Interview mit Chiara Cassurino und Federico Martelloni

Die "Tute Bianche" = Weisse Overalls

Wann, wie und warum sind die "tute bianche" entstanden?
Chiara: Das erste Mal, dass wir die weißen Overalls angezogen haben, das war am 10. September 1994 auf der Demo gegen die Räumung des Sozialen Zentrums Leoncavallo in Mailand. Wir wollten eine harte Antwort geben und so wurde es auch wahrgenommen: Die Zeitungen sprachen davon, dass in den Straßen einer brennenden Stadt die Jugendlichen aus den Zentren wie Gespenster umhergingen … erst einige Jahre später haben wir das Ganze tiefer gehend reflektiert …Und so tauchten die "tute bianche" 1998 in Rom wieder auf. Damals haben einige soziale Zentren, die zur Gruppe der "Erklärung von Mailand" gehörten und den Kampf um Existenzgeld auf die Tagesordnung gesetzt hatten, beschlossen, diese Rahmenforderung im lokalen Kontext konkret und sichtbar zu machen. So stiegen sie mit weißen Overalls bekleidet in Busse und verteilten gefälschte Fahrscheine, auf denen ein kostenloser Nahverkehr für Arbeitslose, prekär Beschäftigte, MigrantInnen und alle ohne regelmässiges und ausreichendes Einkommen gefordert wurde. Noch im gleichen Jahr begannen Dutzende von "tute bianche" während Live-Übertragungen in Fernsehstudios einzudringen, in Theatern und bei Konzerten auf der Bühne zu erscheinen oder bei Konferenzen und Kongressen aufzutauchen, die in der Aufmerksamkeit der Medien standen, um Misstände aufzuzeigen, Solidarität oder den Kampf gegen etwas zu verkünden. Die Themen waren Migration, das Existenzrecht der zapatistischen Gemeinden, das Recht auf freie Bildung und Existenzgeld.

Und warum habt ihr dafür die weißen Overalls gewählt?
Chiara: Das hat vornehmlich zwei Gründe: 1) Das Konzept der "tute bianche" bezieht sich auf die Analyse des Übergangs vom Fordismus zum Postfordismus. Ein Akkumulationsregime, das auf Massenproduktion in der großen Fabrik und dem Fließbandarbeiter mit seiner parzellisierten Beschäftigung als zentrale Figur der Produktion und des Konflikts beruht, wird abgelöst von einem flexiblen, netzförmigen Arbeitssystem, in dem die atypische und selbstständige Beschäftigung explosionsartig zunimmt und die Produzenten nicht nicht mehr eine standardisierte, relativ homogene Lebensrealität teilen, sondern in viele verschiedene, plurale Subjektivitäten zersplittern. Das gemeinsame Merkmal bleibt die Enteignung, die jetzt noch größere Ausmaße annimmt, und zwar dadurch, dass das gesamte Leben "in Wert" bzw. "in Arbeit" gesetzt und als Ganzes der kapitalistischen Herrschaft unterworfen wird. Weiß, verstanden als Summe aller verschiedenen Farben, soll so als Darstellungsform für die Vielfältigkeit der verschiedenen Subjekte dienen, die sich gemeinsam gegen die kapitalistische Herrschaft auflehnen und sich innerhalb des Konfliktes als eine einzige Multitude1 wieder erkennen. 2) In der klassischen Ikonografie ist weiß die Farbe der Gespenster, es ist ein Symbol für Unsichtbarkeit: die Unsichtbarkeit der "ohne"; ohne Arbeit, ohne Papiere, ohne Garantien, ohne entsprechende Staatsbürgerschaft, ohne Rechte. Zugleich ermöglicht die kollektive Darstellung dieser Unsichtbarkeit das genaue Gegenteil, d.h. eine enorme Sichtbarkeit.


Welche Medienwirkung entwickeln die "tute bianche" in ihren Aktionen? Welche Veränderungen in der Kommunikation haben sie hervor gebracht?

