Ex-Hausbesetzer bauen ein Tagungsgebäude in Wernsdorf

22 Jahre voller Projekte

Wilhelmstraße, nahe der ehemaligen Mauer, mitten im zukünftigen Stadtzentrum Berlins. Vor nicht einmal 20 Jahren prägten hier Kriegsruinen und Freiflächen das Bild, heute wird emsig gebaut. Büro-, Verwaltungs- und Geschäftsbauten schießen aus dem Boden. Mitten drin steht ein Haus mit bunter Fassade, es wirkt wie das berühmte gallische Dorf, allein im feindlichen Territorium.

Als das Thomas-Weißbecker-Haus in der Wilhelmstraße 9 im März 1973 besetzt wurde, war diese Ecke Westberlins, direkt gegenüber der Ostberliner Friedrichstraße, uninteressant. Mittlerweile läßt die SPD ihre Bundeszentrale schräg gegenüber bauen. Spekulanten, Firmen und Regierung haben sich das Territorium aufgeteilt. Immer mehr Gutverdienende ziehen in den Kiez.

"Vertreibung und soziale Säuberung machen sich immer mehr bemerkbar. Bald kommen auch die Nobelcafés und die Läden der Bonzen", sagt einer der etwa 50 BewohnerInnen des Tommy-Hauses, wie es genannt wird. "Es ist zu befürchten, daß die Hauptstadtplaner uns hier nicht dulden werden." Doch widerstandslos läßt sich das Tommy-Haus weder vertreiben noch als alternativer Farbtupfer integrieren, darin sind sich alle einig.

Die Geschichte des Tommy-Hauses gehört zur Geschichte Westberlins, zur Geschichte der Linken in dieser Stadt. Jugendliche Obdachlose und TrebegängerInnen waren es, die 1973 das leerstehende Gebäude besetzten, um sich gemeinsamen Wohnraum zu schaffen. Es war nach dem Georg-von-Rauch-Haus die zweite Hausbesetzung in Berlin und eines der ersten großen Wohnkollektive der Stadt.

Die Jugendlichen des Tommy-Hauses waren in den 70er Jahren Teil einer Jugendbewegung, die sich zunehmend politisierte und die kapitalistische Gesellschaft in allen Bereichen infrage stellte. Benannt wurde das Haus nach Thomas Weißbecker, einem Berliner Linken, der bei einer vermeintlichen Ausweiskontrolle in der Augsburger Fußgängerzone von Polizisten erschossen worden war. Wie viele andere Opfer der von der Polizei inoffiziell eingeführten sogenannten Kill-Fahndung zur Einschüchterung der wachsenden linken Bewegung war Thomas Weißbecker unbewaffnet. Nachdem das Haus jahrelang immer wieder von Polizei durchsucht, die Einrichtung mehrfach zerstört wurde, um das Projekt zu zerschlagen, bekam das Tommy-Haus langfristige Verträge.

In den letzten 22 Jahren sind im Tommy-Haus zahlreiche verschiedene Projekte entstanden. Unter anderem eine Treber-Etage für obdachlose Jugendliche, eine Sport-Etage, ein Kneipencafé, das Palästina-Büro, Sprachunterricht für tamilische Kinder, ein Veranstaltungssaal für Parties, Konzerte und politische Termine sowie eine Kiezküche. Zu dem "Verein Sozialpädagogische Sondermaßnahmen Berlin" (SSB), den das Tommy-Haus als offiziellen Träger der Projekte gegründet hat, gehören noch eine KfZ-Werkstatt, eine Tischlerei, die Wohnprojekte in der March- und der Mannsteinstraße sowie das Jugendzentrum Drugstore in Schöneberg.

Das jüngste Projekt des SSB ist das Kinderferien- und agungshaus Wernsdorf. Seit 1992 baut und renoviert eine Gruppe aus dem Tommy-Haus auf dem ehemaligen Gelände der Volkspolizei. Umgeben von Wald und in unmittelbarer Wassernähe, bietet das knapp 1,5 Hektar große Areal am südöstlichen Stadtrand von Berlin Übernachtungsmöglichkeiten für etwa 50 Personen. Nach intensiven Ausbesserung-und Baumaßnahmen kann es seit dem letztem Jahr von Kinderläden zur Erholung und von politischen Gruppen zu Seminaren und Treffen genutzt werden.

Bei der bloßen Bereitstellung der Räume soll es nicht bleiben. "In Zukunft wollen wir hier auch Seminare und Bildungsveranstaltungen für Jugendliche zu Themen wie Antifa, Internationalismus, Ökologie und vieles mehr anbieten. Dazu brauchen wir allerdings noch Unterstützung", sagt einer der Tommy-Haus-Bewohner, der seit 1992 in Wernsdorf mitwerkelt.

Wer sich dafür interessiert oder Zeit und Lust hat, in der Kiezküche des Tommy-Hauses mitzumachen, bekommt unter der Telefonnummer 030/2518539 nähere Informationen.