Präsidentschaftswahlen in Venezuela und die Zukunft des „Sozialismus des XXI. Jahrhunderts“ ohne Chávez

Der Tod des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez am 5. März diesen Jahres warf international die Frage nach der Zukunft des venezolanischen Transformationsprozesses auf. Die Frage betrifft nicht nur Venezuela, sondern ganz Lateinamerika und die Karibik und wirkt auch darüber hinaus. Der kontinentale Integrationsprozess der vergangenen Jahre in Lateinamerika geht vor allem auf das Agieren von Venezuela und Hugo Chávez zurück. Auf seine Initiative hin bildete sich die Front zur Ablehnung der US-Initiative des gesamtamerikanischen Freihandelsabkommens Alca. Venezuela trat aus der Andengemeinschaft aus und dem Mercosur bei, es gründete die auf Kooperation und Solidarität gestützte Allianz Alba, und wirkte initiativ für die Gründung der Celac und der Unasur, beides Bündnisse aller amerikanischen Staaten außer den USA und Kanada. Während diverse Krisen (z.B. Bombardierung Ecuadors durch Kolumbien) so innerhalb Lateinamerikas gelöst werden konnten, verliert die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) rapide an Bedeutung. Die gesamte Hemisphäre hat eine deutliche Neuordnung erfahren. Vor allem international kamen nach Chavez’ Tod Zweifel auf, inwiefern ein Nachfolger überhaupt eine Mehrheit der Bevölkerung in Wahlen hinter sich bringen könne und wie eng die Politik Venezuelas intern wie extern an seine Person und Popularität geknüpft sei.

Am 14. April wurde Nicolás Maduro, ehemaliger Außenminister Chávez’ und von Chávez ausgesuchter Nachfolger zum Präsidenten Venezuelas gewählt. Das Ergebnis fiel allerdings unerwartet knapp aus. Nach Auszählung von 99,17 Prozent der abgegebenen Stimmen bekam Maduro 50,75 Prozent der Stimmen (7.559.349) und der Oppositionskandidat Capriles 48,98 Prozent der Stimmen (7.296.876). Ein Unterschied von 1,77 Prozent oder 262.473 Stimmen. Die Wahlbeteiligung lag mit 79,8 Prozent etwas niedriger als die knapp 81 Prozent Wahlbeteiligung vom Oktober 2012 (214.552 WählerInnen weniger), als Capriles gegen Chávez antrat und mit knapp 44 Prozent der Stimmen gegen 55 Prozent haushoch verlor. Capriles gelang es für die Wahlen am Sonntag, seine Wählerschaft von 6,47 Millionen auf 7,27 Millionen zu steigern. Maduro hingegen bekam etwas mehr als 7,5 Millionen Stimmen, eine halbe Million weniger als Chávez. Doch auch wenn der Sieg von Maduro viel weniger deutlich ausgefallen ist, als es alle Umfragen vorausgesagt und auch die meisten Analysten es vermutet haben, ist es ein bedeutender Sieg gegen Destabilisierungsversuche jeder Art und gegen eine globale Medienkampagne. Es ist deutlich geworden, dass der Chavismus ein solides und mehrheitsfähiges politisches Projekt ist und keine populistische Ein-Mann-Show, wie zahlreiche, vor allem deutsche Medien und AnalystInnen immer wieder behaupten. Dennoch gilt es sorgfältig zu analysieren wie Capriles seine Wählerbasis so stark ausweiten konnte.

Zunächst gilt es aber den Sieg von Maduro und das Votum der venezolanischen Beölkerung zu verteidigen. Auch knapp gewonnen ist gewonnen. So sind die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie. Auch ein knapper Sieg ist ein Sieg. Dennoch erkennt die international als demokratisch gefeierte Opposition genau diese Spielregeln nicht an. Der unterlegene Kandidat Capriles erklärte, das Oppositionsbündnis werde den Wahlsieg von Maduro nicht anerkennen, so lange nicht alle Stimmen manuell neu ausgezählt wurden. Dabei waren doch in allen Wahllokalen des Landes WahlbeobachterInnen des Oppositionsbündnisses MUD und der PSUV anwesend. Darüber hinaus waren einige Hundert internationale WahlbeobachterInnen sowie eine Mission der UNASUR und eine Delegation der Interamerikanischen Union von Wahlinstitutionen (Uniore) im Land. Die UNASUR bestätigte ebenso wie andere WahlbeobachterInnen den transparenten, korrekten und zivilen Verlauf der Wahlen und rief alle dazu auf das Ergebnis anzuerkennen. Und die Uniore bestätigte das venezolanische Wahlsystem als „transparent, effizient und sicher“.

