Venezuela feiert den 200. Jahrestag der Revolte gegen die Kolonialherrschaft

Eine unvollendete Befreiung

Mit der Absetzung des spanischen Generalkapitäns heute vor 200 Jahren begann der Kampf Venezuelas um Unabhängigkeit. Viele benachteiligten Gruppen in Lateinamerika sähen die Befreiung als unvollendet an, sagt der Politologe Dario Azzellini. Schließlich sei die Abhängigkeit vom Norden weiter prägend.

Holger Hettinger: In Venezuela feiert man heute den 200. Jahrestag des Aufbegehrens gegen die spanischen Kolonialherren. Jener 19. April 1810 ist für ganz Lateinamerika bedeutsam, denn von den Aufständen in Venezuela griff das revolutionäre Feuer rasch über auf andere Länder: auf Argentinien, Bolivien, Chile, Ecuador, El Salvador, Kolumbien, Mexiko, Paraguay und Uruguay.

Zwei Ikonen hat diese Befreiungsbewegung hervorgebracht: den Venezulaner Simon Bolivar und den Argentinier José Francisco de San Martín. Beide werden in Lateinamerika auch heute noch verehrt. Allerdings nicht vorbehaltlos, es gibt auch sehr kritische Stimmen. So spricht etwa der mexikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger Octavio Paz von Selbstverleugnung, ja sogar von Selbstbetrug. Über dieses zwiespältige Erbe der Befreiung hat meine Kollegin Liane von Billerbeck mit dem Politologen Dario Azzellini gesprochen. Er ist Autor mehrerer Bücher über die Geschichte und die Gegenwart Lateinamerikas.

Liane von Billerbeck: "Unser Unabhängigkeitskrieg war nicht nur Selbstverleugnung, er war Selbstbetrug." Was meinte Octavio Paz mit diesem Satz?

Dario Azzellini: Ich würde mal reininterpretieren - und das ist zumindest auch die Interpretation heute in Venezuela und auch in vielen anderen Ländern und vor allen Dingen natürlich von benachteiligten Gruppen und Gruppierungen in Lateinamerika -, dass es eben sich um eine unvollendete Unabhängigkeit oder Befreiung handelte.

Also zunächst einmal unvollendet, weil die starken Abhängigkeitsverhältnisse vom Norden, von Europa nach wie vor prägend sind für Lateinamerika für die meisten Länder und eben diese koloniale Ausbeutung fortgesetzt wurde nach diesen Unabhängigkeiten. Es wird ja oft der Unterschied aufgemacht zwischen Liberalen und Konservativen, also die Konservativen pro König, pro Königshaus, Spanien, und die Liberalen dann eher eben gegen das Königshaus.

Letztendlich ging es aber eigentlich um das aufstrebende Bürgertum, was eben eine Unabhängigkeit von den Kolonialländern wollte, um ihren eigenen Geschäften nachzugehen. Und da liegt genau auch der Haken an der Geschichte. Es war zunächst mal eine Befreiung von der Kolonie, aber nicht eine Befreiung von den kolonialen Mechanismen und in den meisten Ländern auch keinerlei soziale Umwälzung.

von Billerbeck: Da schließt sich die Frage an, dass man erst mal darstellt, wer waren denn die Protagonisten der Befreiung damals? Das waren ja wahrscheinlich keine Demokraten oder Sozialrevolutionäre?

Azzellini: Also die primären Protagonisten waren dieses aufstrebende Bürgertum, also was sich natürlich durch die ganzen Steuern, die die spanische Krone den Kolonien auferlegte, durch die Tatsache, dass noch nicht mal in den Kolonien selbst bestimmt werden konnte, wie jetzt Handelsgeschäfte oder so was aussehen, sondern man musste praktisch für alles auf eine Antwort warten, die natürlich aus Spanien auch mal zwei Jahre dauern konnte, bis sie kam. Von daher war es primär natürlich eben dieses Bürgertum.

