Rezension: „The Class Strikes Back“ in Arbeit - Bewegung - Geschichte: Zeitschrift für Historische Studien.

Die sich spätestens seit den 1990er-Jahren durchsetzende Deutung vom Ende der Arbeiter/innenbewegung bzw. vom Ver- schwinden der Arbeiter/innenklasse als politischem Subjekt kann als Ausdruck der neoliberalen Dynamisierung des Kapitalis- mus und der diese begleitenden Krise der Repräsentation gleichermaßen gewertet werden. Der von Dario Azzellini und Michael G. Kraft herausgegebene Sammel- band zeigt demgegenüber auf, dass dieser Erzählung eine eurozentrische Perspektive eingeschrieben ist: Außerhalb der westlichen Industriestaaten – aber auch jenseits der in diesen institutionalisierten Strukturen der Interessenvertretung – gab und gibt es weiterhin vielfältige Kämpfe von Arbeitenden, die sich insbesondere infolge der globalen Wirtschaftskrise seit 2008 häuften. Diese selbstorganisierten, mitunter militant geführten und repressiv bekämpften Auseinandersetzungen stellen die Herausgeber in den Kontext einer „vital yet neglected sphere of new democratic labour movements“ (S. 2), die sie zusammen mit sechzehn Autor/innen aus Wissenschaft, Aktivismus und Journalismus ausleuchten wollen. Zunächst im akademischen Verlag Brill erschienen, ist der Band nun auch als preiswerte Taschenbuchausgabe bei Haymarket erhältlich.

Die insgesamt dreizehn Fallstudien nehmen die Kämpfe und basisdemokratischen Organisationsformen von Arbeitenden in sehr unterschiedlichen Staaten und Branchen in den Blick: Sie reichen von der Automobilindustrie in Indien (Mithilesh Kumar und Ranabir Samaddar), der Lebensmittelindustrie in Kolumbien (Carlos Olaya), über die Londoner Reinigungsbranche (Elmar Wigand) bis hin zum informellen Sektor in der Türkei (Demet Sahende Dinler). Höchst divers waren jeweils die unmittelbaren Auswirkungen dieser Auseinandersetzungen: Erlangte der Streik in der Platinmine Lonmin im südafrikanischen Marikana durch das Massaker vom 16. August 2012 traurige Bekanntheit (Luke Sinwell), so endeten die Betriebsbesetzungen einer von Schließung bedrohten Chicagoer Fenster- und Türenfabrik in den Jahren 2008 und 2012 in der erfolgreichen Belegschaftsübernahme und -fortführung als New Era Window Cooperative (Kari Lydersen). Proteste von Arbeitenden trugen in Ägypten zur Revolution von 2011 bei (Anne Alexander und Mostafa Bassiouny) und entzündeten im Frühjahr 2014 soziale Aufstände in Bosnien und Herzegowina (Chiara Milan), ohne dass sich in beiden Staaten deren Arbeits- und Lebensbedingungen auf lange Sicht verbessert hätten. Mit den Blockaden von Warenlagern konnten die vorrangig migrantischen Beschäftigten der italienischen Logistikbranche seit 2011 hingegen erfolgreich ihre Ansprüche auf die ihnen vorenthaltenen Arbeitsrechte geltend machen (Anna Curcio).

Trotz der großen Unterschiede in den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen zeigen die Autor/innen in ihren Fallstudien eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf: Den Arbeitenden ging es in diesen Auseinandersetzungen erstens nicht allein um die existenziellen Fragen der Entlohnung oder des Arbeitsplatzerhalts, sondern zugleich und hiervon nicht zu trennen auch um Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, um Würde und Teilhabe. Zweitens erhielten sie dabei Unterstützung aus einem solidarischen Umfeld, während sich die etablierten Gewerkschaften als unfähig erwiesen oder es ablehnten, die in diesen „wilden“ Kämpfen artikulierten Forderungen aufzugreifen und durchzusetzen. Drittens schließlich eint diese Arbeitskämpfe – unabhängig von dem unmittelbaren (erfolgreichen oder gescheiterten) Ausgang – die Erfahrung, dass selbst unter den widrigsten Umständen der Kampf um Rechte möglich ist und hierbei kollektiv mehr erreicht werden kann als in der Vereinzelung. Die von Arbeitenden in den basisdemokratischen Prozessen jeweils gemachten Erfahrungen der Selbstermächtigung und der tradierte (beispielsweise rassistische) Spaltungen transzendierenden Solidarität eröffnen damit zugleich die Perspektive für mögliche Alternativen zum Be- stehenden. Alternativen zur zentralistischen Organisationsform der Gewerkschaften bis hin zur kapitalistischen Organisationsform von Wirtschaft und Gesellschaft. Weshalb die Herausgeber diese Erfahrungen indes als ein neues Phänomen beschreiben, konnte die Rezensentin nicht ganz nachvollziehen. Die Konstatierung des „Neuen“ scheint in gewisser Weise jener eingangs genannten Deutung geschuldet, die der Sammelband ja eigentlich zurückweist. Nahegelegen hätte die Einbettung der gegenwärtigen Entwicklungen in die weit zurückreichende Tradition der Selbstorganisierung von Arbeitenden, deren historische Erscheinungsvielfalt nicht zuletzt eine frühere von Azzellini mit heraus- gegebene Publikation aufzeigt. Ungeschmälert bleibt der Verdienst des Sammelbandes, sehr eindrückliche Einblicke in von der hiesigen Berichterstattung kaum beachtete Arbeitskämpfe der Gegenwart zu ermöglichen. Aus dieser Perspektive lässt sich über die einzelnen Fälle hinaus letztlich auch ein tieferes Verständnis für die Dynamiken der gesellschaftlichen Entwicklungen in ihren globalen Zusammenhängen gewinnen.

In angehängter pdf-Datei: rez_azzellini_arbeit_bewegung_2020_1.pdf

 


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