Interview mit Dario Azzellini

Lateinamerika: »Das Kapital ist nicht bereit, auch nur den kleinsten Krümel abzugeben«

Lateinamerika ist in Aufruhr: die Rebellion in Chile und der Putsch in Bolivien sind nur zwei Beispiele. Im Kern geht es darum, wer für die Krise zahlt. Ist ein Blick in den Süden auch ein Blick in die Zukunft Europas? Darüber sprachen wir mit Dario Azzellini.

marx21: In Lateinamerika sehen wir auf der einen Seite einen Aufschwung sozialer Kämpfe, auf der anderen Seite einen Rechtsruck. Der ganze Kontinent scheint in Bewegung zu sein. Woran liegt das?

Dario Azzellini: Das liegt daran, dass die Neoliberalen, die nach der sogenannten »Pink Tide«, also den Reformregierungen der 2000er, an die Macht gekommen waren, nicht einmal die eigene Klientel zufriedenstellen konnten, geschweige denn die Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigen. Der Druck von unten ist daher groß, während es die Rechte zugleich ziemlich eilig hat, Fakten zu schaffen.

Warum diese Eile?

Nach dem Wahlsieg von López Obrador in Mexiko, des Mitte-Links-Peronismus in Argentinien und den Aufständen in Chile und Ecuador ist die Dringlichkeit, die Morales-Regierung loszuwerden, bevor sich die geopolitischen Verhältnisse noch weiter zu Ungunsten der Rechten verschieben, stark gewachsen

Der Druck von unten umfasst unter anderem Generalstreiks in Brasilien und Kolumbien. Erleben wir eine Wiederbelebung der Arbeiterbewegung auf dem Kontinent?

Das Debakel der Gewerkschaften im globalen Norden hat es so im globalen Süden nicht gegeben. Zumindest nicht dort, wo sie weiterhin klassenkämpferische Positionen eingenommen und mit sozialen Bewegungen zusammengearbeitet haben. Brasilien ist da eher ein Sonderfall, weil mit der PT eine aus den Gewerkschaften heraus gegründete Partei an die Regierung gekommen ist. Die PT hat eine starke Demobilisierung von Bewegungen betrieben. In Kolumbien hat es eigentlich immer gewerkschaftliche Mobilisierungen und Streiks gegeben, obwohl dort so viele Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ermordet werden wie in keinem anderen Land der Welt.

Klassenkampf in Lateinamerika

Insgesamt erleben wir seit einigen Jahren weltweit eine starke Zunahme an Arbeitskämpfen. Das hängt sicher zusammen mit der Abwälzung der Krisenfolgen auf die Ärmsten und die Arbeitenden. Der Neoliberalismus und die Privatisierungen haben eben doch nicht allen zum Wohlstand verholfen wie einst in Aussicht gestellt. Das heißt aber nicht, dass jetzt der rote Oktober anbricht. Die Situation ist im Fluss.

In Chile verlangt die Bewegung neben sozialen Forderungen nach einer neuen Verfassung. Kann eine neue Verfassung die Hoffnung auf soziale Veränderung erfüllen?

Sie kann zumindest eine Veränderung möglich machen, die sonst mit Verweis auf die Verfassung verhindert wird. Die chilenische Verfassung wurde 1980 unter Pinochet verabschiedet. Sie ist eine Verfassung der Diktatur und blockiert jede umfassendere positive Veränderung. Aber es ist nicht die Verfassung allein. Ein verfassunggebender Prozess kann umfassende gesellschaftliche Debatten ermöglichen. Schauen wir nur nach Venezuela 1999 oder nach Bolivien 2009.

Was kam dabei heraus?

In Venezuela wurde die Privatisierung von Wasser verboten. Man hat festgelegt, der Staat habe für ein kostenloses Bildungssystem für alle von der Grundschule bis zur Universität zu sorgen. Hausarbeit wurde als produktiv und als für die Rente anrechenbare Arbeitszeit festgelegt. In Bolivien wurde der Status eines plurinationalen Staates festgelegt. Klar sind die Interpretation und die Durchsetzung dessen, was in einer Verfassung steht, immer noch Fragen der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse. Aber unbedeutend ist das nicht.

Chiles aktuelle Verfassung wurde geschaffen, um den Neoliberalismus zu verankern und Proteste dagegen unmöglich zu machen. Wie erklärst Du Dir, dass ausgerechnet Chile jetzt von Aufständen erschüttert wird?