Bolivar und diese Bewegung scheitern das erste und das zweite Mal. Also 1810 sind die ersten Unabhängigkeitsbestrebungen, 19. April wird sozusagen die eigene Kammer zusammengerufen in Venezuela, 1811 die erste Unabhängigkeitserklärung. Diese Kriege gehen verloren.

Bolivar gewinnt dann, als er praktisch wiederkommt, nachdem er auf Haiti und Jamaika gewesen ist, und dann die Forderung der unteren Schichten mit integriert. In dem Moment, in dem sozusagen die Bauern, die Sklaven, die Armen, die dort Geborenen und nicht aus Europa Stammenden, in dem Moment, in dem ihre Forderungen integriert werden, ist diese Unabhängigkeit tatsächlich siegreich. Trotzdem werden diese Sachen zum größten Teil im Nachhinein nicht erfüllt.

Bolivar selbst endet ja tragisch, stirbt im Exil in Kolumbien, wird aus Venezuela verbannt, die Sklaverei, die er bereits während des Krieges als abgeschafft ausgerufen hat, besteht noch 30 Jahre weiter in Venezuela. Und das zeigt halt eben, es ist eine gewisse liberale, europäischstämmige Oberschicht, bürgerliche Schicht, die diese Prozesse voranschiebt, die nur gewinnen kann mit der Unterstützung der Armen und durch die Integration der Forderungen der Armen und unteren Klassen, allerdings eben diese im Nachhinein meistens nicht erfüllt.

von Billerbeck: Wenn man gegen etwas war, also gegen die Kolonialherren aus Spanien, dann denkt man ja auch, dass man für etwas war. Wofür waren denn die Befreier eigentlich am Anfang?

Azzellini: Also sie waren immer für die Republik. Also das große Beispiel ist natürlich Frankreich, die französische Revolution, und diese Bicentenario beginnt in Venezuela, weil es das erste Land des Festlandes ist mit einer Erklärung. Aber die erste Revolution in Lateinamerika oder Karibik war in Haiti. Haiti war das erste Land, was sehr rasch den Franzosen nachgeeifert hat, und Haiti war somit die erste Republik in ganz Lateinamerika und im karibischen Raum und war gleichzeitig eben ganz wichtiger Startpunkt für so ziemlich alle Befreier in Lateinamerika, die halt eben von Haiti aus, also auch Bolivar war selbst in Haiti, und dort, ja, nimmt diese Geschichte langsam seinen Lauf.

Und es ist eigentlich eine unvollendete Befreiung, weil diese Abhängigkeit nach wie vor weitergeht. Und das war ja auch der große Streitpunkt vor zwei, drei Jahren bei dem Kongress der iberoamerikanischen Länder, also Lateinamerika und Spanien, wo hier ja nur die Meldung ankam, Chavez hätte dem König dazwischengesprochen, und der König hat ihm dann gesagt, er soll den Schnabel halten et cetera. Die Geschichte ist viel interessanter und viel länger.

Tatsächlich ging ihm es nämlich darum, dass zum ersten Mal seit 500 Jahren sechs lateinamerikanische Länder auf diesem Gipfel offen gegen Spanien gesprochen haben, gegen den spanischen König, gegen die spanische Krone und gegen den Neokolonialismus beziehungsweise auch ganz klar gesagt haben, der Kolonialismus ist fortgesetzt worden seitdem. Und das war ein historisch sehr entscheidender Punkt, der in Europa kaum wahrgenommen wurde, aber eben auch reflektiert dieses neue Bewusstsein in Lateinamerika und die ganz klare Bereitschaft auch, geostrategisch eine neue und eigenständige Rolle einzunehmen.

von Billerbeck: Sie haben es gesagt, eine unvollendete Revolution, eine unvollendete Befreiung also, weil eben nur die politische Macht ergriffen wurde, aber nicht die ökonomische?

