Selbstständig Beschäftigte in Berlin

Wer sind sie - Motivation, soziale Sicherungen, Strategien und ihr Verhältnis zum Staat

Selbstständige Beschäftigung - Zwang oder freie Entscheidung.
Die Realität der selbstständigen Beschäftigung kann schwer auf ”Zwang oder freie Entscheidung” reduziert werden, da der Zugang zum regulären Arbeitsmarkt, sehr unterschiedlich ist. Vor allem für MigrantInnen und viele Frauen sind die Chancen eine abhängige Beschäftigung mit angemessener Bezahlung und guten Bedingungen zu finden, geringer als für Deutsche Männer. Für den überwiegenden Teil der Interviewten, Migranten und Frauen eingeschlossen, stellt die Selbstständigkeit aber dennoch eine bewusste Wahl dar. Die meisten haben sie nicht auf Grund fehlender abhängiger Beschäftigung begonnen: sie haben Erfahrungen mit abhängiger Beschäftigung und sehen in der Selbstständigkeit mehr Freiheiten.

Nahezu alle Befragten haben angebotene abhängige Beschäftigung abgelehnt. Dabei sind sich die meisten der Nachteile und der Ambivalenz der Selbstständigkeit bewußt: ”Das Arbeitsklima ist stressig, Ausfallzeiten kann man sich überhaupt nicht erlauben. Aber der persönliche Gewinn, den ich aus der Arbeit ziehe, ist so groß, dass ich das in Kauf nehme. In bestimmten Zeiten geht es zwar nur um Arbeit, aber man bildet sich ein, daß es eine zusätzliche Qualität hat, weil es selbstbestimmt ist.”[1] Nur vier äußerten den Wunsch nach einer abhängigen Beschäftigung.

Für die Entscheidung zu Gunsten einer selbstständigen Tätigkeit benennen die Interviewten vorwiegend drei Gründe. Zentral für alle ist die Möglichkeit selbst über Arbeitszeiten und Arbeitsrhythmen zu entscheiden. Ebenso die Selbstbestimmung in der Arbeit, die Abwesenheit eines direkten Kommandos und einer direkten Kontrolle. Es ist generell eine starke Aversion gegen Autoritäten festzustellen, für einige war dies die Motivation für die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit und sie waren im Gegenzug bereit z.T. erhebliche Einkommenseinbußen zu akzeptieren. In einem Fall bedeutet die Entscheidung sogar keinen legalen Status zu besitzen: ”Die einzige Möglichkeit meinen Status zu legalisieren, ist als Angestellter zu arbeiten. Ich will aber nicht abhängig arbeiten. Ich habe es nicht gern wenn mir jemand sagt >mach das so wie ich das will<, wenn ich von vornherein weiß das ist falsch.”[2]

Als dritter Punkt ist die moralische oder ethische Kompatibilität der Arbeit mit der eigenen Person für etwa ein Viertel von Bedeutung: ”Ich würde mich niemals verraten, also die Dinge an die ich glaube für Geld oder anderes fallen lassen.”[3] In zwei Fällen haben Befragte sogar eine abhängige Beschäftigung gekündigt, weil von ihnen für sie nicht vertretbare Tätigkeiten verlangt wurden.

Wer wurde befragt?
Das Alter der 30 Interviewten reicht von Anfang 20 bis 60 Jahre, mehr als ein Drittel sind Frauen, etwa ein Sechstel MigrantInnen.

Ca. 60% sind hoch qualifiziert und arbeiten in hoch qualifizierten Jobs, etwa ein Viertel ist niedriger Qualifikation mit entsprechender Beschäftigung. Bei den übrigen ist die Qualifikation schwer zu definieren: einige z.B. sind hoch qualifiziert, gehen aber gleichzeitig hoch qualifizierten und gar nicht oder niedrig qualifizierten Beschäftigungen nach. Alle – bis auf vier – verfügen über Arbeitserfahrungen in verschiedenen Bereichen, ihre aktuellen Fähigkeiten sind Ergebnis dieser reichhaltigen Erfahrungen.

