Wahlnachlese Venezuela
Blinde Loyalität ist passé
von Dario Azzellini
Der Sieg von Hugo Chávez bei den Präsidentschaftswahlen in Venezuela am 7. Oktober fiel deutlicher aus, als es die deutsche Presse hätte vermuten lassen. Laut dem amtlichen Endergebnis stimmten 55,13 Prozent der WählerInnen (8 181122 Stimmen) für Chávez und 44,25 Prozent (6 566 712 Stimmen) für Henrique Capriles, den Kandidaten des breiten Oppositions-bündnisses. Die vier weiteren Optionen erhielten zusammen etwa 90 000 Stimmen, knapp über 0,5 Prozent. Von diesen schnitt der Trotzkist Orlando Chirino, der sich als linke Alternative zu Chávez präsentierte, mit 4137 Stimmen (0,02 Prozent) am schlechtesten ab. Chávez gewann in 21 von 23 Bundesstaaten (und verlor in Mérida und Táchira) sowie im Hauptstadt-distrikt. Chávez besiegte Capriles auch im Bundesstaat Miranda, wo Capriles Gouverneur ist.
Über den Wahlsieg von Chávez dürften sich auch die allermeisten Regierungen Lateinamerikas und der Karibik – außer denen in Honduras, Paraguay und Mexiko – gefreut haben. Venezuela nimmt eine zentrale Rolle in den diversen Initiativen regionaler und kontinentaler Integration ein (ALBA, CELAC, UNASUR u. a.) und ist – trotz deutlicher politischer Unterschiede in der internationalen und der Wirtschaftspolitik – ein strategischer Partner Argentiniens und Brasiliens. Selbst für die Regierung Santos in Kolumbien war der Wahlsieg von Chávez bedeutend. Mit einer rechten Regierung in Venezuela hätte der angelaufene Friedensprozess mit der FARC kaum Chancen auf Erfolg, Chávez ist in den Gesprächen der wichtigste Garant.
Einige deutschsprachige Medien schrieben, das Ergebnis der Präsidentschafts-wahlen sei „überraschend deutlich“ ausgefallen. Dies deutet darauf hin, dass die Medien ihrer eigenen Propaganda Glauben geschenkt haben. Denn laut nahezu allen Umfragen im Vorfeld zeichnete sich kein anderes Ergebnis ab. Lediglich das unseriöse und eng mit der Opposition verquickte Institut Consultores 21 vermeldete im Vorfeld der Wahlen, Capriles würde gewinnen. Gegen jede Vernunft machten sich die meisten deutsch-sprachigen Medien zum Sprachrohr der venezolanischen Opposition (und da gab es kaum einen Unterschied zwischen vermeintlich liberalen Medien oder rechter Presse) und verkündeten im Vorfeld, Chávez habe einen gefährlichen Gegner, es sei völlig unklar, wer die Wahl gewinnen würde, die Wirtschaft liege am Boden, weil Chávez das Geld aus dem Ölgeschäft mit Geschenken an die Armen verpulvere. Es war von Repression gegen Oppositionelle die Rede und vieles mehr. Die Frankfurter Rundschau fragte am 5. Oktober mit Bezug auf Chávez: „Ist seine Zeit bald vorbei?“ Zu Capriles erklärte sie: „In jüngsten Umfragen kommt er dem Amtsinhaber gefährlich nahe, in einigen liegt er sogar knapp vor ihm.“ Die Süddeutsche Zeitung berichtete am gleichen Tag über Chávez: „Sein Zustand ist so rätselhaft wie der Ausgang dieser Wahl“ und bezeichnete Capriles als „jung-dynamisches Kontrast- programm zum kranken Amtsinhaber“. Auch das klare Wahlergebnis, elf Prozent Abstand bei knapp 81 Prozent Wahlbeteiligung, konnte die meisten Medien nicht davon abbringen, weiter von der Schwäche Chávez’ und der Diktatur in Venezuela zu schreiben. Die „Welt“ titelte am 9. Oktober: „Hugo Chávez hat knapp gesiegt.“
Autorin Sandra Weiss, bekannt für ihren militanten Anti-Chavismus, tönte: „Chávez’ Popularität schwindet.“ Bereits am 8. Oktober hatte Hildegard Stausberg ebenfalls in der Welt Venezuela zu einer Diktatur erklärt und die venezolanische Bevölkerung mehrheitlich für schwachsinnig befunden.