Azzellini: Ja, weil zum einen die ökonomischen Strukturen relativ unangetastet blieben, also der Großgrundbesitz blieb erhalten. Also in den meisten lateinamerikanischen Ländern kann man heute nach wie vor die zwei Dutzend mächtigen Familien über 400 Jahre zurückverfolgen, die Macht, wie gefestigt die war. Es gab nicht, wie das in Europa war, so Zerschlagung feudaler Strukturen, von daher hat sich auch nicht eben diese größere Annäherung der sozialen Lage produziert, wie das eigentlich die Idee mit liberalen Demokratien ja ist, aber sich offensichtlich als Illusion erwiesen hat.

von Billerbeck: Wenn man sich die politischen Bewegungen in Lateinamerika ansieht, dann spielen da immer große Führer eine Rolle und deren Charisma. Gilt das bis heute, dass also so ein Caudillo, ein Oberhaupt, durch den nächsten ersetzt wird?

Azzellini: Ich würde mal sagen, es spielt natürlich immer eine große Rolle in Zeiten des Umbruchs oder in Zeiten, in denen wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen. Und da, würde ich sagen, ist Lateinamerika vielleicht gar nicht mal so anders als Europa. Also denken wir hier an die Nachkriegszeit, dann haben wir natürlich auch mit Adenauer, mit Churchill et cetera, das waren auch ganz klare Führerpersönlichkeiten mit ganz klar populistischem Auftreten. Also ich denke, dass das halt eben in bestimmten historischen Epochen, in denen es darum geht, dass bahnbrechende oder grundsätzliche Entscheidungen getroffen werden, gibt es in der Regel eine höhere Kristallisierung, dass eben das politische Projekt sich in einer Person widerspiegelt.

Und zum anderen gibt es aber natürlich auch schon stärker in Lateinamerika, also dadurch, dass eben Staat und Institutionen in der Regel wesentlich weniger etabliert sind als in Europa zum Beispiel, gibt es eine viel stärkere Personalisierung von Politik. Also wir haben diese Personalisierung zum Beispiel weniger in den Ländern, die einen sehr starken Staat haben, also wie das in Brasilien zum Beispiel der Fall ist oder eben halt auch Argentinien, aber in den anderen Ländern, in denen eben Staat und Institutionen nicht so ausgeprägt sind, ist eine stärkere Personalisierung von Politik vorhanden.

von Billerbeck: Welchen Einfluss haben eigentlich Geschichte und auch Mythos, muss man ja sagen, denn in den Geschichtsbüchern wird ja eine Menge erzählt über diese Befreiungsbewegung vor 200 Jahren. Welchen Einfluss haben die auf das politische Denken und die politische Rhetorik der heutigen Führer in Lateinamerika?

Azzellini: Ich würde mal sagen, dass es in den letzten Jahren wieder wichtiger geworden ist. Also eine Zeit lang waren diese ganzen Helden historische Dekoration, zu allen möglichen Reden und Sachen, aber wurden weder in ihren Worten noch in ihren Taten noch in irgendeinem historischen Erbe in irgendeiner Weise tatsächlich ernst genommen.

von Billerbeck: Braucht einer wie Chavez diese Befreiungsgeschichte?

Azzellini: Also es geht darum, zunächst mal bei diesen abhängigen Ländern natürlich eine eigene Geschichte zu reklamieren. Und gerade bei denen, die ganz stark entfremdet sind, also ganz stark US-Bezug haben wie natürlich eben Venezuela oder Panama oder auch andere Länder, wo die kulturelle Dominanz der USA so stark ist, das kann man sich hier ja gar nicht vorstellen. Also wenn zum Beispiel einfach im Fernsehen 70 oder 75 Prozent aller Fernseherzeugnisse aus den USA kommen, wenn in der Werbung nur Blonde zu sehen sind et cetera, also dann spielt das natürlich eine Rolle, wie viel man sich selbst überhaupt zutraut als Land. Und so was ist natürlich ganz wichtig für Länder, die aus einem Abhängigkeitsverhältnis rauskommen wollen.

