Indianische Gemeindepolizei in Guerrero

Wir reden nicht von Autonomie, wir praktizieren sie

Nicht nur in Chiapas, sondern auch in anderen Regionen Mexikos versuchen indianische Gemeinden die Autonomie, die ihnen die Regierung verweigert, konkret umzusetzen. So etwa im Süden des Bundesstaates Guerrero, wo über fünfzig Dorfgemeinschaften ihre eigene Gemeindepolizei und ihr eigenes Strafrechtssystem ins Leben gerufen haben. Sie können auf die breite Unterstützung der Bevölkerung und die firme Ablehnung des Staates zählen.

Über acht Stunden haben wir aus Chilpancingo, der Hauptstadt des südmexikanischen Bundesstaates Guerreros, mit einem Pickup zurückgelegt, bevor wir mitten in der Nacht in San Luís Acatlan, einer verlorenen Provinzhauptstadt im Süden Guerreros, fast an der Grenze zu Oaxaca, angekommen sind. Guerrero ist einer der ärmsten Bundesstaaten Mexikos, ein Großteil der Bevölkerung gehört verschiedenen indianischen Gruppen an. In der lauen dunklen subtropischen Nacht treten zwei mit Gewehren bewaffnete Männer aus dem Hauptquartier der Gemeindepolizei etwas unterhalb der Straße: »Wer da?« - »Marta und Hermelinda vom Rat«, so eine meiner beiden Begleiterinnen. Wir werden freundlich begrüßt, meine Begleiterinnen sind bekannt. Marta, Amuzgo-Indianerin aus dem Norden Guerreros, und Hermelinda, Nahua aus einem Dorf etwas weiter südlich, gehören zu der regionalen Koordination »Consejo Guerrerense de 500 años de resistencia« (Rat von Guerrero - 500 Jahre Widerstand). Beide - erst Ende 20 und in Jeans und T-Shirt gekleidet - sind hoch geschätzt.

Die Nacht ist schon fortgeschritten und wir werden gleich eingeladen, in einem Raum des Polizeireviers auf Matratzen zu schlafen. Als am nächsten Morgen die Sonne aufgeht, begrüßen uns ein Dutzend Polizisten und servieren uns einen Kaffee. Unser Schlafzimmer entpuppt sich als das zentrale Büro der Polizeistation, an den Wänden hängen Schichtpläne und Landkarten. Vor der Tür steht ein Mann, der sich später als Bruno vorstellt, an einem Funkgerät, zwei Bewaffnete mit schwarzen Uniformen, grünen T-Shirts und einem Abzeichen mit dem Schriftzug »Policía Comunitaria - Guerrero« patrouillieren am Eingang zum Gelände. Ein Gefangener gräbt unter Bewachung ein abgezäuntes Gelände um, aus dem ein Gemüsegarten werden soll. Die Polizisten müssen sich selbst versorgen.

»Wir wollen nicht, dass sich unsere Autoritäten an die Regierung verkaufen, denn sonst sind wir nur noch Objekte«, erklärt uns ein älterer Mann, »daher wollen wir keine Regierungsgehälter für unsere Polizisten und außerdem sollen sie auch arbeiten und nicht nur Polizisten sein«. Polizist werden kann ohnehin nur, wer Ansehen in der Bevölkerung genießt und von der Gemeindeversammlung ernannt wird, über Lese- und Schreibkenntnisse verfügt und weder drogen- noch alkoholabhängig ist. »Polizist sein ist ein sozialer Dienst an der Gemeinde«, so der Funker Bruno Placido Valerio aus Buenavista. Dafür werden die Familien der Polizisten von den Gemeinden mit produktiven Projekten unterstützt. Am Anfang mussten die Gemeindepolizisten auch für die Kosten der Stützpunkte aufkommen, doch aufgrund des Drucks der Gemeinden zahlt das Bürgermeisteramt von San Luís mittlerweile einige Ausgaben. Einig ist man sich aber in der Ablehnung, jemand anderes als den Gemeinden gegenüber verantwortlich zu sein.

