oder: >>Was wir von Venezuela lernen können.<<

Es reicht!

[ ] Protokoll: Dario Azzellini [1], Politikwissenschaftler [2]

Bevor Oliver Ressler und ich den Film >Venezuela von unten< [3] gedreht haben, bin ich bereits vier oder fünfmal in Venezuela gewesen. Am meisten hatte mich die Kraft der Menschen dort beeindruckt, die ungeheure Aufbruchstimmung, die Bereitschaft, ja die Forderung, alles in die eigenen Hände zu nehmen. Diese Energie wollten wir zeigen. Es ist die wunderbare Energie, die in gesellschaftlichen Aufbruchsmomenten entsteht und Berge versetzen kann. Mich fasziniert die Klarheit der Menschen, die nicht betteln, sondern Rechte einfordern. Wir haben z.B. in zwei besetzten Fabriken gefilmt, die über 200 km voneinander entfernt waren. Die Arbeiter hatten den gleichen Diskurs. Sie begründeten die Besetzung damit, der Unternehmer habe >eine einseitige Entscheidung< getroffen und so hätten sie als aktiver Teil des Betriebes die Besetzung beschlossen...

In den Dokumentarfilmen zu Venezuela, die wir kannten, kam genau diese Seite zu wenig oder gar nicht zum Vorschein. Meistens waren es irgendwelche >Vertreter< oder Politiker, die darüber berichteten, was im Rahmen des Transformationsprozesses alles stattfindet, aber eben nicht die Menschen selbst die Mitten drin stecken. Diesen Menschen wollten wir mit dem Dokumentarfilm eine Stimme geben, sie für sich selbst sprechen lassen. Das hat auch gut funktioniert. Der Film ist ja dann in Venezuela auch im Fernsehen gelaufen und ich habe ihn auch in diversen Armenstadtteilen von Caracas gezeigt und dann mit den Menschen darüber geredet. Da wurde deutlich, dass sich die Leute >von unten< im Film wiedererkennen. Und dann war es uns wichtig, der weitgehend einseitigen Medienberichterstattung in Europa und vor allem im deutschsprachigen Raum etwas entgegenzusetzen. Ein anderes Venezuela zu zeigen.

Anfangs hatte ich starke Zweifel an Hugo Chávez. Als Ex-Militär gehört er nicht gerade zu den Sympathieträgern, wenn man sich mit Lateinamerika beschäftigt. Allerdings gilt es, sich die Geschichte und Zusammensetzung der Armee anzuschauen, die sich stark von der in anderen Ländern des Kontinents unterscheiden. Nach eingehender Beschäftigung mit dem Land und mittlerweile sieben Aufenthalten von zwei bis zehn Wochen, hat sich mein Bild verändert.

Für Lateinamerika interessiere ich mich schon sehr lange. Als ich noch ein Kind war, hat mich immer alles fasziniert, was weit weg war und Lateinamerika mehr als andere Kontinente. Dann habe ich so mit 13 - 14 Jahren ein Interesse für linke Politik entwickelt und da kam ich um Lateinamerika nicht herum. Ich bin 1967 geboren, d.h. wir reden so von Anfang der 80er Jahre. In Nicaragua war gerade Revolution gewesen, in El Salvador wurde das gleiche erhofft, die Erinnerung an den Putsch in Chile war noch frisch... aber es war noch so ein eher beiläufiges Interesse, auch wenn mich Lateinamerika schon gepackt hat.

Das Interesse vertiefte sich dann immer mehr. Als ich so 14 - 15 Jahre alt war, habe ich ein wenig zu Nicaragua gearbeitet. Für mich als Italiener war es auch nicht so schwer Spanisch zu verstehen. Ich habe dann angefangen in Mainz Politikwissenschaften, Anglistik und Romanistik [Italienisch und Portugiesisch] zu studieren und ein wenig zu Lateinamerika geforscht. Dann bin ich 1988 nach Berlin gezogen und habe hier im FDCL und bei den Lateinamerika-Nachrichten mitgewirkt, bis ich dann im Januar 1990 das erste Mal nach Lateinamerika geflogen bin, Nicaragua. Sozusagen auf den Spuren der Revolution, die war aber nur wenige Wochen nachdem ich angekommen bin, schon wieder vorbei...

Seitdem bin ich eigentlich zwischen vier und sieben Monaten im Jahr in Lateinamerika. Ich habe meine Diplomarbeit über >Ethnische Konflikte an der Atlantikküste Nicaraguas und das Konfliktlösungsmodell Autonomie< geschrieben und habe davor noch zwei Dokumentarfilme in Nicaragua gedreht. Ich habe Zentralamerika stark bereist, war neben Nicaragua in El Salvador, Guatemala, Honduras, Kuba, der Dominikanischen Republik, habe einen Film und ein Buch über Mexiko veröffentlicht und bin dann ab Mitte der 1990er Jahre mehr auf dem Südkontinent unterwegs gewesen, in Kolumbien, worüber ich zahlreiche Buchbeiträge und auch ein Buch veröffentlicht habe. Ich war in Argentinien, Bolivien, Ecuador und Uruguay.

In Mexiko bin ich aber auch weiterhin nahezu einmal im Jahr, auch aus familiären Gründen, meine Partnerin ist Mexikanerin. Wir haben uns allerdings in Berlin kennen gelernt. Mittlerweile veröffentliche ich auch auf dem anderen Kontinent. Mein letztes Buch >Das Unternehmen Krieg< [4], über die Privatisierung militärischer Aufgaben, wurde in Venezuela und dann in aktualisierter Ausgabe im Cono Sur, also im Süden Südamerikas, veröffentlicht. So werde ich auch häufiger nach Lateinamerika eingeladen zu Kongressen oder Veranstaltungen.

Jedoch mache ich keine traditionelle >Soli-Arbeit< in Europa. In Berlin bin ich vor Ort politisch engagiert. Die beste Solidarität ist immer noch, dort wo man lebt, etwas zu verändern. Aber die Erfahrungen in Lateinamerika sind auch dafür nützlich. Gerade in dem Prozess in Venezuela sind einige Elemente zu finden, die auch international Beispielcharakter haben. Dabei geht es nicht darum, Ansätze eins zu eins zu übertragen. Das ist unmöglich und zum Scheitern verurteilt. Dafür sind die Situationen zu unterschiedlich und letztlich jeweils einzigartig. Jeder Kontext braucht seine eigene Herangehensweise - und dafür ist ja Venezuela ein exzellentes Beispiel.

Sehr interessant finde ich aber einige Grundsätze, welche die venezolanische Politik leiten. Nora Castaneda, die Vorsitzende der Frauenbank [5], betont z.B. >die Wirtschaft muss im Dienste der Gesellschaft stehen und nicht umgekehrt<. Dann scheint mir auch der Versuch, eine radikaldemokratische Gesellschaft aufzubauen, ein zukunftsweisendes Vorhaben - ob es gelingt, sei noch dahingestellt. Für interessant halte ich auch den Umstand, dass es keine >Einheitspartei< gibt, ja nicht einmal einen zentralen Widerspruch oder ein gewisses Organisationsmodell, an dem entlang es sich zu organisieren gilt. Und auch im Alltag gibt es positive Beispiele. Auffällig ist dabei die breite Zusammenarbeit der verschiedensten linken Strömungen in der Praxis.

Auf der untersten Ebene, im Stadtteil gibt es kaum Sektierertum, erklärte Libertäre arbeiten mit Linkssozialdemokraten zusammen. Aber auch einige sehr konkrete Massnahmen halte ich für vorbildhaft und nachahmenswert, wie etwa die massive Legalisierung von illegalisierten Migranten. Über eine halbe Million von ihnen hat in den vergangenen Jahren die venezolanische Staatsbürgerschaft erhalten. Venezuela sei es ihnen schuldig, hiess es als Begründung.

1. [dnapress@gmx.net]
2. [www.azzellini.net]
3. [www.clubalpha60.de/alpha-press/2005-03/venezunten.htm]
4. [www.assoziation-a.de/gesamt/Das_Unternehmen_Krieg.htm]
5. [www.inmotionmagazine.com/global/nc_wdb_int.html]