Gleichzeitig ist es eben genau diese unvollendete Befreiung, die sozusagen die Aussicht gibt eben, dass sie vollendet werden kann oder soll, also dass wichtige Aufgaben bevorstehen. Gleichzeitig ist diese Frage von Mythen immer sehr, sehr wichtig, also Geschichte spielt eine sehr wichtige Rolle in Lateinamerika und sie wird auch nicht einfach nur als Folklore, als vergangene Geschichte wiederholt, sondern sie hat ja eigentlich nur eine gesellschaftliche Bedeutung, wenn sie jedes Mal aktualisiert wird in einem gewissen Kontext. Und das ist zum Beispiel der Fall durchaus mit Bolivar.

Also es gibt einen riesigen Streit in Lateinamerika zwischen verschiedensten Historikern, die halt zum Beispiel eben Chavez oder auch anderen Regierungen vorwerfen, sie würden Bolivar ganz falsch auslegen. Und da ist es eben genau einerseits dieser Punkt der unvollendeten Aufgabe, die sozusagen Venezuela hat, die auch nicht nationalistisch gemeint ist, das zum einen, und zum anderen eben diese Lehre, Bolivar hat nur gewonnen, als er die Forderungen der Armen mit einbezogen hat, und nicht, als er nur die Forderungen der Eliten vertreten hat, der bürgerlichen.

von Billerbeck: Eins, was auch dafür spricht, dass das eine unvollendete Befreiung war, ist ja, dass die indigene Bevölkerung, also die Ureinwohner bis heute, zu den verarmtesten Bevölkerungsschichten in Lateinamerika gehören. Welche Rolle spielt die in diesem Diskurs um diese 200 Jahre Befreiungsgeschichte?

Azzellini: Ja, das ist sehr zwiespältig. Wir sagen einerseits die indigene Bevölkerung und andererseits die schwarze Bevölkerung, also sprich, dass rassistische Trennungsmechanismen aufrechterhalten wurden in diesen Gesellschaften, weiterhin sehr prägend sind und die eben zu überwinden. Und genau da spielt natürlich auch eben diese ganze Geschichte eine große Rolle. Diese Helden sind also eben weiß und natürlich auch die Entsprechung des liberalen, aufgeklärten Europas - man muss erst danach suchen, um sie zu verknüpfen mit Bewegungen eben aus indigenen oder aus schwarzen Erfahrungen. Das geschieht, das geschieht zum Teil in Venezuela, zum Teil auch in anderen Ländern, indem natürlich eben, wie ich schon sagte, diese meisten Kämpfe sind siegreich gewesen, weil sie Unterschichten mobilisiert haben. Das heißt, wenn man sich diese Kriege genauer anguckt, sind die, die gekämpft haben, natürlich meistens indianischstämmig oder schwarz oder et cetera gewesen.

von Billerbeck: Aber sie haben den Lohn nicht geerntet.

Azzellini: Sie haben aber den Lohn nicht geerntet, genau. Und genau diese Figuren wieder rauszuholen und historisch ihnen ein Gewicht zu geben und eben das zu verknüpfen und eben dieses Abkoppeln von der Kolonie eben nicht als einzelnen und einzigen Akt zu sehen, sondern in einer Kontinuität von Kämpfen, mit den Kämpfen gegen die Sklaverei, gegen die Kolonialisierung an sich, der Indígenas, das geschieht in Ländern wie Venezuela, wie Bolivien, wie Ecuador, Nicaragua et cetera. In den Ländern, die sich einfach eher noch strikt oder sehr stark ausschließlich auf das europäische Erbe beziehen wie Chile jetzt oder absurderweise auch Peru oder Argentinien bis zu einem gewissen Maße, Uruguay, geschieht das eher weniger.


Links zu diesem Artikel: