Zwei Chávez-Anhänger von Heckenschützen erschossen

Venezuela: Opposition will Caracas erobern

Die erste Demonstration der Opposition im neuen Jahr gegen Chávez endete am Freitag, den 3.1.2003 mit zwei Toten und mehreren Dutzend Verletzten. Die Opposition beschuldigte RegierungsanhängerInnen, das Feuer eröffnet zu haben. Doch bei den Toten handelt es sich um "Chavisten" - um Chávez- Anhänger also.

Die Opposition hatte mit der Losung "Die große Schlacht" in Caracas zu einem Sternmarsch aufgerufen. Gleichzeitig hatten RegierungsanhängerInnen zu einer Gegendemonstration in der Nähe aufgerufen. Dort befand sich auch die oppositionell kontrollierte Stadtpolizei (PM), die zunächst mit Tränengas und eisengespickten Plastikgeschossen gegen die RegierungsanhängerInnen vorging und mehrere verletzte. Inmitten der andauernden Scharmützel wurde von einem Hausdach aus das Feuer auf RegierungsanhängerInnen eröffnet, zugleich schossen auch andere Bewaffnete auf die Menge.

In Aufnahmen des britischen Fernsehsender BBC war zu sehen, wie Dutzende von Stadtpolizisten und Oppositionelle in Zivil mit Pistolen auf RegierungsanhängerInnen anlegten. Einige der schießenden Zivilisten sind in anderen Aufnahmen des staatlichen Senders VTV bei gemeinsamen Besprechungen und Aktionen mit der Stadtpolizei zu erkennen. Bewaffnete RegierungsanhängerInnen sind hingegen nicht zu sehen.

Die Situation ähnelt der von der Opposition im vergangenen April organisierten Schießerei mit ihren insgesamt 19 Toten - mehrheitlich RegierungsanhängerInnen - die schließlich zum Anlass für den Putschversuch genommen wurden. So waren auch diesmal die AnführerInnen der Opposition bei der Demonstration praktisch nicht anwesend, was einige TeilnehmerInnen dazu brachte, vor laufenden Fernsehkameras zu erklären sie fühlten sich wie "Kanonenfutter". Friedlich und ohne Zwischenfälle verlief hingegen eine Großdemonstration von Chávez-Anhängern am Samstag.

Zwischen großer Schlacht und Kanonenfutter

Der Streik wird mittlerweile nur noch von einigen wenigen großen Einkaufszentren, transnationalen Fast-Food-Ketten und Unternehmen sowie den höheren Angestellten des staatlichen Erdölunternehmens PDVSA aufrecht erhalten, was teilweise zu Engpässen in der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln geführt hat. Um die Versorgung der ärmsten Bevölkerungsschichten sicher zu stellen, importierte das Landwirtschaftsministerium Ende vergangener Woche Reis und Mehl im Wert von etwa 3,5 Millionen Dollar. Die meisten kleinen und mittleren Händler und Betriebe, die sich ohnehin nur teilweise dem Streik angeschlossen hatten, nahmen die Arbeit schon im Dezember wieder auf.

Américo Martín, Vertreter der oppositionellen Verhandlungsdelegation bei den Gesprächen mit der Regierung, verkündete: "Gewisse Sektoren, die kleinen und mittleren Unternehmen, werden in der nächsten Woche wieder öffnen". Die teilweise Aufhebung des "Handelsstreiks" schließe jedoch nicht den Erdölsektor mit ein, so Martín. Der Vorsitzende der gelben Gewerkschaft CTV Carlos Ortega erklärte hingegen, der Streik gehe im neuen Jahr mit noch mehr Kraft weiter, niemand habe die Autorität, das Gegenteil zu behaupten. Zusätzlich forderte er zur Verweigerung der Steuerzahlungen auf.

Die Opposition besteht nun auf der Durchführung einer Volksabstimmung am 2. Februar über den Rücktritt von Chávez. Der teilweise von der Opposition kontrollierte Wahlrat hatte vor einigen Wochen dieses Datum vorgegeben. Die Entscheidung wurde zwar von Parlament und Regierung abgelehnt, weil sie entgegen des Statuts mit nur drei von sieben Stimmen bei einer Enthaltung gefallen war. Außerdem ist eine Volksabstimmung über den Verbleib von Amtsträgern in ihren Posten gemäß der Verfassung nur zur Hälfte der Amtszeit möglich, im Falle Chávez demnach am 19. August diesen Jahres. Doch der Wahlrat ist entschlossen, die Abstimmung durchzuführen. Die dazu notwendigen 21,3 Millionen Dollar sollen von privaten Unternehmen zur Verfügung gestellt werden.