Chile hat mit Salvador Allende von einer besseren Welt geträumt, die plötzlich greifbar wurde. Dieser Traum wurde jäh unterbrochen, mit Füßen getreten, und jene, die es gewagt hatten zu träumen, wurden verfolgt, getötet, eingesperrt, ins Exil getrieben. Fortan hieß es gebückt laufen. Die Diktatur endete, die Ungleichheit blieb und das Träumen blieb verboten. Das ist nun explodiert. Das kam aber nicht so plötzlich und überraschend, wie es häufig dargestellt wird. In Chile hat es in den vergangenen 10-15 Jahren immer wieder große Bewegungen gegeben. Linke haben eine kontinuierliche und solide Organisierungs- und Bildungsarbeit in armen Stadtteilen, Schulen, Universitäten und Arbeitsstätten geleistet.

In Lateinamerika kehrt das Militär als politischer Akteur zurück. Aber der Kontinent erlebt auch einen Aufschwung außerparlamentarischer Kämpfe. Was sagt das über die Fähigkeit der parlamentarischen Demokratie aus, für sozialen Ausgleich und Stabilität zu sorgen?

Wir sehen sehr verschiedene Ausprägungen von parlamentarischer Demokratie in Lateinamerika. Die Gemeinsamkeit bei allen Unterschieden liegt darin, dass nirgendwo das große Versprechen, die Ungleichheit zu überwinden, erfüllt ist. Lateinamerika ist die ungleichste Weltregion und – mal von Kriegen abgesehen – die gewalttätigste: Gemäß Daten der Uno und der Lateinamerika-Kommission CEPAL von 2014 verfügten die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung der Region über 71 Prozent des Reichtums und des Vermögens und die ärmsten 70 Prozent kamen zusammen nur auf 10 Prozent. Die Mordrate in Lateinamerika liegt bei 21,5 pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner.

Der aktuelle Putsch in Bolivien und der Putschversuch in Venezuela im Januar ähneln sich sehr. Erst treten rechte Politiker als Verteidiger der Demokratie auf, dann schlagen sich die Organisation amerikanischer Staaten (OAS) und die US-Regierung auf ihre Seite, und gleichzeitig verniedlicht die Presse im Ausland diese Politiker als legitime Opposition. Wie groß ist der Einfluss von außen bei diesen Umstürzen und Umsturzversuchen?

Der Einfluss aus dem Ausland ist enorm. Es passiert in Lateinamerika nichts derartiges ohne das Einverständnis und meist auch die aktive Unterstützung der USA. Und die EU spielt angesichts der sich verändernden geopolitischen Situation auch eine zunehmend wichtigere Rolle in der Unterstützung von manchmal mehr und manchmal weniger gewalttätigen Regime-Change-Versuchen.

Wie wirkt sich das aus?

Es handelt sich in Lateinamerika nach wie vor um Staaten, die eine abhängige und untergeordnete Position im Weltgefüge einnehmen. Es macht einen großen Unterschied, ob ein Staat wie Venezuela an 25 bis 30 Milliarden Dollar eigene Finanzmittel im Ausland herankommt oder ob eine internationale Finanzblockade besteht. Ebenso macht es einen Unterschied, wenn ein Teil der internationalen Staatengemeinschaft wie in Bolivien auf den Anspruch verzichtet, dass verfassungsmäßige Abläufe eingehalten werden und einfach eine selbsterklärte Präsidentin anerkennt. Die EU hat die Gelegenheit beim Schopf gepackt, die rechte Front um die Präsidenten Iván Duque in Kolumbien und Bolsonaro durch die Anerkennung von Jeanine Áñez zu verstärken.

Im Fall von Bolivien bezieht sich Kritik an der Wiederwahl von Morales oft auf die OAS. Welche Rolle spielt die OAS in Lateinamerika?

Die OAS war schon immer eine Interessenvertretung der USA und Kanadas. Man hat versucht, das zu verschleiern, aber vergeblich. Die Figur des Generalsekretärs Luis Almagro ist exemplarisch. Almagro stammt aus dem ex-linken und inzwischen sozialdemokratischen Frente Amplio (FA) in Uruguay. Er wurde 2015 Generalsekretär und 2018 aus dem FA ausgeschlossen, weil er ein militärisches Vorgehen gegen Venezuela nicht ausgeschlossen hatte.