Federico: Die zur Schau gestellte Unsichtbarkeit führt zunächst zu einer Überwindung der Abhängigkeit von den Produzenten der Medien, zu einer Art Umkehrung des Verhältnisses. Die breite Sichtbarkeit musste nicht von einem "freundlich gesinnten" Journalisten erbettelt werden, sondern ist - zumindest am Anfang - erobert worden, und zwar mit spektakulären Aktionen an Orten oder zu Gelegenheiten, die im Blickfeld der Medien waren. Basierend auf der Analyse der zentralen Rolle der Medien beginnt also die Phase des Eindringens in den mediatischen Raum. Wenn sich das Fernsehen oder die Zeitungen für vieles, was wir zu sagen haben, nicht interessieren, dann gehen wir auf sie zu. Mit der Zeit findet ein Rollenwechsel statt. Die "tute bianche" sind ein kleiner Akteur auf dem politischen Parkett, doch ihre Aktionen sind weitaus "Appetit anregender" weil spektakulärer als die der traditionellen Akteure. Und mit Medien, die bereit sind, einem Raum zu geben, kann man viel anstellen. Sogar einem ganzen Land ankündigen, dass man vorhat, mit Helmen auf dem Kopf auf die Straße zu gehen, die Körper mit Schaumgummi und aufgeblasenen Lastwagenschläuchen zu schützen und damit das Recht in Anspruch zu nehmen, sich einer Entscheidung zu widersetzen, die man für illegitim hält und ohne dabei Verletzungen zu riskieren. Das ist es, was am 19. Januar 2000 bei der Demonstration für die Schließung des Abschiebeknastes in Via Corelli in Mailand passiert ist, als einige Hundert "tute bianche" gefolgt von einer Demo von 10.000 Personen eine Polizeikette durchbrechen und die Schließung des Abschiebeknastes herbeiführen.


Wie funktionierte der Umgang mit den Medien in diesem konkreten Fall?
Chiara: Uns wurde schnell klar, dass es notwendig ist, die Medien nutzen zu lernen. Sie stellen eine verzerrte Wirklichkeit dar, häufig verlogen, manchmal verleumderisch, aber nach einer Auseinandersetzung auf der Straße berichten sie auf jeden Fall Millionen von Leuten von dir. Also sollte man bereits im Vorfeld mit ihnen rechnen. Und dann kann man das Ganze auch gleich so öffentlich machen, dass es anderen ermöglicht, sich an den geplanten Aktionen zu beteiligen, anstatt dass man weiterhin gegenüber den Massen klandestin bleibt, aber bei der Polizei mehr als bekannt ist. Der "Corelli-Effekt" ist außergewöhnlich. Der Sieg ist aber kein militärischer: Tausende Polizisten, die uns vom Abschiebeknast trennten, wurden nie überwunden. Die Bedeutung der Aktion liegt darin, dass 10.000 Leute sich bewusst entschieden haben, ihre Körper einzusetzen, um aktiven zivilen Ungehorsam zu leisten. Die Auseinandersetzungen haben ein riesiges Aufsehen in allen landesweiten Fernsehkanälen verursacht und die Regierung musste Hunderttausenden die unmenschlichen Zustände erklären, die von einer Delegation Protestierender im Innern des Abschiebeknasts festgestellt wurden. Nur wenige Tage später erklärte der Innenminister die Schließung des Abschiebeknastes aufgrund der inakzeptablen hygienischen und gesundheitlichen Zustände und der Missachtung einiger grundlegender Menschenrechte.


Ihr redet vom "zivilen Ungehorsam", dieser Begriff hat eine gewisse Geschichte. Damit wird manchmal assoziiert, dass auf offensiven Widerstand verzichtet werden soll. Was genau versteht ihr darunter, wie benutzt ihr den Begriff?
Chiara: Wir wollen insofern innovativ sein, als wir in das Konzept des zivilen Ungehorsams und des Widerstandsrechts neue Inhalte einführen. Es geht nicht nur darum nein zu sagen, Widerstand gegen die souveräne Macht zu leisten, sondern die Gesetze, Regeln, Normen und Institutionen, die politische, ökonomische und juristische Ordnung radikal in Frage zu stellen. Das bedeutet vor allem auch, ein positives Recht zu postulieren: Das Recht der rebellischen und antagonistischen Gemeinschaften, Formen der Kooperation und des kollektiven Lebens zu schaffen, die - im Verhältnis zur konstituierten Macht - "anders" sind. Auf dieser Grundlage ist es richtig, notwendig und möglich, die eigenen Räume und Rechte mit allen Mitteln zu verteidigen, auch durch Aktionen zivilen Ungehorsams, die den jeweiligen Situationen und allgemeinen Kräfteverhältnissen angemessen sind.