Das durchschnittliche Jahreseinkommen nach Steuern (ohne Privatversicherungen!) reicht von unter 20.000 DM bis über 50.000 DM. Über 80% verdienen zwischen 20.000 und 40.000 DM.

Bezüglich der wirtschaftlichen Aussichten sehen 40% der Befragten den Markt auf dem sie agieren entweder als problematisch oder sogar als schrumpfend an, die Hälfte als in Expansion begriffen.

Etwas mehr als ein Drittel der Interviewten üben ihre Tätigkeit in Marktnischen aus oder verfügen über eine derart weitreichende Spezialisierung, dass sie entweder keine Konkurrenz fürchten oder keine haben. Ihre Einkommen sind alle stabil oder wachsend, die Märkte in denen sie agieren konstant oder in Ausdehnung.

Die Strategien der selbstständig Beschäftigten
Für viele Selbstständige stellt die eigene Tätigkeit eine Herausforderung dar. Die Bereitschaft zum Risiko ist generell hoch, auch nach Misserfolgen wird meist versucht erneut eine selbstständige Tätigkeit in die Wege zu leiten: ”1988-1989 bin ich wieder in der Türkei gewesen und habe eine Diskothek in Alanya eröffnet, aber dann kam der Golfkrieg und wir haben pleite gemacht, mit Schulden, die ich mittlerweile bezahlt habe.”[4]

Sie sehen es als positiv, das die Arbeit vielfältig ist und Flexibilität verlangt, da es sie interessant macht. Viele der Befragten sind ”multiaktive Nomaden der Arbeit” und gehen verschiedenen Beschäftigungen nach, z.T. sogar in verschiedenen Bereichen. Auffällig ist das nahezu alle den Markt in dem sie tätig sind sehr gut kennen und eine komplexe Sicht ihres Handelns besitzen. Etwa 80% haben mehr oder weniger spezifische Strategien, um ihre wirtschaftliche Situation, die Arbeitsbedingungen, ihre Marktposition sowie die Befriedigung, die ihnen die Arbeit gibt, zu verbessern.

Einige begegnen den Schwierigkeiten der Selbstständigkeit indem sie abhängige Arbeit in ihre Strategien integrieren, um so eine soziale Mindestsicherung zu haben. Drei Interviewte kombinieren eine abhängige Teilzeitbeschäftigung mit der Selbstständigkeit, zwei nutzen eine befristete abhängige Beschäftigung zur Weiterqualifizierung.

Viele äussern die Absicht sich weiter zu spezialisieren und qualifizieren. Einige wollen ihre Planungskapazitäten ausbauen, um komplexere Leistungen anzubieten und mehr Befriedigung in der Arbeit zu finden oder neue Technologien (vor allem Internet) nutzen, um ihre Aktivitäten auszubauen oder neue zu beginnen.

Als Problem wird allerdings benannt, dass es einerseits notwendig ist sich immer auf dem Laufenden zu halten was neue Entwicklungen im eigene Arbeitsgebiet betrifft, um weiter arbeiten zu können, andererseits es aber für viele nicht leicht ist die Zeit, die Finanzierung und die Möglichkeit zur Weiterbildung zu finden.

Die ergonomische Dimension der Beschäftigung
Nur 15% geben an weder physische noch psychische Probleme in der Arbeit zu haben. 54% beklagen physische Probleme, fast immer Resultat unzureichender Finanzen: wenig Bewegung und Rückenschmerzen bei Schreibtischtätigkeiten; anstrengende Arbeiten, Körperhaltungen und Arbeitsrhythmen sowie Rückenschmerzen bei einigen niedrig qualifizierten Tätigkeiten.

