Interview mit Ana Elisa Osorio, Ministerin für Umwelt und Naturressourcen in Venezuela

Umweltrechte für alle

Der Ressourcenreichtum eines Landes birgt so manchen Sprengstoff. Das Erdölland Venezuela ist hierfür ein Paradebeispiel: Im Januar letzten Jahres machte das Land Schlagzeilen mit der Aussperrung der in der Erdölindustrie Beschäftigten. Im staatlichen Erdölkonzern PdVSA unternahmen höhere Angestellte Sabotageakte um die Regierung Chávez zu schwächen. Im folgenden Gespräch geht es jedoch weniger um die Machenschaften der rechten Opposition oder um internationale Begehrlichkeiten, sondern um die praktische Umsetzung einer Politik, die versucht, ökologische und soziale Standards in der Erdölförderung zu berücksichtigen.

Umweltpolitik in einem Erdölland, das klingt nicht einfach...

Wir verfügen noch über viele weitere natürliche nichtmineralische Reichtümer. Venezuela gehört zu den 17 so genannten „megadiversen“ Staaten der Erde und befindet sich hinsichtlich der Biodiversität weltweit an sechster Stelle. Wir sind Teil des Amazonas-Abkommens. Unsere Regierung und Präsident Chávez sind sich der großen Bedeutung unserer Wälder und Gewässer bewusst.
Erdölförderung hat aber immer Folgen für die Umwelt. In den vergangenen Jahren konnte die Belastung zwar mit fortschreitender Modernisierung und Verbesserung der Technologie gesenkt werden, aber sie ist nicht verschwunden. Wir haben aufgrund des Erdöls schwerwiegende Umweltdefizite, ein Beispiel dafür ist der Maracaibosee. Er könnte das wichtigste Süßwasserreservoir Südamerikas sein, aber dafür ist eine umfassende Rettungsaktion notwendig. Wir haben bereits mit der Klärung der Abwässer, die in den See fließen, begonnen. Die Defizite in der Hinsicht stammen teilweise noch aus Zeiten vor der Nationalisierung der Erdölindustrie 1976. Damals wurden die transnationalen Konzerne für den bereits angerichteten Schaden nicht zur Verantwortung gezogen. Sie haben uns einfach die Konsequenzen ihres Handelns überlassen.

Wie wird dem heute begegnet?


Heute ist das Umweltministerium zuständig für die Vergabe der Fördergenehmigungen. In Venezuela findet keine Probebohrung und keine Förderung statt, wenn nicht vorher eine Studie über Umwelteinflüsse durchgeführt wurde. Die Erdölindustrie muss dabei dem Ministerium nachweisen, dass das, was sie vorhat, vom Standpunkt der Umwelt her kaum Folgen haben wird. Wenn irgendein Unfall oder Problem auftaucht, muss die Industrie die völlige Verantwortung für die Wiedergutmachung übernehmen.

Und werden die Richtlinien auch befolgt und überprüft? Papier ist ja geduldig...

Doch, das geschieht. Unsere Verfassung enthält sogar ein Kapitel mit „Umweltrechten“, die als Rechte aller VenezolanerInnen betrachtet werden. Es gibt die Verpflichtung, die „Umwelt für weitere Generationen zu erhalten“. Die Studien zur Umweltverträglichkeit haben faktisch Verfassungsrang und sind auch für alle Industrien verpflichtend. Die Richtlinien für die Studien werden vom Umweltminis¬terium fest gelegt. Für uns ist die Garantie wichtig, dass kein Schaden an Flora und Fauna, den Gewässern usw. entsteht, der nicht wieder gut zu machen ist. Dabei geht es nicht nur um den Umweltschaden, sondern auch um soziokulturelle Schäden. So muss im Falle von Probebohrungen oder der Förderung von Mineralien – Erdöl mit eingeschlossen – in Indígenagebieten eine soziokulturelle Verträglichkeitsstudie durchgeführt und die indigene Bevölkerung zu dem Vorhaben befragt werden, sonst kann es nicht durchgeführt werden. Und aus den Einnahmen müssen die Bedürfnisse der indigenen Gemeinden erfüllt werden.
Die Verfahrensweise der Befragung ist ziemlich neu und noch nicht gänzlich umgesetzt. Denn dazu müssen die indigenen Territorien erst bestimmt werden. Wir vom Umweltministerium sind auch für die Demarkation der indigenen Territorien verantwortlich und so, wie wir in der Demarkation fortschreiten, wird auch die Verordnung der Befragung nach und nach umgesetzt werden. Das legt das Demarkationsgesetz fest, das von der aktuellen Regierung verabschiedet wurde.