Inwiefern wollt ihr das Konzept ausdehnen, wie ihr es selbst formuliert habt?
Federico: Die Lektion des "fragend laufen", die wir von den Zapatisten gelernt haben, bezieht sich auf Form und Inhalt. Der zivile Ungehorsam ist ein Instrument, das in der Lage ist, Konflikt und Zustimmung zu erzeugen, so lange nicht das gemeinsame Ziel aus den Augen verloren wird. Wenn etwa die mediale Anklage gegen Abschiebeknäste nicht mehr ausreicht und wir ihre Schließung für notwendig halten, dann werden zur Erreichung des Zieles andere Mittel notwendig sein, als die bloße Selbstverteidigung. Dann wird man Mittel einsetzen müssen, die ein Vorwärtskommen ermöglichen. Damit will ich sagen, dass der zivile Widerstand sich in seinen Formen nicht immer wieder gleichen kann: die Formen müssen an den Zielen orientiert sein, die man sich von Mal zu Mal setzt. Das bedeutet, die Grenzen weiter auszudehnen, die Illegalität in Legalität zu verwandeln, die Zustimmung für den Feind zu reduzieren und die Sinnhaftigkeit unseres Handels zu erhöhen. Das alles jenseits der Logik des Zusammenstoßes von Kräften, denn das ist keine militärische, sondern eine politische Frage. Unser Ziel bleibt aber die radikale Transformation des aktuellen Status Quo, die Befreiung vom Zwang der Arbeit, von der Sklaverei der Lohnarbeit, noch viel mehr innerhalb eines Produktionssystems, das die Arbeit massiv reduziert, aber die Bürgerrechte und gar das Existenzrecht weiterhin an die Lohnarbeit koppelt. In diesem Rahmen steht z.B. auch der Kampf um das Existenzgeld. Oder das Problem der Rechte von MigrantInnen, das letzte Glied in der kapitalistischen Verwertungskette dieser postfordistischen Epoche, neue Sklaven mit dem Status von "Nicht-Personen", denen selbst das Recht auf Bewegungsfreiheit verweigert wird, während zugleich der Abbau von Grenzen für die Zirkulation von Waren und Geld weiter geht.

Es hat einige Polemiken bezüglich einer Erklärung der "tute bianche" gegeben, in der es hieß, ihr hättet keine "Ideologie". Was bedeutet das?
Chiara: Wir haben während der vergangenen Jahre einige politisch-praktische Übergänge definiert. Unsere "Radikalität" befindet sich auf der Suche nach neuen Formen, neuen Horizonten, nach einem "neuen Anfang" - sie ist aber deswegen nicht weniger stark und entschlossen! Es handelt sich um einen revolutionären Geist, der sich von der praktischen Erfahrung nährt, von den konkreten Formen, in denen sich unsere politische Aktivität entwickelt, die Anknüpfungspunkte findet, Ziele erobert und Kräfteverhältnisse verschiebt. Der historische Materialismus, die transformative politische Praxis, die Analyse der und der Kampf gegen die vielfältigen Erscheinungsformen der Macht und die soziale und revolutionäre Befreiung … das ist weiterhin unser Horizont. Das ist aber weder ideologisch noch idealistisch! Wir stehen für ein neues und starkes revolutionäres Projekt, radikal und subversiv: Nur dass es eben Charakteristika annimmt, die ganz anders sind, gerade weil die historischen Bedingungen sich verändert haben. Es ist das gesellschaftliche Sein, welches das Bewusstsein bestimmt und nicht anders herum. Das bedeutet auch, dass alle theoretischen Hypothesen und Formen der politischen Aktion und sozialen Praxis sich unvermeidbar in Ideologien, in puren "Idealismus" verwandeln, wenn sie aus dem konkreten historischen Kontext heraus getrennt werden, wenn sie über die Zeit, die sie hervorgebracht hat, hinaus konserviert werden.