Die Nicht-Anerkennung des Wahlsieges von Maduro durch die Opposition hat allerdings nichts mit dem tatsächlichen Wahlvorgang zu tun, sondern entspricht einer bereits im Vorfeld entworfenen und international abgestimmten Strategie. So hatten sich weder Capriles noch das Oppositionsbündnis im Vorfeld darauf festlegen wollen, das Ergebnis der Wahlen anzuerkennen, so wie Nicolás Maduro es getan hat. Im Vorfeld der Wahl häuften sich die Hinweise darauf, dass die Opposition den Wahlsieg nicht anerkennen würde und Aktionen und Provokationen auf der Straße vorbereiten würde. In den Wochen vor den Wahlen hatte es zahlreiche Sabotageakte in der Stromversorgung gegeben und mehrere Personen wurden beim Versuch, die Stromversorgung zu sabotieren festgenommen. Es wurden Waffenlager ausgehoben und bewaffnete Paramilitärs dingfest gemacht. Zudem sah sich Maduro einer massiven Kampagne der Privatmedien ausgesetzt, die in Venezuela mehr als 85Prozent der Zuschauerzahlen auf sich vereinigen. Obwohl Nicolás Maduro in dem Monat vor den Wahlen auch amtierender Präsident war, kam er in den Medien um ein Vielfaches weniger vor als Capriles. Am extremsten verhielt sich der Nachrichtensender Globovisión (venezolanischer Partner von CNN). Dort war Maduro nicht einmal ein Zehntel der Zeit von Capriles auf dem Bildschirmzusehen.

Am Morgen des Wahltags gelangte eine Rundmail der oppositionellen Jugendorganisation „Aktive Jugend Einiges Venezuela“ (JAVU) in die Medien. In der e-mail erklärte die JAVU ihren Anhängern den Destabilisierungsplan in Folge des zu erwartenden Sieges von Nicolás Maduro: Nicht-Anerkennung des Wahlsieges von Maduro; Straßenblockaden (mit der Aufzählung strategischer Punkte); Besetzung von Regierungsgebäuden; Ausrufung einer Parallelregierung. Der Plan zähle auf die Unterstützung großer Medien und angeblich auch von Teilen der Armee. Weitere ähnliche Pläne gerieten im Laufe des Tages an die Öffentlichkeit. Am Wahltag wurden diverse Webseiten und Twitter-Accounts der Regierung oder von Regierungsanhängern gehackt, darunter die Twitter-Accounts von Nicolás Maduro und der PSUV. Mehr als 45.000 Hacker-Angriffe auf die Homepage des Nationalen Wahlrates (CNE) und das staatliche Telekommunikations-Unternehmen /CANTV/ wurden abgewehrt. An diversen Orten griffen Oppositionsanhänger bekannte Chavistas an, ein Kamermann des Stadtteil-TV-Senders BarrioTV wurde von Oppositionsanhängern angeschossen und verletzt, und auch auf MitarbeiterInnen von Catia TV wurde von Oppositionellengeschossen. Insgesamt forderten die Angriffe der Opposition auf Chávez-AnhängerInnen acht Tote, allesamt Chávez-AnhängerInnen, die zumeist in gezielten Aktionen erschossen, totgeschlagen oder lebendig verbrannt wurden. Die Angriffe richteten sich zum größten Teil gegen Ärztehäuser des unter Cavez neu aufgebauten kostenlosen Gesundheitssystems in dem zahlreiche kubanische Ärzte arbeiten. Darüber hinaus wurden auch Parteihäuser der PSUV, staatlich subventionierte Mercal-Supermärkte und Privatwohnungen bekannter Chavistas angegriffen und teilweise in Brand gesteckt.

Am Montag nach der Wahl gingen die Oppositionsmobilisierungen gleich los. Capriles rief zu täglichen Protesten auf und die Oppositionsstrategie wurde sofort international sekundiert. Während die lateinamerikanischen Staaten, China, Russland, Südafrika und zahlreiche weitere Länder Maduro gratulierten und das Ergebnis anerkannten, unterstützte Spanien sofort die Forderung nach einer Neuauszählung der Stimmen per Hand. Die gleiche Ansicht vertrat auch der abgehalfterte notorische Linkenhasser José Miguel Insulza, Generalsekretär der zunehmend bedeutungslosen OAS (Insulza machte dann einen Tag später schon wieder einen Rückzieher). Die USA setzten noch eins drauf und forderten, Maduro dürften nicht im Amt vereidigt werden, bevor nicht die Ergebnisse der Neuauszählung vorlägen. Die Ironie der Geschichte: Ausgerechnet in den USA gewann George Bush die Wahlen 2000 sogar mit 0,5Prozent weniger Stimmen als sein Gegenkandidat Gore. Damals wurden trotz massiver Hinweise auf Unregelmäßigkeiten nicht alle Stimmen per Hand neu ausgezählt und kein europäisches oder anderes Land erhob diese Forderung. Dies, obwohl weder die Transparenz noch der korrekte Verlauf der Wahl in den USA bestätigt werden konnte, da die USA keine internationale Wahlbeobachtung zulassen.