Gibt es denn Fälle, in denen das Umweltministerium ein Projekt zurück gewiesen hat?

Es gibt z.B. mehrere Vorhaben für den Bau von Anlegemolen für Kreuzfahrtschiffe, die nicht starten konnten, weil die Bauunternehmer bisher nicht nachweisen konnten, dass sich ihr Vorhaben nicht nachteilig auf die Naturressourcen und die Umwelt auswirkt.

Aber es gibt ja auch widersprüchliche Fälle wie z.B. das Projekt, in dessen Rahmen Stromleitungen nach Brasilien durch indigene Territorien verlegt wurden. Wie verlief der Konflikt?

Das war ein komplexer Fall. Das Abkommen mit Brasilien wurde noch unter der alten Verfassung unterzeichnet. Damals sah die Verfassung keine Indígenarechte vor, kein Demarkationsgesetz und weder die Verpflichtung zu einer Studie über soziokulturelle Auswirkungen noch die Anerkennung der indigenen Territorien. Als ich das Ministerinnenamt übernahm, befand sich der Konflikt gerade auf dem Höhepunkt. Er wurde auch von den Medien aufgebauscht. Wir haben eine Reihe Anhörungen mit den Indígenas organisiert. Ich kam zu dem Schluss, dass viele Gemeinden manipuliert worden waren. So wurde ihnen erzählt, außer den Stromleitungen würden noch verschiedene andere Entwicklungen erfolgen, die den indigenen Territorien ein Ende bereiten würden, wie z.B. Fünf-Sterne-Hotels, Eisenbahnverbindungen usw. Aber das war alles nie vorgesehen. Es ging um die Verpflichtung gegenüber Brasilien, Stromleitungen zu legen. Die Strommasten waren überhaupt nicht an irgendein weiteres Projekt oder gar Industrialisierungsprojekt für den Süden des Landes gekoppelt.
Wir haben die Route schließlich mehrfach geändert, um die Auswirkungen auf den Nationalpark zu reduzieren. Der Teil des Nationalparks, den die Strommasten durchqueren, ist minimal. Die UNESCO, die den Nationalpark zum Modellpark der Menschheit erklärt hat, stellte fest, dass der relevante Teil des Parks davon nicht berührt wird. Auch die Art der Masten wurde geändert um die optischen Auswirkungen zu verringern und die Morichales, Palmwälder von bis zu 25 Meter Höhe, nicht in Mitleidenschaft zu ziehen.
Letztlich haben wir mit den indigenen Gemeinden ein Abkommen unterzeichnet: Alles, was beim Bau in Mitleidenschaft gezogen wird, soll wieder in Ordnung gebracht werden. Wir haben über die „controlaría social“, eine Art gesellschaftliche Überprüfung, dafür gesorgt, dass die Firmen alle Auflagen einhielten, und zudem durchgesetzt, dass die indigenen Gemeinden bezahlt wurden, um die Umweltschäden zu beseitigen.
Der Konflikt wurde also überwunden. Im Augenblick wird die Demarkation der indigenen Territorien durchgeführt.

Was sind indigene Territorien demnach?