Als ich mich als Journalist zu erkennen gebe, werde ich in das Büro gebeten. Der ältere Mann und drei weitere studieren meinen internationalen Presseausweis genau und stellen mir einige Fragen. »Die Polizei ist von der Bevölkerung geschaffen, daher müssen wir vorsichtig sein und sie erhalten«, erklärt mir mein vorheriger Gesprächspartner und stellt sich als Helacio Barrera Quintero, Koordinator der indianischen Repräsentanten, vor. Er ergreift als erster das Wort und erläutert den Ursprung der Gemeindepolizei: »In den 80er Jahren begannen in dieser Region die Überfälle auf den Wegen zwischen den Dörfern, Anfang der 90er wurden die Dorfbewohner, die zum Markt nach San Luís fuhren, immer häufiger ausgeraubt.« Die Gemeindevertreter baten alle Instanzen der Regierung um Hilfe, doch es war umsonst. »Die Polizei und das Militär taten nichts. Die Banditen haben Leute überfallen, geschlagen und auch Frauen vergewaltigt. Eine Bande, die in der Gegend aktiv war, verursachte im Laufe der Jahre fast 70 Tote.«

Die regionale Gemeindeversammlung kam zu dem Schluss, dass sie ihren Schutz selbst organisieren muss. Doch die Diskussionen dauerten neun Monate, denn eine eigene bewaffnete Polizei, das wussten die Gemeindevertreter schon damals, würde sich nicht nur die Banditen, sondern auch die Regierung, die offizielle Polizei und die Armee zum Feind machen. So begann in aller Stille der schrittweise Aufbau der Gemeindepolizei und am 14. Oktober 1995 war es schließlich soweit: 36 Gemeinden aus drei Landkreisen gründeten zeitgleich ihre Gemeindepolizei. Die Dörfer kamen selbst für die Bewaffnung auf, einige besaßen zu Beginn sogar nur Macheten und einfache Karabiner. »Wir hatten keine guten Waffen, die Kriminellen aber schon«, so Augustín Barrero, der Vorsitzende des Exekutivkomitees der Gemeindepolizei, und fügt lächelnd hinzu: »Wir haben sie mit unserer Einigkeit besiegt.« Alle Gemeinden ernannten ihre lokalen Comandantes und gewöhnlichen Polizisten, zwischen sechs und zwölf in jeder Gemeinde. Auch einige Frauen leisten ihren Dienst in der Polizei, »denn Frauen reden ja nicht über alles mit Männern«, so Helacio Barrera.

Staatsanwaltschaft, Armee und die Regierung des Bundesstaates wurden von der Gründung der Kommunalpolizei informiert und erwiderten den Kommissaren, das sei illegal. »Aber wir antworteten, dass wir gar nicht um Erlaubnis fragen würden, sondern nur mitteilten, dass dies die Entscheidung der Bevölkerung und der Versammlung sei«, erzählt Helacio Barrera mit einem verschmitzten Lächeln. »Wir haben ihnen auch gesagt, dass die Bundespolizei nicht mehr in die Region darf, ohne zuvor die Gemeindevertreter zu informieren«, fügt Augustín Barrero hinzu, »sonst werden die Polizisten festgenommen«. Doch schon bald nach der Gründung der Gemeindepolizei tauchte ein weiteres Problem auf, »denn wenn wir Banditen gefangen genommen und der Regierungspolizei übergeben haben, so wurden sie gleich wieder freigelassen oder im Gefängnis so schlecht behandelt, dass sie die Gemeinden hinterher noch mehr hassten«, so Helacio Barrera. Vor allem die Wohlhabenden haben das Recht auf ihrer Seite, berichtet Augustín Barrero: »1997 haben wir einen Viehzüchter festgenommen, der zwei Rinder und 30 Ziegen gestohlen hatte. Wir haben ihn der Polizei übergeben und die hat ihn wieder laufen lassen, die Justiz hat ihn frei gesprochen. Die Regionalversammlung hat protestiert und beschlossen, die Gefangenen nicht mehr zu übergeben, sondern eine eigene Justiz einzuführen: Denn Artikel 39 der Verfassung besagt ›Alle Macht geht vom Volke aus und es hat jederzeit das Recht seine Organisationsformen zu verändern‹.« Ende 1997 wurde schließlich die eigene Justiz eingeführt, die sich vorwiegend auf zwei Prinzipien stützt: einerseits die materielle Wiedergutmachung des entstandenen Schadens und andererseits die »Resozialisierung« der Täter. Die Strafe besteht aus Gemeinschaftsarbeiten in den verschiedenen Gemeinden, zusätzlich umfasst die Haftzeit auch Gespräche über Verantwortlichkeit und Kollektivität mit angesehen Personen des Dorfes, wie etwa Lehrern.