Ebenfalls 54% leiden unter Stress und Anspannung, vor allem verursacht durch die hohe Konzentration und die ständige Verfügbarkeit, die ihnen ihre Tätigkeit abverlangt. Ein weiteres Problem ist die Trennung von Arbeit und Privatleben: ”Es ist sehr schwierig einen persönlichen Bereich zu finden. Wobei das natürlich auch selbst gewählt ist, wenn man die Priorität auf die Arbeit legt. Da kann man nicht jammern. Und es gibt solche und solche Phasen, wobei es leider dahin geht, daß es immer mehr solche gibt, wo das Privatleben nahezu nicht stattfindet.”[5]

”Langfristig gesehen stellt sich natürlich die Frage >Was ist das für eine Lebensperspektive?<, es ist natürlich klar, daß man nur so arbeiten kann, wenn keine Familie da ist.”[6] So sind auch nur vier der Interviewten zusammenlebend mit Kindern, und die Hälfte Single und alleinlebend.
 
Die Abdeckung sozialer Risiken
Die Situation sozialer Sicherheit der meisten Befragten ist prekär. Die Ursache sind primär finanzielle, aber auch sozio-kulturelle Faktoren. Lediglich vier Befragte verfügen über Versicherungen und soziale Sicherheiten, die Krankenkasse, Arbeitsunfallversicherung, Krankentagegeld und Rente umfassen. Weitere acht haben über die Krankenversicherung hinaus Altersinvestitionen getätigt. Bei etwa der Hälfte der rentenversicherten ist die Abdeckung aber als ausreichend zu betrachten.

Über eine Krankenversicherung verfügen alle Befragten (ein Drittel ist jedoch nur krankenversichert!), da ein einmaliges Herausfallen aus der Krankenversicherung die Wiederversicherung erschwert. Dies stellt vor allem Berufsanfänger vor große Probleme, da die Kosten für private Krankenversicherungen sehr hoch sind: ”Für die Barmer ist ein Selbstständiger gutverdienend und mein Beitrag war immer 400-500 DM im Monat. Phasenweise reichte das was ich verdiente gerade mal für Krankenkasse und Miete...”[7] Viele entwickeln daher Strategien, um eine preisgünstige Krankenversicherung abzuschließen. Eine typische Situation z.B. für viele Selbstständige aus dem studentischen Umfeld ist während der ersten Arbeitsjahre immatrikuliert zu bleiben und sich als Studierende zu versichern. Besonders schwierig ist die Situation der Selbstständigen mit Familie. In vielen Fällen mit niedrigem bis mittlerem Einkommen ist es faktisch die abhängige Beschäftigung des Partners (und die Versicherung der Kinder darüber), die die selbstständige Tätigkeit erlaubt. Noch problematischer ist die Situation für MigrantInnen ohne legalen Status.

Alle Befragten – bis auf eine – sehen die Absicherung gegen soziale Risiken als eine zentral an. Der Großteil will weiterhin selbstständig arbeiten, aber nicht auf die sozialen Absicherungen verzichten müssen. ”Ich denke das alle die grundlegenden Absicherungen haben sollten: gegen Krankheit, Arbeitsausfall, Schwangerschaft, Rente... aber wir sind ja mittlerweile so sozialisiert, das wir das gar nicht mehr als Recht ansehen.”[8] Die Ansicht, das die grundlegenden Absicherungen auch für Selbstständige in kollektiver und finanziell erschwinglicher Form existieren sollten, wird von allen geteilt.
 
Das Verhältnis zu Institutionen und staatlichen Eingriffen
Die Befragten haben zum Großteil keine guten Erfahrungen mit, und kein gutes Verhältnis zu den Institutionen. 70% sagen keinerlei Kontakt mit staatlichen Institutionen oder Verwaltung (außer Finanzamt) zu haben und diesen auch zu meiden. ”Alles was offiziell oder staatlich ist, ist kompliziert – ich versuche möglichst wenig Kontakt zu haben.”[9] Nur drei verfügen über umfangreiche und gute institutionelle Kontakte.