Sollte der Termin von der Regierung nicht respektiert werden, kündigte die Opposition an, "die Stromversorgung, die grundlegenden Dienstleistungen und die Banken völlig lahmzulegen". Was hinter dieser Drohung steht, bleibt ungewiss. Da die Opposition nicht im Stande ist, alle diese Bereiche zu bestreiken - bis auf die Banken, die den Publikumsverkehr ohnehin seit Wochen stark eingeschränkt haben -, bleibt eigentlich nur aktive Sabotage.

Lula will Hugo unterstützen

Weiterhin angekündigt, aber bislang ohne konkretes Datum bleibt eine "Eroberung von Caracas" genannte Demonstration der Opposition, die zum Präsidentenpalast Miraflores marschieren will. Um den Präsidentenpalast wurde nach dem Putsch im April eine Bannmeile gezogen. Arbeitgeberpräsident Carlos Fernández bekräftigte dennoch, die Demonstration werde auf jeden Fall nach Miraflores ziehen. Außerdem wird über weitere Pläne der Opposition bezüglich gewalttätiger Aktionen spekuliert, vor allem seit bekannt wurde, dass oppositionelle Gruppen die Haushalte im wohlhabenden Osten Caracas befragen, ob sie Waffen besitzen und diese auch benutzen können.

Die Gewerkschaft der Motorradtransporteure forderte unterdessen die Regierung auf, den Verhandlungstisch mit der Opposition zu verlassen, da letztere keinerlei Verhandlungsbereitschaft zeige. Daneben wurden bereits Hunderttausende von Unterschriften gesammelt, um den Medien, die zum Verfassungsbruch auffordern und den Putsch unterstützten, die Lizenzen zu entziehen. In einer weiteren Unterschriftensammlung werden juristische Maßnahmen gegen das an Sabotageakten beteiligte Personal der Erdölgesellschaft PDVSA und der Verbleib Chávez' im Amt bis zum Ende seines Mandats gefordert.

Nach den Ereignissen vom Freitag erwog Chávez die Möglichkeit, bei einer weiteren Zuspitzung der Ereignisse den Notstand auszurufen. Er forderte die Justiz auf, mit "harter Hand" für die Einhaltung der Gesetze und der Verfassung zu sorgen. Die Justiz gehört zu den Sektoren Venezuelas, die mehrheitlich von der Opposition kontrolliert werden. Der Oberste Gerichtshof hatte sogar entschieden, dass es sich bei dem Putsch im April nicht um einen Putsch handelte. "Uns fehlt eine wirklich parteilose Justiz, die jene ins Gefängnis bringt, die ins Gefängnis gehören, wie auch immer sie heißen mögen", so Chávez. Dennoch werde er seine Macht als Präsident nicht ausnutzen.

Bei seinem Besuch in Brasilien zum Amtsantritt des neuen Präsidenten Ignacio Lula da Silva sagte der neue brasilianische Präsident Chávez bei Bedarf weitere Unterstützung mit Treibstofflieferungen zu. Darüber hinaus wurden direkte Gespräche zwischen der neuen Leitung des brasilianischen staatlichen Erdölunternehmen Petrobrás und der venezolanischen PDVSA über die Möglichkeiten technischer Zusammenarbeit vereinbart. Beide Präsidenten versicherten sich gegenseitig ihre Unterstützung und vereinbarten baldige binationale Gespräche, um eine strukturelle Integration von Grenzangelegenheiten, Wirtschaft, Handel, Erdöl- und Energieversorgung zwischen Brasilien und Venezuela voranzutreiben.

Darüber hinaus nahm auch die Initiative der brasilianischen Regierung, eine Vermittlungskommission mit Vertretern verschiedener Staaten für den Konflikt in Venezuela zu gründen, konkretere Formen an. Frankreich und Russland hatten bereits Interesse an der Teilnahme in einer solchen Kommission bekundet - eine Initiative, die den USA nicht gefällt. Richard Boucher, Sprecher des State Departments, erklärte, die US-Regierung vertraue weiterhin auf die Vermittlung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). "Wir glauben nicht, dass die Notwendigkeit zur Bildung einer weiteren Gruppe von befreundeten Staaten besteht", so Boucher.

Zugleich teilte die US-Botschaft in Caracas mit, die Ausstellung von gewöhnlichen Visa für die USA werde am 20. Januar eingestellt. Die Botschaft arbeitet bereits seit dem 20. Dezember in reduzierter Form, da etwa zwei Drittel aller Botschaftsangehörigen und ihre Familien aufgrund der Situation in Venezuela abberufen wurden.