Den Tag verbringen die Gefangenen in der Regel draußen, eingesperrt werden sie nur nachts. Sie bleiben jeweils zwei Wochen in einem Dorf, das in dieser Zeit auch für ihren Unterhalt aufkommt. Sonntags müssen sie nicht arbeiten und haben Familienbesuchstag. Alle Gefangenen haben auch das Recht, ihre Ehefrau in einem geschlossenen Raum, mit Intimsphäre, zu sehen. Umstände, die viele der Gefangenen und ihrer Familien schätzen, da in Mexiko ein Gefängnisaufenthalt in der Regel mit immensen Kosten für Bestechung für jede Kleinigkeit verbunden ist. »Die Täter merken, dass die Leute sie gut behandeln. Wer hier ins Gefängnis kommt, verliert nicht seine Besitztümer, sondern bekommt eine bessere Ausbildung,« so Pedro Martinez Placido, Vertreter von Buenavista und Gemeindepolizist. Ortsfremde werden vor die Wahl gestellt, die Strafe der eigenständigen Justiz zu akzeptieren oder der offiziellen Polizei übergeben zu werden. »1997 haben wir eine Person aus dem Bundesstaat ›Estado de México‹ festgenommen, der gemeinsam mit jemandem aus der Gegend Überfälle verübt hatte«, erzählt Helacio Barrera, »und er akzeptierte die Strafe«. Und Augustín Barrero fügt hinzu: »Bei den Gesprächen mit den Gemeindevertretern brachen die beiden in Tränen aus, und manchmal auch die Gemeindevertreter. Die beiden waren arm und wollten aus ihren Problemen raus. Sie wurden zu zwei Jahren verurteilt, aber nach acht Monaten wegen guter Führung frei gelassen und der Fremde ließ sich hier nieder.«

Bei kleinen Vergehen richten die Gemeindevertreter, einige Strafen sind genau festgelegt. Anders als sonst häufig in Mexiko kann die Freiheit nicht erkauft werden. »Aber jeder Gemeindevertreter muss über die 15 Tage, die der Gefangene in seinem Dorf war, einen Bericht schreiben. Wenn es gut läuft, wird die Strafe verkürzt«, erläutert Pedro Martinez. Das gilt auch bei schweren Vergehen, über die die Indianer-Koordination Cramcchac (Coordinadora Regional de Autoridades Indígenas de la Montaña y la Costa Chica AC), entscheidet, die aus sechs in der Regionalversammlung gewählten Vertretern besteht. Im Falle von Vergewaltigung beispielsweise entscheidet grundsätzlich die Cramcchac. Bei gravierenden Delikten kann sich die Verhandlung lange hinziehen. Augustín Barrero berichtet von einem besonders schwer wiegenden Fall: »Ein Mann beging zwei Morde und vergewaltigte ein siebenjähriges Mädchen. Es wird noch verhandelt, aber die Strafe wird wohl 30-40 Jahre betragen. Er wird nur früher rauskommen können, wenn die Regionalversammlung zwischendurch eine andere Entscheidung trifft.«

Aus den einst 36 Gemeinden in drei Landkreisen, die sich an der Gemeindepolizei und an der »indianischen Justiz« beteiligten, sind heute 53 Gemeinden in fünf Landkreisen, mit insgesamt 420 Polizisten geworden. Das Projekt ist längst kein indianisches mehr, neben Nahua- und Tlapaneken-Dörfern sind auch zwei mestizische Gemeinden beteiligt. Doch mit dem Aufbau der eigenen Justiz begann auch eine verstärkte Repression gegen die Gemeinden und ihre aktiven Vertreter. Helacio Barrera hat schon über zehn Haftbefehle angesammelt und mittlerweile liegen Dutzende weitere Haftbefehle vor. Sie wurden ausgestellt, nachdem hunderte Indianer aus Guerrero Mitte 2001 das Regionalparlament in Chilpancingo besetzten, um gegen die von der Regierung verabschiedeten Autonomiegesetze zu protestieren, da sie nicht den vorher ausgehandelten Abkommen entsprachen.

Es ist an der Zeit, Mittag zu essen. Einige junge Polizisten haben in einem großen Kessel ein Huhn mit Gemüse gekocht. Wir werden eingeladen und alle, auch der Gefangene, bekommen gleich viel zu essen. Der Gefangene isst in seiner Zelle, in die er in der Mittagspause wieder eingeschlossen wurde. Danach bekommt er Besuch von seiner Ehefrau und seiner kleinen Tochter, die zu ihm in die Zelle dürfen und ihm eine Tasche voller Lebensmittel bringen. Ich werde eingeladen, einige Dörfer zu besuchen. Auf einem Pickup fahren wir in die Berge gemeinsam mit Bruno, der sich eine Pistole in den Gürtel schiebt, und weiteren sechs jungen uniformierten Gemeindepolizisten mit Karabinern und halbautomatischen Waffen. Wir fahren nach Buenavista, mehrere Stunden geht es mit dem Geländewagen über Stock und Stein. Straßen gibt es in der Region nicht, die mit riesigen Steinen übersäten trockenen Pisten sehen aus wie ein trockenes Flussbett. Sie schlängeln sich die Berge rauf und runter, gesäumt von Schluchten, Bergen und roter Erde. Immer wieder kommen wir durch kleine Dörfer, die aus einer Hand voll Hütten bestehen, nach und nach steigen die mitfahrenden Gemeindepolizisten von der Ladefläche des Pickups ab und bleiben in den Dörfern zurück.