Die internationale Strategie erinnert fatal an die Wahlen in Nicaragua 1984. Damals wurde der Sieg der Sandinisten von der Opposition nicht anerkannt, was die USA schließlich zum Anlass nahmen, Nicaragua zu isolieren, ein umfangreiches Embargo zu verhängen und die Contra in ihrem Krieg gegen Nicaraguas legitime Revolutionsregierung zu unterstützen. Die Situation heute ist zwar grundlegend anders, Venezuela ist keineswegs international isoliert, genießt die Unterstützung der meisten Staaten Lateinamerikas und der Karibik und befindet sich in einer ökonomisch sehr guten Situation, doch die Ansprüche der venezolanischen Opposition sowie der sie unterstützenden, sich als Demokratien bezeichnenden Staaten USA und der EU scheinen auf die gleiche Karte setzen zu wollen. So erklärte die EU in zweifelhafter Weise, es sei notwendig, dass der Wahlausgang von allen Parteien in Venezuela anerkannt wird. In Venezuela wurden die Vorgänge rund um die Wahl von Basisorganisationen als „Putsch in Zeitlupe“ gewertet. Und auch die Regierung sprach ab Montag davon, es sein ein Putsch vereitelt worden.

Angesichts des internationalen Drucks kann nicht oft genug klargestellt werden: Maduro ist der Sieger. Damit hat auch ein politisches Projekt erneut an den Urnen gewonnen das sich fundamental von dem der Opposition unterscheidet. Daher sind alle Rufe, die Opposition stärker zu berücksichtigen, verfehlt. Es kann nicht mehr Souveränität und lateineramerikanische Integration und gleichzeitig Privatisierung des Erdölsektors und Bindung an die USA geben. Und der Versuch des Aufbaus eines sozialistischen Gesellschaftsmodells ist sicher nicht mit einer neoliberalen Wirtschaft- und Sozialpolitik zu kombinieren.

Maduro hat das Wahlprogramm von Chávez für die Regierungsperiode 2013-2019 übernommen, das den Ausbau der Partizipationsmechanismen und ein Fortschreiten des Umbaus Venezuelas zu einer sozialistischen Gesellschaft als Ziele vorgibt. Im Programm wird dabei auch deutlich festgehalten: „Wir sollten uns nicht selbst betrügen: Die nach wie vor dominante sozio-ökonomische Formation in Venezuela ist kapitalistischen und rentenökonomischen Charakters“. Um weiter in Richtung Sozialismus fortzuschreiten sei es notwendig im Aufbau von kommunalen Räten, Kommunen und kommunalen Städten weiterzukommen, ebenso wie „in der Umwandlung der grundlegenden und der strategischen Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum“. Maduro rief am Wahlabend nach Bekanntgabe des Ergebnisses vor Tausenden AnhängerInnen vor dem Präsidentenpalast dazu auf, wachsam zu sein und nicht auf Provokationen hereinzufallen. Er bekräftigte, was er bereits während des Wahlkampfes versprochen hatte: „Kein Pakt mit der Bourgeoisie, sondern Diskussion mit den Arbeitern und den Armenstadteilen“. Er versprach eine Fortsetzung und Vertiefung des Transformationsprozesses und forderte die Bevölkerung zum Feiern auf.

Warum gewann Maduro trotz alledem mit „nur“ 1,7 Prozent Unterschied zu Capriles? Jenseits einer genaueren Analyse der Ergebnisse, die nicht ohne genauere Daten vorgenommen werden kann, spielen sicher eine Vielzahl von Gründen eine Rolle. Maduro ist nicht Chávez und es ist ein schwieriges Erbe, das er antreten muss. Angesichts der Einzigartigkeit von Chávez und seiner zentralen Rolle im „bolivarianischen Prozess“ ist es schon ein Verdienst, der Maduro hoch anzurechnen ist, dass es ihm überhaupt gelang, die Wahlen zu gewinnen. Grundsätzlich ist aber auch zu fragen, ob die Erwartungen nicht zu hoch gesetzt wurden. Dazu trugen vor allem die Wahlumfragen bei, die allesamt einen Vorsprung für Maduro zwischen acht und 16 Prozent prognostizierten. Im Nachhinein fällt auf, wie vor allem die oppositionell orientierten Umfrageinstitute höhere Ergebnisse für Maduro voraussagten. Es liegt nahe, sich zu fragen, ob dies nicht mit Absicht geschah, um das Gefühl einen sicheren haushohen Sieges unter potenziellen Maduro-WählerInnen zu stärken und so Triumphalismus und die Nicht-Teilnahme an den Wahlen zu fördern.