Vertretung der USA

Venezuela selbst ist ausgetreten, die OAS erkennt aber den Austritt nicht an und hat dafür den selbsternannten Präsidenten Juán Guaidó mit 19 von 34 Stimmen anerkannt. An den Treffen nehmen diverse Staaten immer seltener teil, wie Uruguay, Mexiko, Nicaragua, vorher auch Bolivien. Dass Morales ausgerechnet die OAS zur Beobachtung der Wahl einlädt, hat mich sehr erstaunt.

Wie wichtig ist Lateinamerika heute für die USA?

In dem Maße, wie die USA den Anspruch aufgeben, in der ganzen Welt einzugreifen, wird Lateinamerika wieder wichtiger. In den USA gibt es unterschiedliche Kapitalfraktionen, die zum Teil widerstreitende Interessen haben. Die Konflikte brechen immer wieder auf, etwa zwischen dem Pentagon und Trump. Der Hintergrund ist das Ende der Vorherrschaft des US-Imperiums. Es gibt unterschiedliche Strategien, wie damit umzugehen ist. In der Vergangenheit hatten Fraktionen das Sagen, die überall einsteigen wollten, was zu zahlreichen Interventionen gleichzeitig geführt hat. Andere Fraktionen verfolgen nun die Strategie, sich zu konzentrieren, den eigenen Hinterhof zu sichern und wieder unter Kontrolle zu bringen. China will seine Ressourcen selbst behalten und hat den besseren Zugriff auf viele Ressourcen in Asien und Afrika. Der Zugriff auf die Ressourcen in Lateinamerika ist daher für die USA zentral.

Deutschlands Außenminister Heiko Maas hat sich in Venezuela auf die Seite von Guaidó geschlagen. Über die Polizeigewalt in Chile schweigt er; in Bolivien erkennt die Bundesregierung keinen Putsch. Welche Interessen hat Deutschland in Lateinamerika? 

Die wirtschaftliche Bedeutung Lateinamerikas für Deutschland liegt vor allem im Zugriff auf Ressourcen. Es gibt dort Erdöl, Eisen, Kupfer, Zinn, Bauxit, Lithium und große landwirtschaftliche Anbauflächen. Venezuela hat die größten Erdölvorkommen weltweit und vor einigen Jahren wurden große Mengen Coltan entdeckt. In Lateinamerika, vor allem in Bolivien, sind knapp 60 Prozent der weltweiten Produktion von Lithium konzentriert, das für die Herstellung von Lithium-Ionen Akkus für Elektroautos wichtig ist. Und in Chile sind die größten Kupfervorräte. Wo sollen die Rohstoffe für die EU und Deutschland herkommen? In Europa gibt es keine nennenswerten Ressourcen. Mit dem Aufstieg Chinas sieht es in Asien immer schlechter aus. In Afrika ist China ebenfalls gut positioniert und aus Europa bestenfalls noch Frankreich und Großbritannien. Da wird das lange von Europa und Deutschland vernachlässigte Lateinamerika immer mehr zur chancenreichsten Option.

Was für Verbindungen hat das deutsche Kapital nach Lateinamerika?

Die Verbindungen Deutschlands gehen weit zurück. Noch weit vor Deutschlands Verstrickungen mit den Militärdiktaturen der 1970er Jahre, die zum Teil auch auf Netzwerken von Exildeutschen und Exilnazis aufgebaut waren. Es gibt sogar heute noch transkontinentale familiäre Netzwerke: Ein Teil der Familie besitzt eine Kaffeerösterei in Deutschland, ein zweiter Teil die Plantagen in Süd-Mexiko oder in Guatemala und ein weiterer Teil arbeitet im diplomatischen Dienst…

Deutschland und Lateinamerika

Andere sind starke Wirtschaftsverbindungen: Wer profitiert heute von den Rodungen in Brasilien? Die deutsche Landmaschinenindustrie und die Chemieindustrie, die große Umsätze mit der expandierenden Landwirtschaft machen. São Paulo ist mit über 800 ansässigen Unternehmen aus Deutschland der größte deutsche Industriestandort weltweit.

Und deswegen unterstützt Deutschland Putschregierungen?