Nach fast vier Stunden erreichen wir Buenavista. Das Dorf steht auf einem Hügel, der zwischen den Bergen aus einem Tal herausragt. Knapp über 1000 Menschen wohnen hier, darunter auch Bruno mit seiner Familie. Mittels Lautsprecher, die über das Dorf verteilt sind, wird für den Nachmittag eine Zusammenkunft des Dorfrates einberufen und anschließend eine Frauenversammlung angekündigt. Wir stellen uns dem Dorfrat vor, der uns von den Problemen und Vorhaben der Gemeinschaft berichtet und uns herzlich willkommen heißt. »Wir Indígenas wurden lange Zeit geschlagen und verfolgt. Jedes Mal wenn wir in die Bezirkshauptstadt fuhren, wurden wir von der Polizei irgendeiner Tat beschuldigt. Das gleiche passierte sogar wenn wir überfallen wurden. Wir wollen keine Polizei, die unsere Rechte missachtet, sondern eine, die der Gemeindeversammlung unterliegt. Deswegen müssen wir auch unsere eigene Polizei unterstützen, egal ob gegen die Kriminellen oder gegen die Regierung«, erklärt uns ein Vertreter des Dorfrates. Die Gemeindepolizei von Buenavista wurde bereits dreimal entwaffnet, danach beschloss die Gemeinde, dass die Polizei zurückschießen solle, wenn die Armee noch einmal versucht sie zu entwaffnen, sie hätten die volle Unterstützung der Bevölkerung. So geschah es denn auch und seitdem lässt die Armee die Gemeindepolizei in Ruhe. Doch elf Gemeindevertreter und Polizisten aus Buenavista haben immer noch einen Haftbefehl offen - den sich allerdings bisher niemand zu vollstrecken traut.

Hinter dem Rathaus finden sich hunderte von Frauen zusammen. Die Gruppe ist so groß, dass sie aufgeteilt werden muss. Hermelinda - die als erste Frau in Guerrero den Vorsitz einer autonomen Gemeinde innehatte - spricht zu einer Gruppe von etwa 150 Frauen auf Nahua. Marta hingegen ist Amuzgo-Indianerin, ihre Sprache versteht hier niemand und so richtet sie sich an etwa 100 spanischsprachige Frauen. Beide sprechen über die Rechte der Frauen, Ungerechtigkeit und den Kampf gegen Unterdrückung. Über eine Stunde lang hören die Frauen gebannt zu und nicken zustimmend, reden über ihre Situation in Buenavista und wirken nach dem Treffen deutlich gestärkt und ermuntert. Einigen Männern ist dieses Selbstbewusstsein zwar suspekt, doch niemand traut sich Hermelinda oder Marta zu widersprechen, die beiden haben sich mit ihrer Arbeit Respekt verdient. Mitten im Dorf steht ein großes Gebäude, das Erdgeschoss ist bereits fertig und nun wird am ersten Stock gebaut. Bald soll es die Polizeiwache, eine Krankenstation, eine Ausbildungsstätte, einen Computersaal, eine Bibliothek, eine Post- und Telegrafenstation sowie einen Versammlungssaal beherbergen. Für den Bau wurde mittels zahlreicher Aktionen ein Regierungszuschuss von umgerechnet 11.000 Euro erkämpft, den Rest sammelten die Dorfbewohner. Das war nicht leicht. Nahezu 90% der Bevölkerung der Region leben vom Kaffeeanbau, doch die Preise für die frisch gepflückten Bohnen sind so niedrig, dass sie für fast acht Kilo geschälte und getrocknete Kaffeebohnen gerade mal einen Euro bekommen.

Um der vom Weltmarkt zugeschriebenen Monokultur und dem Elend zu entgehen, gründete die Regionalversammlung zusätzlich die »Organización Comunitaria Regional« (OCR), die versucht, ein regionales Selbstversorgungsnetz und einen regionalen Markt aufzubauen. »Ich säe Chili, du Tomaten und ein anderer Zuckerrohr und dann tauschen wir die Waren«, erklärte Cirino Plácido, der Vertreter Buenavistas im »Consejo Guerrerense« und einer der Köpfe der OCR. »Wir reden nicht von Autonomie, denn das Wort verursacht viel Aufhebens, aber wir praktizieren sie«, fügt Bruno mit einem Lächeln hinzu.


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