…oder Sozialkritik: Mexicos neue Musikergeneration

Erfolgreiche Macker…

Bei mexicanischer Musik denken die meisten hierzulande an schwarz gekleidete Mariachis mit riesigen Sombreros, die folkloristische Rancheras spielen. Mariachis sind sicherlich in Mexico nach wie vor zu finden, doch neben ihnen hat sich in den letzten Jahren eine lebendige moderne Musikszene entwickelt, die auch zunehmend international auf Beachtung stößt. Auch existieren in Mexico die unterschiedlichsten Sub-Szenen, Plakate für Trash-, Speed- und Deathmetal-Konzerte, Punkrocker mit schrill gefärbten Haaren oder Technoclubs mit den neuesten Hits sind durchaus nicht nur in der Hauptstadt D.F. zu finden.

Von Dario Azzellini

Das war nicht immer so. In den 70er und 80er Jahren wurde Rockmusik in Mexico regelrecht verteufelt und zensiert und war nicht selten Opfer staatlicher Repression. Dies geschah nicht einmal aufgrund vermeintlicher politischer Inhalte, sondern weil die Staatspartei PRI mit ihrem allmächtigen Anspruch – ähnlich wie viele realsozialistische Staaten ein Jahrzehnt vorher – Rockmusik schon allein deswegen miss­trauisch betrachtete, weil sie ihrer Meinung nach negativen Einfluss auf die Moral ausübte und sich bei Konzerten unkontrollierbare und ungehemmte Menschenmassen zusammenrotten würden. Mittlerweile hat sich die Situation für Rockbands in Mexico geändert, vor allem in der Hauptstadt D.F. Vladimir Garnica, Gitarrist der Band Los de Abajo, erklärt diese Entwicklung: „Mit dem Bürgermeister der linksoppositionellen PRD, Cárdenas, hat es eine starke Öffnung gegeben. Heute kannst du einfach auf einem öffentlichen Platz ein Konzert oder eine Versammlung veranstalten. Künstlerische Ausdrucksformen genießen heute in Mexico D.F. völlige Freiheit.“

Auch die öffentliche Beachtung ist heute um ein Vielfaches größer als noch vor zwanzig Jahren. „In Mexico gab es kein Independent-Netzwerk wie in den USA oder Europa, das es erlaubte, auf die offiziellen Medien zu verzichten und einen komplett eigenen Weg zu gehen“, beschreibt Vladimir Garnica, „die Rock-Generation vor uns, wie Maldita Vecindad und Los Caifanes, musste sich also mit den Medien, mit dem Televisa-Imperium auseinandersetzen und in schlechten TV-Shows auftreten. Viele verstanden nicht, warum die Bands das machten, aber die Zeit hat gezeigt, dass es der einzige Weg für die mexicanische Musik war, um aus der Marginalisierung herauszukommen. Und das hat mittlerweile auch für viele andere Bands Raum in den Medien geöffnet.“

Die neunköpfige Band Los de Abajo (Die von unten) aus Mexico-Stadt spielten eine Mischung aus Ska, Punkrock und Latinorhythmen. Ihr Debüt-Album wurde von David Byrne, Ex-Frontmann der Talking Heads, produziert und erschien auf Byrnes Label „Luaka Bop“. Ein zweites Album soll bald folgen. Los de Abajo sind musikalisch der Ausdruck der neuen mexicanischen Rockmusik und politisch Teil der neuen Linken. Ihre Verwurzelung in der mexicanischen Musik ist deutlich zu hören. Dies wird heute in breiten Kreisen Mexicos und auch international als Qualitätsmerkmal angesehen, doch das war nicht immer so. „In den 80er Jahren war die Underground-Band El Bodeguito de Jerez, deren Musiker heute bei El Matuerzo spielen, die erste Gruppe, die über Themen sang, über die sich sonst niemand zu singen traute, und auch die erste Gruppe, die in Mexico lateinamerikanische Musik, wie Cumbias, mit Rock mischte. Das war damals bei Rockbands sehr schlecht angesehen“, erläutert Vladimir Garnica. „El Bodeguito de Jerez hatten sehr viel Einfluss auf die Musikszene und sie haben den vielen Bands, die heute lateinamerikanische Musik mit Rock fusionieren, den Weg geebnet. Für uns war es mit unserer Mischung zwar immer noch schwer Fuß zu fassen, aber der Anfang war schon gemacht.“ Carlos Cuevas, Keyboarder der Band, sieht die Ursprünge der musikalischen Melange im Alltag des Molochs Mexico-Stadt: „Unser Sound kommt ganz klar aus Mexico D.F. Die Musik ist ein Resultat des Lebens in der Hauptstadt, wo du in einen Kleinbus steigst und erst eine Cumbia hörst, dann Hardrock und dann eine Norteña – ein musikalisches Chaos, das wir in unserer Musik reflektieren.“