Wir erleben eine Neuaufteilung der Welt. Sie ist konfus und wir haben es dabei mit sich verschiebenden Kräfteverhältnissen zu tun, aber Deutschland spielt da mit. Die Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer kann heute auftreten und mehr Bundeswehreinsätze wegen Deutschlands Handelsinteressen fordern. 2010 musste Bundespräsident Horst Köhler für diese grundgesetzwidrige Forderung noch zurücktreten. Das zeigt, wie sich die Maßstäbe verändert haben. Deutschland könnte gegen den Putsch in Bolivien intervenieren, tut es aber nicht.

Wie konnte es überhaupt passieren, dass Morales nach 13 Jahren im Amt plötzlich nach einem Streik der Polizei von hochrangigen Militärs aus dem Amt gedrängt wird? 

Ich denke, es ist dem MAS (Movimiento al Socialismo, Morales’ Partei, d. Red.) nicht gelungen, eine strukturelle Veränderung in Armee und Polizei durchzusetzen.

Aber warum haben Armee und Polizei erst nach 13 Jahren zugeschlagen?

Es hat auch schon vorher oppositionelle Mobilisierungen gegeben, mit dem Versuch, sie in einen Aufstand zu verwandeln. Sie sind gescheitert. Nun hat das Zusammenspiel von Protesten und der OAS mit dem Bild des Wahlbetrugs und der fehlenden Legitimation eine gute Chance geboten.

Kann man aus diesem Schwenk von Armee und Polizei Schlussfolgerungen ziehen?

Die reaktionären und autoritären Züge treten in Lateinamerika vehementer zutage, aber in Europa haben wir damit genauso zu tun ab dem Moment, in dem sich linke Perspektiven ergeben und seien sie noch so reformistisch. Ich erinnere daran, dass ein britischer General 2015 unverhohlen mit einem Putsch gegen einen möglichen Premierminister Jeremy Corbyn gedroht hat.

Die venezolanische Regierung hatte sich den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« auf die Fahne geschrieben. Morales’ Partei heißt übersetzt »Bewegung zum Sozialismus«. Die Sozialprogramme dieser Regierungen stützen sich auf Einkünfte aus Rohstoffexporten. Dieser Neo-Extraktivismus bedeutet zum einen Abhängigkeit vom Weltmarkt und zum anderen Konflikte mit der eigenen Basis, zum Beispiel über die Ausbeutung bestimmter Lagerstätten und die Verteilung von Einkünften. Wie sozialistisch ist das?

Letztendlich ist der Neo-Extraktivismus ein sozialdemokratisches Entwicklungsmodell, eine Mischung aus kapitalfreundlichem Klima und Umverteilung. Aber auch da gibt es deutliche Unterschiede: Bolivien und Venezuela unter Chávez sind nicht das Gleiche wie Argentinien unter Nestor Kirchner oder Ecuador unter Rafael Correa. Das Modell, das jetzt droht, ist aber sicher nicht besser und schafft auch keine besseren Voraussetzungen für sozialistische Politik.

Grenzen des Neo-Extraktivismus

Deswegen steht ein Großteil der Bevölkerung weiterhin hinter dem, was Morales und der MAS gemacht haben. Es ist schon ein Unterschied, ob man seine Kinder zur Schule schicken kann oder nicht. Außerdem stellte seine Regierung eine unglaubliche symbolische Anerkennung indigenen Lebens dar. Das kann man sich nur vorstellen, wenn man bedenkt, dass Indigene früher die Straßenseite wechseln mussten, wenn Weiße kamen.

Du hast über Selbstverwaltung in venezolanischen Betrieben geforscht. Kannst Du beschreiben, in welchem Verhältnis dort Konflikte mit der Regierung und Unterstützung für die Regierung standen?

Es liegt auf der Hand, dass die Bedingungen, unter denen sich Bewegungen organisieren müssen, völlig unterschiedlich sind, je nachdem, ob sie einer feindlichen Regierung gegenüberstehen oder einer potenziell sozial orientierten. In Venezuela gibt es einige Bewegungen, die sich nicht haben kooptieren lassen, sondern ihre eigene Position aufgebaut haben. Comunas, also lokale Räte, haben Ländereien besetzt, Staatsbetriebe übernommen oder Fabriken, die nicht liefen und punktuell auch eigene Kandidaten zu Wahlen aufgestellt. Auf der Basis dieser Projekte haben sie Forderungen an den Staat gestellt, aber die Regierung im Zweifelsfall als den Rahmen für ihr Projekt verteidigt.

