„Die endlich entdeckte politische Form“. Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute - Axel Weipert - Buchbesprechungen
Auf doppelte Weise zeigt der vorliegende Sammelbd. sehr  nachdrücklich, wie  international verbreitet das Phänomen der  Arbeiterselbstverwaltung war und ist. Denn die Autoren der 22 Aufsätze,  allesamt ausgewiesene Experten und meist auch selbst politisch aktiv,  kommen von verschiedenen Kontinenten und decken zugleich ein weites Feld  historischer Forschung ab. Den Auftakt bilden mehrere eher theoretisch  angelegte Beiträge. Die im Anschluss untersuchten konkreten Beispiele  erstrecken
sich von der revolutionären Periode am Ende des Ersten  Weltkriegs in Russland, Deutschland und Italien über die  staatssozialistischen Länder Polen und Jugoslawien, die postkolonialen  Kämpfe in Indonesien und Algerien bis hin zu aktuelleren Fällen  vornehmlich in Lateinamerika. Angesichts dieser Fülle kann es hier nicht  darum gehen, jeden einzelnen Beitrag zu behandeln. Vielmehr sollen lediglich einige übergreifende Charakteristika herausgearbeitet werden.
Generell  wird bei der Lektüre deutlich: Es handelt sich um eine weltweit  verbreitete Form politischer Aktivität, die seit über hundert Jahren bis  heute in hochentwickelten Gesellschaften ebenso anzutreffen ist wie in  Entwicklungs- und Schwellenländern. So
unterschiedlich die jeweiligen  Kontexte sind, so variantenreich gestalten sich auch die konkreten  Umsetzungen von Arbeiterselbstverwaltung. Die Besetzung von British  Columbias Telephone in Kanada 1981 (S.424-444) betraf beispielsweise nur  ein einzelnes Unternehmen, während anderswo ganze Branchen, Regionen  oder Produktionsketten involviert waren. Die Einflussmöglichkeiten  variierten sehr stark
von Mitbestimmung bezüglich einzelner Fragen  der Lohngestaltung und der Arbeitsbedingungen über Produk tionskontrolle  bis hin zur vollständigen Übernahme und Leitung der Betriebe.
Besonders  interessant ist der Vergleich der Ziele der Akteure. Denn oft waren die  Beschäftigten keineswegs revolutionär eingestellt, häufig ging und geht  es um bescheidenere defensive Ziele. Die Arbeiter indischer  Teeplantagen wollten 1974 vor allem ihre durch Konkurs bedrohten  Arbeitsplätze sichern, genauso wie die  Beschäftigten der  brasilianischen Zuckerindustrie in den 80er- und 90er-Jahren oder der  schottischen Werften in den 70ern. Selbst für die Fabrikkomitees in der  Revolution in Russland bestand eine der Hauptaufgaben darin, die maroden  Betriebe  funktionsfähig zu halten. Anders ausgerichtet waren die  revolutionären Obleute in Deutschland während und nach dem Ersten  Weltkrieg, die Protagonisten der portugiesischen Nelkenrevolution 1974  oder aktuelle Bestrebungen in Venezuela. Hier
stand und steht die umfassende, offensive Transformation eines fragwürdig
gewordenen  Gesellschaftssystems auf der Tagesordnung. In vielen Beiträgen wird  deutlich, dass Ansätze zu einer Arbeiterselbstverwaltung oft dann  auftreten, wenn die tradierte innerbetriebliche oder gesellschaftliche  Ordnung in eine Krise gerät und dadurch an Legitimität verliert.
Der  Interaktion mit anderen Kräften kam durchgängig eine wichtige Rolle zu.  Während die Eigentümer der betroffenen Unternehmen verständlicherweise  hartnäckigen Widerstand leisteten, muss das Agieren von Gewerkschaften,  Parteien und Staat differenzierter betrachtet werden. Deren Haltung hing  von den jeweiligen Umständen ab und konnte sowohl fördernd – etwa  teilweise in Venezuela, Jugoslawien oder Spanien – als auch distanziert  und mitunter offen feindlich ausfallen. Das vielleicht
wichtigste  Hindernis der Räte waren aber meist bürokratisch-hierarchische  Strukturen generell. Sie standen und stehen in ihrer Auffassung von  Verwaltung und Politik basisdemokratischer Selbstorganisation diametral  entgegen. Und das ganz  unabhängig davon, ob sie nun gewerkschaftlicher,  wirtschaftlicher oder politischer Natur sind. Bestand die  Selbstverwaltung über längere Zeit, entwickelte sie sogar
selbst  gewisse bürokratische Strukturen und lähmte so die unabdingbare  Voraussetzung ihrer Funktionalität, die permanente Einbindung der Basis  in
Entscheidungsfindungsprozesse. Das ging und geht oft Hand in Hand  mit einer schrittweisen Reintegration in kapitalistische Marktprozesse  und deren Erfordernisse.
Diese Gefahren schildert u. a. Marina  Kabat in ihrer Analyse der seit 2001 besetzten argentinischen Betriebe  sehr überzeugend. Für viele der in dem Bd. beschriebenen Versuche gilt,  dass sie immer dann scheiterten, wenn sie nicht mehr ausreichend
von einer breiten und aktiven Bewegung inner- und außerhalb der Unternehmen
getragen  wurden. Die Erfolge waren unterschiedlich, aber zumindest manchmal gelang es den Beschäftigten, erstaunlich gut und effizient zu  wirtschaften. Zu beachten ist dabei, dass Erfolg hier nicht nur an  ökonomischen Kennzahlen zu messen ist. Vielfach machen die zitierten  Aussagen von Beteiligten deutlich, dass es insbesondere die veränderten  Arbeits- und Entscheidungsprozesse, ein gesteigertes Selbstwertgefühl,  Solidarität und andere immaterielle Verbesserungen waren, die
für sie den Kern der Selbstverwaltung ausmachten.
Insgesamt  ist es den Hrsg. gelungen, eine beeindruckende Bandbreite von Themen  der Arbeiterselbstverwaltung in inhaltlich hoher Qualität zu behandeln.  Einzig ein gründlicheres Lektorat wäre angebracht gewesen, denn die  zahlreichen kleinen Fehler stören bisweilen arg den Lesefluss. Wie die  Hrsg. selbst einräumen, fehlen in dem
Bd. viele wichtige Beispiele. Ein zweiter Bd. ist jedoch bereits angekündigt und wäre absolut wünschenswert.
