Ihr erwähnt häufig die Vokabel "Konflikt", was meint ihr damit?
Federico: In dieser postfordistischen Epoche hat sich die Dimension des Konflikts verändert. Alles wird in Wert gesetzt, wird produktiv, nicht nur die Arbeit in der Fabrik sondern das Leben als Ganzes, das Wissen, die Fähigkeit zu kooperieren und zu kommunizieren, zu denken und konkret zu planen, die natürlichen ebenso wie die menschlichen und sozialen Ressourcen … Eine Vielzahl "produktiver Netze" umspannt die gesamte Welt und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen hat eine totale, umfassende Dimension erreicht - bis hin zur Kolonisierung des Lebens selbst. Wir leben inmitten dieser "Subsumtion" und beginnen jetzt die ersten Schritte in dieser Welt zu machen, in der wir neu lernen müssen, wie wir Widerstand leisten, kämpfen, revolutionäre und radikale Alternativen schaffen können. Es ist offensichtlich, dass dieser Wandel in der Strategie, da er auf der Basis des Scheiterns der alten Transformationshypothesen heranreifte, genau diese auch obsolet macht. Es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Die alten Formen und Modalitäten, die Widersprüche zu entwickeln werden unpassend. Die Klassenverhältnisse und die Klassenzusammensetzung selbst verändern sich, und zwar nicht in dem Sinne, dass die Ausbeutung der Arbeitskraft geringer wird, sondern dass sie unter anderen Umständen passiert, anders ausgeübt wird. Und es ist nur logisch, dass auch unser politisches Agieren, ein neues Projekt der radikalen Transformation des Existierenden, sich anhand dieses Paradigmenwechsels reartikulieren muss: ausgerichtet an den epochalen Veränderungen der Organisation der Arbeit, an der kapitalistischen "Inwertsetzung" der Kommunikation, der Natur und des Sozialen, des Raums usw. Der Konflikt geht für uns heute nicht so sehr vom Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit aus, sondern vielmehr vom Bruch dieses Verhältnisses: von der Nicht-Arbeit und vom Nicht-Kapital. Die "Multitude" und ihre Kraft und Möglichkeit außerhalb und jenseits der Mechanismen der kapitalistischen Reproduktion zu existieren, muss auf diesem Terrain, mit diesem "ontologischen" Horizont, hergestellt werden. Tatsächlich hat die "Nicht-Arbeit" nicht nur eine bloß negative Charakteristik - die der Verweigerung gegenüber der konstituierten Ordnung und der Ausbeutung - sie kann auch positive Konnotationen annehmen, wie etwa in der Betonung des Gemeinsamen kooperativer Tätigkeiten und als "andere" Dimension, die nicht am Markt orientiert ist, sondern auf dem Gebrauchswert und der Entwicklung der gesellschaftlichen Kooperation beruht.


Welche Rolle spielt dabei die Kommunikationsfähigkeit?
Federico: Die Spuren der zukünftigen und die Alternativen zur existierenden Gesellschaft müssen sich im Herzen der alten Gesellschaft abzeichnen, auch wenn dies nur auf widersprüchliche und nicht lineare Weise geht. Die Kraft der "Multitude" kann und muss sich in konstituierende Macht verwandeln, in demokratische Radikalität, in Zerstörung jeder konstituierten Macht, in Öffnung und Möglichkeit der Veränderung. Nach dem zapatistischen Marsch nach Mexiko Stadt haben wir aufmerksam die enge Beziehung zwischen dem Herbeiführen des Konflikts und dem Bemühen um breitere Übereinstimmung, d.h. gesellschaftliche Zustimmung, analysiert. Der Konflikt ist eine Notwendigkeit, aber die Übereinstimmung ist ein Bedürfnis und sich mit Sprache und Ausdruck zu beschäftigen absolut notwendig. Wir haben den Sinn der Einführung einer "neuen Sprache", neuer Ausdrucksweisen, von Seiten der ZapatistInnen häufig unterschätzt. Wir haben uns - wenn überhaupt - mit der enormen Bedeutung der politischen und revolutionären Verwendung von Symbolen und Worten beschäftigt, mit der Bezugnahme auf neue Horizonte, der Anstrengung, besondere Erfahrung vermitteln zu können. Die ständige Suche nach der "Sprache", verstanden auch als ein soziales Handeln, die sowohl Suche nach dem Konflikt ist als auch nach der Übereinstimmung, die er hervorbringt, hängt mit dem Herrschaftsmechanismus zusammen, dem wir in dieser Ära unterworfen sind. Eine nicht nur materielle sondern auch kognitive Beherrschung, ein Kommando über Meinungen, Gefühle, Informationen. Um die "Multitudes" zu bewegen, um eine Vorwegnahme einer anderen Gesellschaft herzustellen, braucht es nicht nur "Bewusstsein", sondern auch "Enthüllung". Um dem Kommando über Meinungen, Resultat der Herstellung von Meinungen, Überzeugungen, Informationen, Nach- richten, Eindrücke, entgegenzuwirken, muss man andere erzeugen. Ohne dies bleibt der Konflikt ein Kampf ohne Resultat, ohne Waffen, unnütz, verzweifelt - er wird von denen dirigiert, die das Kommando haben. Ganz banal ausgedrückt: Wenn wir nach einer Aktion oder einem Kampf weniger sind als vorher, dann denken wir besser darüber nach. Wenn die ZapatistInnen die geblieben wären, die sie beim ersten Aufstand von 1994 waren, dann hätten sie inne gehalten. Es ist kein Zufall, dass die jüngste Erfahrung des Marsches "der neue Aufstand" genannt wird. Dabei ist es überflüssig, die politischen Aktionen der EZLN als "Armee, die entsteht um sich aufzulösen" nachzuzeichnen oder Analysen vor zu nehmen, die die Schlussfolgerung treffen, "die Worte sind die Waffen". Es ist klar, dass der bewaffnete Aufstand vom ersten Januar 1994 nie eine militärische Lösung in der Auseinandersetzung mit der Regierung vorsah. Und vielleicht gibt es die Zapatisten gerade deshalb noch und vielleicht sind sie gerade deshalb stärker als vorher. Es ist aber ebenso Fakt, dass sie, um existieren zu können, um sprechen zu können, sich zunächst bewaffnet erheben, die eigenen Gemeinden verteidigen und sich auf eine Auseinandersetzung vorbereiten mussten. Es hätte niemals eine Rede von vermummten Indianern im Parlament gegeben ohne den Aufstand. Wer reden will, muss auch rebellieren.