Eine Verbesserung der Lage in Venezuela könnten nur diejenigen „behaupten, die von ihm und seiner Bereicherungsdiktatur profitieren“. Denn von den Erdöl-einnahmen sei bei den Armen nicht viel angekommen, aber „Chávez tut alles, damit diese das nicht merken“. Wenig nutzt es da, dass das Carter-Zentrum und Jimmy Carter selbst, die seit Jahren zu den intensivsten Wahlbeobachtern gehören und wohl kaum einer linken Verschwörung zugunsten Chávez verdächtigt werden können, im Vorfeld die Wahlen in Venezuela als die demokratischsten der Welt bezeichneten. Ebenso wenig beeindruckt es die PropagandistInnen, dass Venezuela in den ersten neun Monaten dieses Jahres auf fünf Prozent Wirtschaftswachstum blickt und selbst der IWF für dieses Jahr sechs Prozent Wachstum erwartet, dass Venezuela im vergangenen Jahrzehnt die größten Fortschritte aller lateinamerikanischen Länder in Sachen Armuts-bekämpfung und Verteilungsgerechtigkeit gemacht hat und mittlerweile zu den zehn Ländern der Welt mit dem höchsten Anteil an Studierenden in der Bevölkerung gehört. Die Zahlen lassen sich auch bei internationalen Organisa-tionen wie etwa der UNO nachlesen. Die Liste könnte endlos fortgesetzt werden. Doch das macht keinen Unterschied. Die deutschsprachige Presse ist in dieser Hinsicht weitgehend realitätsresistent.
Gegen Venezuela läuft die größte Propagandakampagne seit dem Vietnamkrieg. Das ist wichtig. Niemand soll wissen, was wirklich in Venezuela los ist. Und je tiefer die Krise, desto größer die Lügen und Unterschlagungen in der Presse. Selbstverständlich ist in Venezuela nicht alles gelöst und es gibt auch noch Armut. Aber niemand muss hungern. In den Schulen gibt es jeden Tag kostenlos Frühstück, Mittagessen und Nachmittagssnack für die Kinder, staatliche Supermärkte verkaufen (durch die Ausschaltung von Zwischen-händlern) Grundnahrungsmittel zu Preisen, die 40 bis 70 Prozent unter dem Marktpreis liegen. Für diejenigen, die sich auch das nicht leisten können, werden in Ernährungshäusern täglich eine Million Mahlzeiten kostenlos abgegeben. Es gibt ein kostenloses Gesundheitssystem, auch Brillen und Zahnersatz sind kostenlos. Studierende zahlen keine Studiengebühren, im Gegenteil, Hundert-tausende bekommen kleine Stipendien. Anstatt Sozialkürzungen vorzunehmen und Banken mit dreistelligen Milliardensummen zu unterstützen, wurden in Venezuela viele Großbanken verstaatlicht; strenge Finanzauflagen verhinderten Bankenpleiten. Einige betrügerische kleine Privatbanken, die kurz vor der Pleite standen, wurden verstaatlicht und die Einlagen der SparerInnen ausgezahlt. Das ist kein gutes Beispiel angesichts der EU-Linie.
In Venezuela haben sich dadurch jedoch die politischen Parameter deutlich verschoben. Daher legte die Opposition ihre neoliberalen Pläne auch nicht offen dar. Capriles versprach während seiner Wahlkampagne sogar, alle Misiones (Sozial-programme) beizubehalten – dabei aber viel effizienter und effektiver als Chávez zu sein. Im Endspurt vor den Wahlen sicherte er gar zu, das Staatenbündnis ALBA aufrechtzuerhalten.
Capriles, der zur Führungsriege beim Putsch gegen Chávez im April 2002 gehörte und die versuchte Stürmung der cubanischen Botschaft anleitete, stellte sich im Wahlkampf als Bewunderer Lulas dar – wovon sich Lula und die PT sofort in einer offiziellen Erklärung distanzierten. Niemand traute sich, neoliberale Politiken vorzuschlagen oder gutzuheißen. Der Oppositionsabgeordnete William Ojeda wurde von seiner Partei Un Nuevo Tiempo und dem Oppositionsbündnis ausgeschlossen, nachdem er in einem Zeitungsinterview verkündet hatte, er sei besorgt angesichts der „neoliberalen Obsession“ einiger Oppositionsvertreter. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Die Opposition bestritt, neoliberale Orientierungen zu haben, und schloss Ojeda sofort aus ihren Reihen aus.
