit verbreitet. Hinzu kommen die neuen Formen einer kleinen intellektuellen Schicht, die kulturell aktiv ist und die Prekarisierung in produktiver Weise lebt. Insgesamt findet sich in Kreuzberg ein dichtes Geflecht informeller Aktivitäten, die im Laufe der Jahrzehnte ein breites Feld sozialer und kultureller Aktivitäten und ethnisch-familiäre Solidarstrukturen hervorgebracht haben.

"Ohne die Schattenökonomie sähe es viel schlimmer aus", gibt auch Franz Schulz zu, "während der letzten Jahrzehnte wurde jedoch alles daran gesetzt, sie zu erdrosseln. Die Diskussion folgt nur Legalitätskriterien und nicht den Parametern einer Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik. Wenn jemand erwischt wird, der sich in der Quasi-Illegalität über Wasser halten kann, endet er regelmäßig in der Arbeitslosigkeit. Ich habe meine Zweifel, ob es sinnvoll ist, die Schattenökonomie weiter einzuengen, die gesamte Härte der Gesetze anzubringen und so die Kleinunternehmer in den Ruin zu treiben."

Vom Arbeiterbezirk zur Ramschmeile

Während die Repression gegen die Schattenökonomie und der Druck auf Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger immer stärker wird, nehmen die Möglichkeiten regulärer Beschäftigung allerdings weiter ab. "In Kreuzberg", schätzt Daiber, "verfügt ein großer Teil der Beschäftigungsverhältnisse über keinerlei vertragliche Regelung, sondern funktioniert auf der Grundlage freundschaftlicher Verhältnisse oder sozialer Abhängigkeiten". Dies trifft auch auf die Arbeitssituation in boomenden Branchen zu, wie etwa Telekommunikation, Computer- und Netzwerkwartung oder den Call-Centern.

Im Friedrichshain ist die Situation ähnlich, der Bezirk "war ja eine Mischung aus klassischem Arbeiterbezirk und Karl-Marx-Allee, also Leute, die zwar aus dem klassischen Arbeitertum kamen, aber im Verwaltungsapparat beziehungsweise für den Staat arbeiteten. Diese beiden Punkte sind ja nun gänzlich weggefallen", resümiert Peter Steiniger, Mitarbeiter des Wahlkreisbüros der PDS-Bundestagsabgeordneten Christa Luft. "Heute gibt es hier kaum noch produzierendes Gewerbe. Verkauf, Service und Handel halten sich auch in Grenzen. An der Karl-Marx-Allee entsteht nur Ramsch. Es gibt im Bezirk eigentlich nur noch zwei große Bereiche, in denen noch im klassischen Sinne 'sichere' Arbeitsverhältnisse bestehen: das Krankenhaus und das Bezirksamt. Ersteres ist von den Kürzungen im Gesundheitsbereich bedroht und Letzteres von der Fusion der Bezirke. In allen anderen Bereichen kann man von prekären Verhältnissen sprechen."

Das durchschnittliche Haushaltseinkommen im Friedrichshain liegt nur knapp über dem der Kreuzberger, obwohl die Bevölkerungsstruktur hier eine gänzlich andere ist. Nur neun Prozent der knapp 100.000 EinwohnerInnen sind nicht im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit. Die Arbeitslosenquote liegt leicht über dem Berliner Durchschnitt und rund neun Prozent der Bevölkerung leben von Sozialhilfe. Doch auf Grund der niedrigen Löhne ist der untere Teil der Einkommenspyramide überproportional vertreten. Zudem wurde eine ganze Generation frühzeitig aus dem Arbeitsleben ausgegliedert und dreht Warteschleifen in Arbeitsfördermaßnahmen und Umschulungen - ohne Aussicht auf eine Anstellung, oder wurde frühzeitig pensioniert.

So ist auch im Friedrichshain ein Prozess der Binnenverarmung festzustellen, vor allem unter den Frauen. Während vor der Wiedervereinigung etwa 90 Prozent der Frauen einer entlohnten Beschäftigung nachgingen und ein dichtes Netz der sozialen Unterstützung und Kinderbetreuung existierte, beträgt der Anteil von Frauen mit eigenständigem Einkommen heute nur noch 40-50 Prozent. Hinzu kommt, dass etwa 40 Prozent der Mütter im Bezirk allein erziehend sind. "Ab Anfang der '90er sind immer mehr Frauen aus dem Arbeitsleben herausgefallen", berichtet Steffi Lehnhardt vom Frauenzentrum 'Frieda', "viele trauen sich aber auch nicht auf die Ämter zu gehen oder wissen immer noch nicht, was ihnen zusteht", erklärt sie die Diskrepanz zwischen den Statistiken und der erlebten Realität.

Friedrichshain gleicht sich nicht nur bezüglich der sozialen Situation dem Nachbarbezirk Kreuzberg an. "Das lange Zeit günstige Preisniveau bei Mieten und die nahe Lage an Kreuzberg verursachen, dass Studenten und in den Boom-Branchen tätige Yuppies in die Altbaubezirke ziehen", beobachtet Steiniger, "wir haben hier auch seit 1990 eine starke Hausbesetzer- und Subkulturszene. Mittlerweile hat sich diese Szene eingelebt und teilweise entpolitisiert, aber ein Netz an kulturellen und kleinen wirtschaftlichen Einheiten gebildet: Kneipenleben, kleine Kinos, kleine Kulturwerkstätten etc., was die Grundlage der neuen Tendenzen bildet. In den nächsten zehn Jahren wird sich entscheiden, ob es zum Yuppie-Bezirk wird."

Yuppie-Boom und Subkultur


Die Chancen für eine Lokalpolitik jenseits des Berliner CDU-SPD-Filzes sind günstig. In der bereits gewählten, zukünftigen Bezirksvollversammlung (BVV) existiert eine rechnerische Mehrheit aus PDS und Grünen. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass die Kompetenzen einer BVV kleiner sind als die einer 3000-Seelengemeinde, und: Kreuzberg und Friedrichshain wurden schon immer stärker "von Unten" geprägt, als durch lokale Institutionen.

Im Rahmen des vom Mailänder Institut A.A.STER in sieben europäischen Städten durchgeführten Forschungsprojektes "Moriana" über neue Arbeitsformen und -verhältnisse in Zeiten des Umbruchs, zeichnet Dario N. Azzellini für Berlin verantwortlich.