Im Allgemeinen erwarten sie von den Institutionen keine Verbesserungen und sehen sie als unflexibel. Im Gegenteil, sie fürchten von institutioneller Seite eher Angriffe auf ihren Status als Unterstützung. Einige fürchten Probleme in Folge des ”Gesetzes gegen Scheinselbstständigkeit”, das von den meisten als Angriff empfunden wird, während es an der Situation der tatsächliche ”Scheinselbstständigen” nichts geändert hat: “Ich empfinde die derzeitige Rechtssituation als belastend. Es gibt in unserer Gesellschaft ein sehr ambivalentes zu dieser Form der freien Tätigkeit. Auch wenn ich meine Einkommenssteuererklärung und alles mache, habe ich immer das Gefühl mich in einer Grauzone zu befinden.”[10]

Die MigrantInnen unter der Befragten beklagen eine rassistische Behandlung seitens deutscher Behörden. Auch andere mit Erfahrungen in diesem Bereich verweisen auf einen rassistischen Konsens innerhalb der deutschen Institutionen.

Das Finanzamt hingegen wird allgemein als unverständlich und zu kompliziert angesehen. Etwa ein Viertel beklagt Negativerfahrungen mit dem Finanzamt. Viele der Probleme haben ihren Ursprung darin, das die Tätigkeiten verschiedener Befragter nicht den offiziellen Klassifizierungen entsprechen: ”Steuer ist ein Buch mit sieben Siegeln. Da braucht man ein Computerprogramm für ansonsten ist es schwierig. Aber für meinen Job gibt es kein Programm, der kommt nicht vor.”[11]

Die Skepsis gegenüber staatlichen Eingriffen ist groß: ”Man kann nicht von einem besser oder schlechter mit oder ohne staatliche Eingriffe reden. Es kann ja nicht gefordert werden zum keynesianischen Staat, staatlicher Förderung usw. zurückzukehren.”[12] Die Tendenz geht eher dahin, dass der Staat so wenig wie möglich oder liberalisierend eingreifen sollte, vor allem was das engere Arbeitsumfeld der Befragten betrifft. Nur im sozialen Bereich lassen sich zwei Felder ausmachen, in denen sich die Mehrheit für einen staatlichen Eingriff ausspricht: mehr soziale Sicherheiten und Verbesserung des Aus- und Fortbildungssystems.

[1] Walter Z., 38 Jahre, Journalist, Seminarorganisation und -begleitung, Jahresnettoeinkommen 35.000
[2] Oleg P., 35 Jahre, Restaurateur, Jahresnettoeinkommen 35.000 DM
[3] Sonia V., 36 Jahre, Kulturschaffende u. TV-Autorin, Jahresnettoeinkommen 18.000 DM
[4] Tuncay P., 40 Jahre, Einzelhändler, Jahresnettoeinkommen 30.000 DM
[5] Walter Z., 38 Jahre, Journalist, Seminarorganisation und -begleitung, Jahresnettoeinkommen 35.000
[6] Walter Z., 38 Jahre, Journalist, Seminarorganisation und -begleitung, Jahresnettoeinkommen 35.000
[7] Thomas G., 43 Jahre, Computergrafiker, Jahresnettoeinkommen 20.000 DM
[8] Barbara M., 30 Jahre, Presseauswerterin, Jahresnettoeinkommen 20.000 DM
[9] Thorsten F., 34 Jahre, Multimediakünstler und Internetanwender, Jahresnettoeinkommen 35.000 DM
[10] Michael S., 35 Jahre, Sozialforscher und Dozent, Jahresnettoeinkommen 20.000 DM
[11] Thorsten F., 34 Jahre, Multimediakünstler und Internetanwender, Jahresnettoeinkommen 35.000 DM
[12] Rebekka H., 32 Jahre, Dozentin und Journalistin, Jahresnettoeinkommen 25.000 DM


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