Der Direktor des Meinungsforschungsinstituts Hinterlaces, Oscar Schemel, dem jede Sympathie für Chávez oder den laufenden Transformationsprozess fern liegt, erklärte in einem Interview nach den Wahlen: „Die Opposition stellt weiterhin keine Alternative dar … und hat nur die Protestwähler eingesammelt.“ Weiterhin sagte er: „Der Chavismus stellt heute eine emotionale Community, eine Klassenidentität und vor allem eine neue populare politische Kultur dar.“ Bei einer genaueren Betrachtung der Ergebnisse ist allerdings auch jede Euphorie seitens der Kräfte des Transformations-prozessesfehl am Platz. Bei den Präsidentschaftswahlen 2006 gewann Chávez noch mit 25 Prozentpunkten Vorsprung (bei 75 Prozent Wahlbeteiligung). Während die Opposition seitdem 2,2 Millionen Stimmen hinzugewonnen hat, waren es für Chávez nur knapp 900 000 Stimmen mehr. Warum konnten nach weiteren sechs Jahren chavistischer Regierung, trotz aller eindeutigen sozialen und ökonomischen Verbesserungen, nicht mehr Menschen von dem Projekt überzeugt werden? Das hat vielfältige Gründe. Dazu gehört unter anderem, dass die ökonomische Umverteilung schneller stattfindet als der kulturelle Wandel (und es gab erhebliche Versäumnisse, diesen Wandel stärker voranzutreiben). Diejenigen, die einen sozialen Aufstieg hinter sich oder in Aussicht haben, sind nun nicht mehr unbedingt für eine Vertiefung des Transformationsprozesses in Richtung Sozialismus zu gewinnen. Das zeigt sich z.B. an den Ergebnissen der Präsidentschaftswahlen in der venezolanischen Community im Ausland, wo 90 Prozent für Capriles stimmten. Im Allgemeinen migrieren aus Venezuela zwar ohnehin überwiegend Angehörige der Mittel- und Oberschichten, der Großteil in die USA oder nach Spanien, von daher ist das Ergebnis hier keine Überraschung. Aber selbst in Ländern, in denen die Wahlberechtigten wesentlich aus Botschaftspersonal und Studierenden mit Stipendien der Regierung bestehen, gewann Capriles haushoch. Eine der zentralen Sorgen der Bevölkerung Venezuelas ist die hohe Kriminalitätsrate. Diese ist zwar nicht die „höchste der Welt“ oder „die höchste Lateinamerikas“, wie international in den Medien behauptet wird, liegt aber über dem latein amerikanischen Mittel. Dass sie die Sorgenliste der VenezolanerInnen anführt, liegt auch daran, dass in Venezuela – wie das konservative chilenische Meinungs-forschungsinstitut Latinobarómetro schrieb – existenzielle Probleme wie Arbeitslosigkeit oder Gesundheits-versorgung anders als in anderen lateinamerika-nischen Ländern kaum eine Rolle spielen.
Jenseits aller Zahlen und Vergleiche stellt die hohe Kriminalität aber eindeutig ein schwerwiegendes Problem dar. Woran liegt die hohe Kriminalität? Der „Krieg gegen die Drogen“ hat die Drogengewalt über weite Teile Lateinamerikas ausgedehnt, Venezuela als unmittelbares Nachbarland Kolumbiens ist davon besonders stark betroffen. Auch die „Demobilisierung“ der kolumbianischen Paramilitärs hat für eine Zunahme der Kriminalität in Venezuela gesorgt. Und auch die Frage nach dem kulturellen Wandel stellt sich hier wieder: Venezuela ist eine stark konsumistische Gesellschaft, die zudem aufgrund der erdölbasierten Rentenökonomie eine „Kultur des schnellen Geldes“ hat. Umverteilung und Wirtschaftswachstum haben dafür gesorgt, dass Geld und Güter viel weiter verbreitet und in der Folge stärkere Begehrlichkeiten geweckt sowie mehr Möglichkeiten geschaffen worden sind. Hinzu kommt eine weitgehend korrupte und kriminelle Polizei, die oftmals eher Teil des Problems als der Lösung ist. Nach über drei Jahren Diskussionen, Consultas und Vorbereitungen nahm im Dezember 2009 die neu gegründete Policía Nacional
Bolivariana (Bolivarianische Nationalpolizei, PNB) ihre Arbeit auf. Die Kommission für die Polizeireform und die neu gegründete Polizeischule werden von der Soziologin Soraya El Achkar maßgeblich mitbestimmt. Sie hatte in den 80er-Jahren eine NRO gegen Polizeigewalt ins Leben gerufen, nachdem ein Bekannter von ihr von der Polizei ermordet worden war. In den nächsten Jahren sollen alle Polizeieinheiten und Polizisten im Land durch die neue PNB ersetzt werden. In ihren ersten Einsatzgebieten konnte die Kriminalitäts- und Mordrate erheblich gesenkt werden. Ob die PNB tatsächlich nicht nur eine funktionierende herkömmliche Polizei wird, sondern wie angekündigt eine andere Polizei, die nicht auf Repression, sondern auf Kooperation mit den Communities setzt, bleibt abzuwarten.