Maduro verkörperte bis zum Tod von Chávez auch stets eine bestimmte Strömung des Chavismus, eine aus den Gewerkschaften stammende pragmatisch und institutionell orientierte Ausrichtung. Und auch wenn Maduro, seinen Aussagen und seinem Vorgehen nach Aufstellung zum Präsidentschaftskandidaten folgend verstanden hat, dass er nun eine andere, übergeordnete Rolle so wie Chávez spielen muss, sind die Differenzen sicher nicht von allen vergessen worden. So fällt z.B. auf das Capriles im Bundesstaat Bolívar, wo die meisten Basisindustrien Venezuelas ihren Sitz haben, mit 52 Prozent der Stimmen gewonnen hat. Die Opposition gewinnt damit erstmals in Bolívar, wo der Gewerkschaftsdachverband Maduros, die Sozialistische Bolivarianische Arbeiterkraft (FSBT) eine sehr unrühmliche Rolle bei der Verhinderung der Einführung von Arbeiterkontrolle spielte und spielt. Und schließlich besteht in der Bevölkerung Unzufriedenheit mit der weit verbreiteten Korruption, der Ineffizienz zahlreicher Institutionen sowie der zunehmenden Bürokratisierung.

Wirtschaftlich steht Venezuela sehr gut da. Im Gegensatz zu den auch in der deutschen Presse ständig wiederholten Behauptungen über die vermeintliche Zerstörung der Wirtschaft durch die chavistische Politik. Das Wirtschaftswachstum lag 2011 bei 4,6 Prozent und 2012 bei 5,2 Prozent. Allerdings sorgen die umfassenden Spekulationen der Privatwirtschaft mit Lebensmitteln für hohe Preise und beabsichtigte Versorgungsengpässe. Und auch die mit knapp 20 Prozent zweithöchste Inflation Lateinamerikas (nach Argentinien) sorgt für Unmut (dabei ist aber auch anzumerken, dass die Inflation in den 1990er Jahren wesentlich höher lag).

Jenseits der Erklärungen, eine politische Kontinuität im Transformationsprozess aufrecht zu erhalten, wird Maduro es nicht leicht haben, den Chávez-Kurs fortzusetzen. Die Kräfte, die den Transformationsprozess unterstützen, reichen von Linkssozialisten mit Wohlfahrtsstaatsvision bis zu revolutionären Kräften jeder denkbaren linken Orientierung und antisystemischen Basisorganisationen. Chávez war es gelungen über den verschiedenen Tendenzen zu stehen , zugleich in einem dialektischen Verhältnis mit der Basis zu agieren und diese immer wieder zu stärken. So gelang es ihm, in der Verschiedenheit die für die Fortsetzung der gesellschaftlichen Transformation notwendige Einheit zu erhalten. Maduro hat diese zentrale Rolle und Führungsstärke nicht. Angesichts des knappen Ergebnisses werden nach Abklingen der Oppositionsproteste die verschiedenen Fraktionen des Chavismus jeweils mehr Einfluss einfordern. Und auch die Opposition wird versuchen Maduros vermeintlich schwache Ausgangsposition auszunutzen und den Druck auf die Regierung erhöhen. Zugleich wird die organisierte Basis des Prozesses stärker als bisher Druck entfalten. Die vorher stets vorhandene Hoffnung, Chávez möge zu ihren Gunsten intervenieren, kann nicht mehr bestehen. Die Diskussionen und Erklärungen aus den Basisorganisationen (die den Prozess unterstützen, aber zum größten Teil weitgehend autonom von Staat, Regierung und Parteien sind) klingen seit dem Tod von Chávez sehr kämpferisch und entschlossen.

Wenn Maduro eine solide Leitungsrolle aufbauen und konsolidieren will, dann wird er den Prozess radikalisieren müssen und so den Bewegungen einen Impuls geben. Den Inhalten seiner Reden nach ist sich Maduro klar bezüglich der Notwendigkeit einer Radikalisierung. Ein Zugehen auf die Opposition würde ihn sicher mehr Unterstützung kosten als er hinzugewinnen könnte.
   


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