Die "tute bianche" sprechen häufig vom "Körper", welche Rolle spielt der Körper in eurem Konzept?
Chiara: So wie in der Vergangenheit die Arbeiter mit ihren Arbeitswerkzeugen auf die Straße gingen (Schraubenschlüssel, Sichel, Hammer), gehen wir heute mit unseren Arbeitswerkzeugen auf die Straße: Körper und Gehirn, die so wertvoll sind, dass wir beschlossen haben, sie mit Helmen, Schildern, Schaumgummi, aufgeblasenen Schläuchen, Kork und Plexiglas zu schützen. Um die Ziele, die wir uns gesetzt haben, zu erreichen, nutzen wir auch aktive Mittel, also nicht nur Helme, sondern auch Katapulte, dekorierte Wägen und all das, was unsere Phantasie hervor bringt. Der geschützte Körper, auch kollektiv geschützt, schafft Frauen und Männer, die wieder zu Protagonisten des Konfliktes werden, da die Praxis einschließend ist und die Angst vor Verhaftungen und Verletzungen überwunden werden kann, die entschlossen sind, ihre Ziele zu erreichen. Es handelt sich nicht mehr nur um eine subjektive Aneignung des Körpers, es geht auch darum, die Dimension zu sehen, in der "machen" und "sein" nicht mehr voneinander getrennt sind, sondern in einem einzigen Mechanismus der Produktion von Subjektivität zusammenfließen. Es geht um die Dimension der Biopolitik, der Politik des Lebens, der Politik der Körper. In Via Corelli in Mailand waren die GenossInnen mit luftgefüllten Lastwagenschläuchen gepolstert, um zwischen die Körper der DemonstrantInnen und der Polizei ein Element zu bringen, das sowohl die Sicht, als auch den Kontakt blockiert, so dass der eigene politische Raum biopolitisch und disziplinatorisch definiert war. Biopolitik ist die Form von Politik, die aus dem Inneren des post-disziplinatorischen Paradigmas der Kontrolle die Möglichkeit eines kollektiven Handelns rekonstruiert. Die Gefahr dabei ist, sich in der Epoche zu irren und zum einzigen Ausdruck kollektiven Handelns zurück zu kehren, den wir zu kennen glauben: jenes vis-à-vis, die Gegenüberstellung von Massen, die so deutlich definiert ist, dass sie mittlerweile zu der Auseinandersetzungsform der Disziplin gehört. Die Gummireifen bedeuten hingegen den Übergang zu einer anderen Grammatik des Politischen … Wir stehen etwas Neuem gegenüber. Seattle, Protest gegen die WTO. Die Körper werden weggetragen. Die Materialität der Körper, ihr Gewicht und ihre störende Anwesenheit betreten die politische Bühne. Die Herrschaft hatte sich ihre Oberfläche angeeignet, aber heute entdeckt die biopolitische Subjektivität ihre Materialität, ihre Tiefe, das Fleisch wieder. Und während die Körper ab Seattle als "Blockade-" oder "Abfederungswerkzeug" benutzt wurden, verwandeln sie sich in Quebec, in Göteborg und in Genua zu Mitteln der Belagerung, der Besetzung. Vom Ziel der Blockade der Delegierten der Gipfel ist zur Invasion und Besetzung des Raums, in dem die Gipfel stattfinden, übergegangen worden. Der Körper kehrt als konkretes Symbol des zivilen Ungehorsams wieder und ist das Paradigma dieser Ära der Biomacht, der Kontrolle über das Leben selbst.

[1] Aus dem Französischen, steht für eine in sich verschiedenartige, nicht homogene Masse.