Laut Verfassung die historisch genutzten Ländereien und Gewässer. Aktuell läuft eine Debatte darüber, was „indigenes Territorium“ bedeutet, d.h. nicht, dass das Land nicht angerührt werden darf. Der Staat kann im Sinne des Gemeinwohls durchaus Projekte auf indigenem Territorium durchführen, aber nur dann – und das schreibt die Verfassung vor – wenn kein Schaden verursacht wird, der die indigene Gemeinschaft in Mitleidenschaft zieht. Das betrifft Umweltzerstörungen, aber auch kulturelle Veränderungen. Eine weitere Bedingung ist, dass die indigenen Gemeinden von dem Projekt profitieren.
In Venezuela gibt es 33 indigene Gruppen, insgesamt etwa 500 000 Menschen. Ein guter Teil von ihnen lebt in Nationalparks. Das hat sich als sehr vorteilhaft heraus gestellt, denn die Indígenas sehen ihr Lebensumfeld geschützter, da es ein Park ist, und zugleich schützen die Indígenas die Natur.

Wie sieht denn die Beteiligung der Indígenas aus?
Wir handhaben es bereits seit zwei Jahren so, dass die Indígenas, wenn es ihre Gebiete betrifft, die Hauptpersonen bei der Erstellung der Raumordnungspläne sind. Früher wurden sie hingegen ignoriert.
Wir beginnen jetzt mit einem neuen Plan im Naturschutzgebiet „Caura“, das mit sechs Millionen Hektar eines der größten und wichtigsten ist. Dort leben verschiedene indigene Gruppen. Der Raumnutzungsplan wird gemeinsam mit den Indígenas erarbeitet, auch um festzulegen, wie sie an der Verwaltung des Naturreservats beteiligt werden. Bei dem Reservat handelt es sich um eines der bedeutendsten Trinkwasserreservoirs Venezuelas. Wir haben auch keinerlei Entwicklungsplan für die Region.

Also kein Ausverkauf des Amazonas?

Nein auf keinen Fall! Unsere Regierung geht davon aus, dass weite Gebiete im Süden des Landes – Bolívar, das Amazonasgebiet usw. – Gebiete sind, die erhalten werden müssen. Die Biodiversität muss erhalten werden, sie kann in Zukunft auch bedeutend sein für die Medizin und Ernährung.
Wir sind auch dabei unsere Sichtweise von der Nutzung der Wälder zu verändern. Die Konzessionen wurden bisher für große Waldflächen an große Holzunternehmen vergeben. Heute ziehen wir es vor mehr gemeinschaftliche Verträge mit lokalen Kooperativen abzuschließen. Außerdem ist vorgesehen, dass jedes Holzschlaggebiet auch wieder aufgeforstet werden muss. Dafür wird der Wald in Parzellen aufgeteilt und es beginnt ein Rotationsmodell. Jedes Jahr kann nur eine Parzelle genutzt und eine andere muss aufgeforstet werden. In der Vergangenheit wurde das nicht so gehandhabt und so haben wir völlig ausgeplünderte und abgeholzte Wälder.

Können Sie ein erfolgreiches Projekt venezolanischer Umweltpolitik nennen?

Ja, z.B. im Bereich der Abwässerklärung. Wir haben den Prozess vorangehender Regierungen, Klärwerke zu bauen, intensiviert. Früher wurden allerdings viele Bauprojekte nie fertig gestellt. Die größten Geschäfte werden immer zu Beginn eines Projekts getätigt, wenn Erde bewegt und Maschinen gekauft werden müssen. Wir haben allerhand bewegte Erde und gekauftes Equipment vorgefunden, als ich das Ministerium übernommen habe. Aber keines der Projekte war fertig gestellt worden.
Wir haben in den vergangenen drei Jahren 15 Klärwerke eingeweiht und sind gerade dabei die Sanierung des Maracaibosees in Angriff zu nehmen. Als wir die Regierung übernommen haben, gingen alle Abwässer ungeklärt in den See, heute werden 30 Prozent geklärt, Mitte 2004 werden wir mit zwei neuen Klärwerken bei 60 Prozent angelangt sein. Das gleiche geschieht mit dem Valenciasee. Wir haben in drei Jahren den Anteil geklärter Abwässer auf 66 Prozent und den Anteil der Trinkwasserzugänge von 87 Prozent auf 92 Prozent steigern können. Trotz der politischen und wirtschaftlichen Situation des Landes ist die Umweltpolitik in keinem Moment vernachlässigt worden. u