Die Regierung Morales hat ihre Version des Neo-Extraktivismus selbst als Andenkapitalismus bezeichnet. Warum hat sie trotz dieses positiven Bezugs auf den Kapitalismus den Hass der Putschisten auf sich gezogen?

In Zeiten der Krise und des Runs auf Ressourcen ist das Kapital nicht bereit, auch nur den kleinsten Krümel abzugeben. Das zeigt sich auch in Deutschland, wo die Regierung zwar Milliarden für die Bankenrettung mobilisieren konnte, aber nicht einmal bereit ist, eine Mindestrente ohne Bedürftigkeitsprüfung durchzusetzen. Außerdem hat der Hass eine rassistische Dimension. Die Putschisten kamen mit der Bibel in der Hand, so wie die Eroberer vor 500 Jahren mit dem Kreuz in der Hand kamen. Die Oligarchie hat die Gleichstellung nicht ertragen. Aus ihrer Sicht arbeiten die Indigenen auf ihren Feldern oder putzen bei ihnen zu Hause, aber sie gehören nicht ins Präsidialamt, sie haben keine Entscheidungen zu treffen und sollen nicht sichtbar sein.

Südamerika hat in der Vergangenheit oft eine Vorreiterrolle gespielt. Der Neoliberalismus zum Beispiel wurde zuerst in Chile ausprobiert. Kann man auch aus den jetzigen Kämpfen Schlüsse für die Zukunft in Europa ziehen?

Sicherlich. Zum Beispiel den, dass rechte Politik zunehmend nur mit Gewalt durchgesetzt werden kann. Da reicht es aber auch, sich anzusehen, wie Frankreich mit den Gelbwesten umgeht, oder der spanische Staat mit den Protesten in Katalonien. Ich habe nicht gehört, dass jemand Frankreich oder Spanien aufgefordert hätte, die Menschenrechte einzuhalten. Außerdem erkennen wir in Südamerika die Bereitschaft bestimmter Kapitalfraktionen, sich mit erzreaktionären bis faschistischen Sektoren zu einem neuen autoritären Herrschaftsprojekt zu verbünden. Auch das sehen wir bereits in Europa, wenn wir an die Regierungen in Polen, Ungarn oder Italien denken. Gleichzeitig glaube ich, dass es auch in Europa große Bewegungen gegen diese Zustände gibt und geben wird. Sie werden immer weniger mit liberalen Tricks abzuspeisen sein, weil die Reichen und die Mainstreamparteien im neuen Weltgefüge keine Spielräume für Reformpolitik zulassen wollen. Es sei denn, man zwingt sie.

Was bedeutet Solidarität mit der Bevölkerung in Lateinamerika praktisch? Was kann man von Deutschland aus tun, um Bewegungen wie in Chile zu unterstützen?

Die beste Solidarität und was die deutsche Regierung am meisten schmerzt, ist, in Deutschland Bewegungen aufzubauen. Früher hieß es: Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam.

Und in Bezug auf Bolivien?

Direkte Solidarität bedeutet Aufklärungsarbeit und konkrete Aktionen bei den Förderern und Nutznießern dieser Politik. Die Palette der Möglichkeiten reicht vom Besetzen von Abgeordnetenbüros über Druck auf Unternehmen bis hin zu Anzeigen wegen völkerrechtswidriger Anerkennung und Unterstützung eines Putsches. Wichtig ist eine eindeutige solidarische Haltung. Wir können nicht von anderen verlangen, den perfekten Sozialismus aufzubauen, aber selbst schon damit zufrieden sein, wenn in Thüringen eine AfD-Regierungsbeteiligung verhindert wird.

Was wären Forderungen an die Bundesregierung?

Nichtanerkennung der Putschregierung, sofortige Einstellung aller Gelder und Kooperationsverträge, Wirtschaftsbeziehungen auf Eis legen, die mit Bolivien existieren oder geplant sind, Untersuchung der in Lithiumgeschäfte involvierten Unternehmen, Sperrung der Auslandskonten aller Personen und Institutionen, die in den Putsch involviert sind, sowie Einreiseverbote.


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