Mit Musik gegen Grenzen und Klischees

Los de Abajo sind im Ausland allerdings nicht sehr bekannt. Mehr Verbreitung haben hier eher die ebenfalls aus dem D.F. stammende Crossover-Hip-Hop-Band Molotov oder die Hip-Hopper von Control Machete aus der nordmexicanischen Indus­triemetropole Monterrey. Bei Molotov ist der Einfluss lateinamerikanischer Rhythmen zwar geringer, doch ihren größten Hit landeten sie mit dem gänzlich lateinamerikanisch klingenden „Voto latino“, in dem sie gegen Rassismus auftreten und Gerechtigkeit für die in den USA lebenden Latinos einfordern. Der Song entwickelte sich beiderseits der militarisierten Grenze zu einer Art heimlichen Hymne für ein stark wiederauflebendes lateinamerikanisches Bewusstsein.

„Wie jede Band, jeder Regisseur, Schauspieler oder Künstler, die es bis in die USA geschafft haben, tragen wir dazu bei, die Klischeevorstellung über Mexico in den USA zu durchbrechen. In den USA glauben viele, dass die Mexicaner alle Sombreros tragen und auf Eseln reiten. Das ist das Bild, das seit Anfang des Jahrhunderts vermittelt wird“, resümiert Rapper Toy von der Band Control Machete, die mehr lateinamerikanische Elemente in ihre Musik einfließen lässt. „Wir hören eben auch viel traditionelle Musik seit unserer Kindheit: Sängerinnen wie Ramona Yala, Gruppen wie Los Invasores del Norte, Mariachis, Corridos, Musik aus dem Norden, Cumbia und alle musikalischen Fusionen, die daraus entstehen können“, erklärt Rapper Fermín und Rapper Toy fügt gleich hinzu: „Die Norteña, die Musik aus dem Norden Mexicos, ist ja aus einer Fusion traditioneller Polka mit den revolutionären Liedern entstanden. So ist auch Control Machete eine Fusion: die Freude am Funk, Rap und Hip-Hop, gemischt mit traditionellen mexicanischen und lateinamerikanischen Klängen.“ Auf der 1999 erschienenen, zweiten CD „Artillería Pesada, Presenta ...“ ist das mexicanische Hip-Hop-Trio bei dem Stück „Danzón“ sogar gemeinsam mit den cubanischen Musikern Rubén González, Cachaito López, Juan de Marcos González und Rubén Abarrán – bekannt durch den Buena Vista Social Club – zu hören. Ein Faktor, der bei dieser Zusammenkunft sicher förderlich war, ist der kommerzielle Erfolg von Control Machete in Mexico, Lateinamerika und den USA. Ihr erstes Album verkaufte sich allein in Mexico 250 000 Mal und die erste Singleauskopplung aus ihrem zweiten Album wurde in den USA bereits einen Monat nach Erscheinen vergoldet.

Molotov sind in den USA sogar noch erfolgreicher. „Dem Großteil der Mexicaner und Lateinamerikaner in den USA gefallen wir, da sie wissen, dass wir die gleichen Probleme durchgemacht haben wie alle Mexicaner“, so der zweite Bassist und Sänger Micky Huidobro, „sie geben nicht viel auf Blödsinn wie Ricky Martin und wissen, dass es Unsinn ist, einen weißen Cabrio zu haben und damit vor eine Disco zu fahren, wo 80 Mädels für dich tanzen.“ Die Band legt großen Wert darauf, „apolitisch“ zu sein, und zeigt sich weder nachdenklich wie Control Machete noch engagiert wie Los de Abajo. Zwar singen auch Molotov gelegentlich über soziale Missstände und richten sich gegen die bis vor kurzem allmächtige Staatspartei PRI, ihr wichtigstes Anliegen ist es aber, Spaß zu haben. Dementsprechend ist auch ihre Wahrnehmung der mexicanischen Hauptstadt. „Das ist eine bestimmte Lebensform, ganz anderes Essen, ganz anders, in der Hauptstadt hat das Leben eine andere Geschwindigkeit, du lernst andere Sachen, es gibt mehr Gewalt, superviele Bands, man kann total viel unternehmen ... abgefahren“, fasst Micky ein durchaus weit verbreitetes Lebensgefühl zusammen.

Sexistische Texte – alles „nur Straßen-Slang“?

Molotov fühlen sich jedoch von der Repression verfolgt, seit ihr erstes Album „Dónde jugarán las niñas?“ – Wo spielen wohl die Mädchen? – aufgrund sexistischer und homophober Texte von vielen Seiten kritisiert wurde. Umstritten war auch das Cover, auf dem die nackten Beine eines mit heruntergezogener Unterhose im Auto sitzenden Mädchens in Schuluniform zu sehen sind. Letztendlich profitierten Molotov von der Debatte, in Mexico verkaufte sich das Album über 400 000 Mal, weltweit über eine Million Mal. Die Band setzt weiterhin auf Provokation. Doch letztendlich konnten Molotov nach Treffen mit der „Vereinigung für die Rechte Homosexueller in Argentinien“ und dem homosexuellen Intellektuellen Carlos Monsiváis (der über die Band zu Beginn noch schrieb, sie könnten gar nicht homophob sein, da sie selbst dafür zu doof seien) Teile der Öffentlichkeit davon überzeugen, dass es sich bei ihrer Wortwahl nur um einen besonders harten Straßen-Slang handele und sie in keiner Weise etwas gegen Homosexuelle hätten. Dennoch reden sie nicht gerne über den Vorwurf. Bassist und Sänger Paco Ayala umgeht die Thematik, indem er Molotov als Opfer darstellt und die Sache herunterspielt: „Hin und wieder kommt etwas Neues raus, oft spricht es bestimmte Themen an, die gewissen Leuten nicht passen und die immer unterdrückt wurden. Tatsächlich wird dieses Land ja auch von den Medien unterdrückt, die in den Händen der Regierung oder von sehr mächtigen Leuten sind, die Kontakt zu den großen Schweinen haben. Andererseits hat unsere Art sich auszudrücken, mit vielen Schimpfwörtern, so wie man auf der Straße redet, wie man in einem gewissen Alter redet, wie eigentlich alle reden, vielen Eltern nicht gefallen. Aber eigentlich sind es sarkastische und selbstkritische Songs, die alles irgendwie wieder witzig erscheinen lassen.“ Ein Humor, den nicht alle teilen.

Ähnliche Vorwürfe waren anfänglich auch gegen Control Machete geäußert worden. Sie bezogen sich auf einen Song Namens „Lupita“ auf dem ersten Album der Band, in dem es darum geht, dass ein Mann von seiner Frau wegen einer anderen Frau, eben Lupita, verlassen wird. Doch der Verwurf wurde bald wieder fallen gelassen, der Song erzählt eine Geschichte und äußert sich weder über Frauen noch über Lesben abfällig. Control Machete reagieren dennoch ganz anders als Molotov auf die Nachfrage. Sie analysieren kurz ihren Text und weisen den Vorwurf weit von sich. Fermín und Toy, beide Anfang 20, wirken ruhig und ausgeglichen. Sie erzählen, wie die Erfahrungen und Erlebnisse in verschiedenen Ländern sie seit dem ersten Album verändert hätten und welchen Einfluss dies auf die Texte des neuesten Albums ausgeübt hätte: „Auf dem ersten Album handelte es sich noch um Geschichten, die wir erzählten, heute rappen wir darüber, was sich in unseren Köpfen bewegt und reflektieren mehr die alltäglichen Erlebnisse.“ Ein Punkt, der in den Stücken der Rapper großen Raum einnimmt, betrifft das schwierige Verhältnis zu dem nördlichen Nachbarn USA, wie Fermín beschreibt: „Viele unserer Lieder richten sich gegen Rassismus und konkret gegen jene, die an der Grenze den Mexicanern Schaden zufügen. Wir wenden uns aber nicht gegen die Gringos an sich oder gegen ihre Kultur, wir leben unsere eigene Kultur, davon ist in den Texten auch die Rede. Es geht darum, die Problematik an der Grenze aufzuzeigen, eine Problematik, die an jeder Grenze existiert, nicht nur an der zwischen Mexico und den USA.“

