Genua, das Buch

Pflichtlektüre für die Toscana-Fraktion und No-Globals


Dario Azzellini hat im Assoziation A-Verlag einen Genua-Reader herausgegeben. Ein wichtiges Buch für die politische Praxis.
«Genua – Italien, Geschichte, Perspektiven» bringt viel mehr, als man erwarten durfte. In den dreizehn Aufsätzen und Interviews – eine erhebliche Anzahl von ihnen wurde von AktivistInnen der Disobbedienti verfasst – gelingt dem VORWÄRTS-Mitarbeiter aus dem Berliner FelS-Kollektiv (FelS – für eine linke Strömung) eine tour d’horizon, die das staunende Unverständnis über die spannenden Neuformierungsprozesse in der italienischen Linken schliessen kann. Wer eine kritische Bilanz des Aufstiegs der KPI, ihrer Distanzierung von sozialrevolutionären Prozessen und ihrer späteren Domestizierung sowie der Entstehung und des Scheiterns der aus marginalisierten jungen FabrikarbeiterInnen, linksradikalen Intellektuellen und KPI-DissidentInnen gewachsenen «Autonomia» erhalten will, muss sich das Büchlein besorgen. Hier findet sich ein Koordinationssystem und die dazugehörenden Fakten, um die «Strategie der Spannung» zu verstehen, die «Roten Brigaden» in den gesellschaftlichen Prozess einzuordnen und den Zusammenhang von «compromesso storico» und Zerfall der KPI zu verstehen. Hier findet man eine Geografie der italienischen Reaktion und der Kontinuität der faschistischen Bewegung. Dass das alles aus autonomer Sicht, aus der Perspektive der AktivistInnen der neuen «centri sociali» geschrieben wurde, versteht sich von selbst. 
Das Einzige, was dem Aktivisten der kommunistischen Bewegung fehlt, ist die Sicht der kritischer HistorikerInnen von Rifondazione Comunista auf diese Art der Geschichtsschreibung. Doch dies scheint es heute noch nicht zu geben. Sagt jedenfalls sagt Dario Azzelini. 
Im Übrigen bietet «Genua» spannende Interviews mit zentralen AkteurInnen der neuen Bewegung der Bewegungen, mit ehemaligen «tute bianche»-AktivistInnen, Fausto Bertinotti, den Disobbedienti, einem Vertreter des Wu-Ming-Kollektivs. Texte, die das theoretische Konstrukt der «multitude» und die Negri-Schreibe «empire» in einen Kontext einordnen. Es sind Anregungen für eine neue politische Praxis (sozialer Ungehorsam und generalisierter Streik), die zwar nicht von Italien in die Schweiz exportiert werden kann. Den Fragen, die aufgeworfen werden, müssen wir uns aber stellen, wenn wir mehr wollen als das, was wir heute haben.
Ein Zitat aus dem Wu-Ming-Interview soll das illustrieren. Zur Entwicklung anfangs der 90er-Jahre in den «centri sociali» bemerkt Roberto Bui: «An Stelle eines mit Vorurteilen beladenen, antiinstitutionellen Diskurses, diesem ‚Wir sprechen nicht mit dem bürgerlichen Staat’, entwickelte sich eine weitaus subtilere Infiltrierung lokaler Institutionen, eine Art Dialog, der sich keineswegs unterordnete, mit dem aber eine neue Qualität antagonistischer Praxis erreicht wurde. Dies wurde von vielen Seiten kritisiert, aber er hat ein politisches Feld, das mindestens 50000 Leute umfasst, aus der Indianer-Reserve gelockt und aus einer Kultur befreit, die zum Verlieren verurteilt war».