Brasiliens Wirtschaftswunder der 70er Jahre basierte auf der Repression gegen die Arbeitenden
Muster-Modernisierung verhärtet die soziale Lage
Jahrelang ist Brasilien als Muster kapitalistischer Modernisierungsstrategien gepriesen worden. Weltbank, Internationaler Währungsfonds (IWF) und unzählige Banken pumpten riesige Summen in das Land und feierten eine angeblich gelingende nachholende Entwicklung zum Industriestaat. Als dann vor wenigen Jahren auch noch die Militärdiktatur abdankte und Brasilien vermeintlich zur Demokratie wurde, schien das Bild perfekt. Nur Nachrichten über Morde an Straßenkindern kratzten hin und wieder am Image. Doch die Realität ist anders, nicht Batida, Samba und Bahia, sondern Korruption, Elend und Gewalt prägen den Alltag des Musterlandes.
Das gepriesene Entwicklungskonzept von IWF und Weltbank hat die Mehrheit der Bevölkerung vom Arbeitsmarkt verdrängt. Die Monatslöhne der meisten noch Beschäftigten reichen nicht mal für zwei Wochen. Demgegenüber steht eine Mittelschicht von höchstens 20 Prozent der Bevölkerung, deren Einkommen für einen Konsum westlicher Prägung ausreichen.
Um die Hintergründe des widersprüchlichen "Wirtschaftswunders" Brasilien zu erläutern, muß man etwas weiter ausholen. Sebastiaê Neto, 42 Jahre alt, Mitglied der Nationalen Leitung des Gewerkschaftsdachverbandes CUT (Central Unica de Trabalhadores) er vertritt über die in ihm organisierten Einzelgewerkschaften mehr als 14 Millionen brasilianische Arbeitnehmer, darunter nahezu 100 Prozent der Angestellten im öffentlichen Dienst verweist in diesem Zusammenhang vor allem darauf, daß in Brasilien zwischen 1922 und 1982 lediglich in einem Jahr, nämlich 1946, demokratische Zustände herrschten. Die Militärdiktaturen seitdem konnten mit ihrer Kontrolle über die Gesellschaft und der Repression gegen linke Organisationen eine Strukturanpassung vornehmen, die das "Wirtschaftswunder" der '70er Jahre hervorbrachte. In der Nachkriegszeit hatte Brasilien wirtschaftliche Wachstumsraten von mindestens 5 Prozent im Jahr.
Die Militärs ließen umfangreiche Investitionen tätigen, oft war an Kredite die Bedingung geknüpft, einen Teil in die Erweiterung der Infrastruktur zu investieren. "Dadurch ist Brasiliens Industrie heute eine der zehn größten der Welt. Aber wir hatten auch die längste Übergangszeit zu einer Demokratie, die es je gab. Der erste Demokratisierungsvorschlag der Diktatur kam 1975, und es dauerte bis 1989, ehe es die ersten Wahlen gab. Das erklärt mit, warum der hohe Industrialisierungsgrad und das soziale Elend nebeneinander stehen."
In den letzten drei Jahren wurden erneut umfangreiche Maßnahmen zur Strukturanpassung der Wirtschaft unternommen. Im Ergebnis dessen wuchs vergangenes Jahr der industrielle Sektor um 17 Prozent, doch es entstand nur ein Prozent neue Arbeitsplätze. Den jährlich etwa 100 000 neugeschaffenen Arbeitsplätzen stehen jeweils eineinhalb Millionen Brasilianer gegenüber, die das Alter von 18 Jahren erreichen und Arbeit suchen. Dies führt dazu, daß sogar laut offizieller Angaben über 40 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in den informellen Sektor, also in unterbezahlte und schlechte Arbeitsverhältnisse abgedrängt wurden. Nach Untersuchungen der CUT stehen in den ländlichen Gegenden sogar über 70 Prozent der Frauen ohne reguläre Arbeitsverhältnisse da.
Im informellen Sektor arbeiten auch viele Kinder, obwohl offiziell Arbeit von Kindern unter 14 Jahre verboten ist. Neto übt scharfe Kritik an der brasilianischen Regierung: "Das Erziehungsministerium gibt offiziell an, dass 83 Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren keine Schule besuchen.
Damit ist jedes Projekt für die Zukunft des Landes unmöglich." Ein anderes Beispiel für die auf kurzfristigen Unternehmer-Profit ausgerichtete Regierungspolitik: In Brasilien gibt es ein gesetzlich geregeltes Mindestgehalt. Dieses soll die Grundbedürfnisse Essen und Wohnung, nicht einmal Kleidung, einer dreiköpfigen Familie abdecken. Es wird alle vier Monate neu festgelegt. Das Mindestgehalt beläuft sich heute auf umgerechnet 80 US-Dollar im Monat. Bei 35 Prozent Inflation ist das Gehalt aber am Ende des Monats, wenn es ausgezahlt wird, nur noch etwa 55 US-Dollar wert, nach drei Monaten fast nichts mehr. Und 70 Prozent der Familien verdienen weniger als zwei Mindestgehälter im Monat.
Die Militärregierung führte alle paar Monate neue Wirtschaftspläne ein, erklärt Neto weiter, an deren Ende eigentlich immer nur Senkungen des Reallohnes standen. Unter Präsident Collor der inzwischen aufgrund von Korruptionsskandalen abdanken mußte wurden die Importbeschränkungen und die Importsubstitution aufgegeben, der brasilianische Markt wurde mit ausländischen Produkten überschwemmt. "Überlebe, wer kann" hieß das Motto. Die brasilianische Bourgeoisie ist aber eng mit den multinationalen Unternehmen verflochten und gar nicht imstande, eine gemeinsame Überlebensstrategie zu entwerfen. "Insgesamt", so der Gewerkschafter, "kann also die wirtschaftliche und politische Ausrichtung der Regierung die Situation nicht verbessern."