Engagierte Texte und Lebensmittel für Chiapas

Los de Abajo hingegen stellen ihr politisches Engagement in den Mittelpunkt: „Wir sind eine Rockgruppe, aber definitiv eine politische Band mit dem klaren politischen Anspruch, Missstände aufzuzeigen und Positionen zu äußern“, so der Keyboarder Carlos Cuevas. „Unsere Texte sind aber nicht so sehr spezifische Forderungen. Dennoch handelt es sich um kollektive Sichtweisen. Wir berichten darüber, was wir als Jugendliche in Mexico-Stadt erleben. Wenn wir über die zapatistische Bewegung singen, dann geht es darum, was sie für uns bedeutet, wie wir sie erleben. Wir sind zwar alle Marcos, wie es immer heißt, aber wir sind nicht alle in den Bergen von Chiapas und wir haben auch nicht alle ein Gewehr in der Hand.“

So handeln die Texte der Band von der EZLN oder von Bewegungen, die in der offiziellen Geschichtsschreibung nicht exis­tieren, wie z.B. die 68er oder Lucio Cabañas, einer der ersten Guerilleros der jüngeren Geschichte Mexicos, dessen Bewegung in den 60er und 70er Jahren vor allem in Guerrero viel Einfluss hatte, bevor sie schließlich militärisch zerschlagen wurde. „In Mexico existiert eine wahre Informationssperre, die Medien stellen eine Barriere dar und wir versuchen das zu erzählen, was die Zeitungen, Radio und Fernsehen mit Lügen zudecken“, so Carlos Cuevas weiter. Los de Abajo beschränken sich aber nicht nur darauf, von Missständen zu singen, sondern sie nehmen aktiv am politischen Leben des Landes teil. Vladimir Garnica, Gitarrist der Band, erklärt, wie: „Als Band sind wir Teil einer Musiker-Organisation namens ‚La Bola’ – der Haufen –, die für die Demokratisierung Mexicos und die Rechte der Indígenas hier und weltweit eintritt. Der Begriff ‚Haufen’ bezieht sich auf die revolutionären Truppen Pancho Villas, die so genannt wurden.“ Der Bassist Carlos Cortez fügt hinzu: „In ‚La Bola’ sind Gruppen wie Santa Sabina oder El Matuerzo vertreten, die bekanntesten sind La Maldita Vecindad. Wir organisieren gemeinsam Solidaritätskonzerte. Wir mieten gemeinsam eine Anlage für ein Konzert mit 20 000 Personen und alle, die kommen, spenden 10 Pesos (etwa ein Dollar) und ein Kilo Reis. Mit dem Geld wird die Anlage finanziert und die Lebensmittel gehen z.B. an die zapatistischen Gemeinden in Chiapas. Die Organisation streckt das Geld für die Anlage vor und verpflichtet sich, sie auch dann zu bezahlen, wenn das Geld nicht zusammenkommt.“

Diskographie:

Control Machete – Mucho barato ... (PolyGram) [nur als Import erhältlich]

Control Machete – Artillería Pesada, Presenta ... (Motor Music/Universal)

Los de Abajo – Los de Abajo (Luaka Bop/Warner Bros.)

Molotov – Dónde jugarán las niñas? (Surco/Universal) [nur als Import erhältlich]

Molotov – Apocalypshit (Surco/Universal)