Außerdem herrscht großer Unmut darüber, dass viele Probleme auch nach 14 Jahren Chávez-Regierungnoch nicht gelöst worden sind. So funktioniert die Müllabfuhr in vielen Städten nach wie vor schlecht, einzig in Caracas-Stadt ist nach der Enteignung mehrerer privater Abfallunternehmen in den vergangenen zwei Jahren eine schrittweise Verbesserung spürbar. Der Stromverbrauch hat sich in den letzten 14 Jahren mehr als verdoppelt, das Stromnetz ist infolgedessen von häufigen Ausfällen betroffen. Viele Institutionen arbeiten ineffizient und es besteht wenig oder keine Koordination miteinander. Die Korruption ist nach wie vor weit verbreitet, Beziehungen und Verwandtschaft spielen bei der Vergabe von Aufträgen oder Ämtern (wie eh und je) eine wichtigere Rolle als Fähigkeiten und politisches Bewusstsein.
Und obwohl die Regierung in Venezuela Arbeiterkontrolle propagiert, muss diese erkämpft werden. Das gilt auch für die Autonomie der lokalen Selbstverwaltung, die gegenüber gegenüber den meisten Institutionen kontinuierlich durchgesetzt
werden muss. Keine Institution schafft sich selbst ab. Institutionen folgen einer inhärenten Logik, ihre Macht zu reproduzieren und auszuweiten, soziale Prozesse kontrollieren und planen zu wollen. Große Unzufriedenheit herrscht im eigenen Lager offensichtlich auch mit der PSUV. Von den 8,2 Millionen Stimmen für Chávez gingen 1,7 Millionen an elf andere linke Parteien, die den Prozess unterstützen. Diese konnten seit den letzten Wahlen um einiges zulegen. Damit drückten viele AnhängerInnen des Bolivarianischen Prozesses ihren Unmut über die Führungsansprüche einer Partei aus, die kein Diskussions- und Entscheidungsforum ist, sondern eine Wahlmaschinerie, in der politisch-institutionelle RepräsentantInnen um Posten und Einfluss schachern. Ebenso herrscht weitgehend Unzufriedenheit mit den meisten PSUVGouverneuren
und Bürgermeistern. Das wird sich auf die kommenden Regionalwahlen im Dezember und die lokalen Wahlen im April 2013 auswirken. Nachdem die PSUV kurz nach den Präsidentschaftswahlen die „Einheitskandidaten“ für die Gouverneurswahlen vorstellte und dabei die Vorschläge und Interessen der anderen Parteien und der Basis-organisationen weitgehend überging, brach ein Sturm der Entrüstung los. In den Medien des Prozesses erschienen Hunderte von kritischen Diskussionsbeiträgen. Bereits einige Tage später präsentierten die pro-chavistischen Kleinparteien, diverse Basisbewegungen und PSUV-Dissidenz eigene Kandidaturen für 13 der 23 Gouverneurswahlen. Dies sind keine einheitlichen Kandidaturen einer linken Opposition, sie werden im Kontext unterschiedlicher Kräftekonstellationen unterstützt und nicht immer sind sie überzeugender als die PSUV-Kandidatur. Einige Fälle sind allerdings eklatant. So etwa die erneute Kandidatur von Francisco Rangel in Bolívar. Er hat als Gouverneur ein korruptes System der Selbstbereicherung aufgebaut
und stellt sich aktiv der Arbeiterkontrolle in den Basisindustrien entgegen. Rangel ist an der Basis und in weiten Teilen der Bevölkerung Bolívars verhasst. Hohe VertreterInnen der PSUV und der Regierung haben nun hektisch begonnen, auf die anderen Parteien und Initiativen zuzugehen und Gespräche zu suchen. Bis zu den Wahlen werden sicher noch einige Kandidaturen neu verhandelt werden. Das wird aber mit großer Sicherheit nicht überall geschehen. In vielen Fällen, in denen dies nicht gelingt, könnte dies einen Sieg für die Opposition zur Folge haben.
Nach 14 Jahren ist blinde Loyalität im Namen der Einheit nicht mehr zu haben. Offen ist bisher allerdings, wie vereint die Opposition antreten wird. Erste getrennte Kandidaturen gibt es auch schon bei ihr. Der alleinige Führungs-anspruch von Capriles und seiner Partei Primero Justicia – die als stärkste Partei im Oppositionsbündnis etwas mehr als ein Viertel der Stimmen mobilisierte – hat für starke Anspannungen und Konflikte gesorgt. Diese werden in den Regionalwahlen und in den lokalen Wahlen noch stärker zu Tage treten. Für die Basisorganisationen geht es nun aber jenseits aller Wahlen in den nächsten Jahren wesentlich darum, die Kämpfe um lokale Selbstverwaltung, Arbeiter-kontrolle, Produktion und kulturellen Wandel zu intensivieren und in, mit, ohne und gegen die Institutionen die Transformation zu vertiefen.
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