Genua 2001: Massive Repression entsprach geplanter politischer Strategie

Die Proteste gegen den G8 in Genua vom 19. bis 21. Juli 2001 stellten einen Höhepunkt der "Antiglobalisierungsbewegung" - oder wie sie in Italien passender genannt wird: "Bewegung der Bewegungen" - dar. Nach monatelanger Mobilisierung in Italien und ganz Europa strömten weitaus mehr Menschen als die Organisatoren erwartet hatten in die ligurische Hafenstadt. Schon am Donnerstag, dem Tag der MigrantInnen, bewegte sich eine Demonstration von 60.000 Menschen durch die weitgehende leere Stadt. Die wenigen verbliebenen EinwohnerInnen, die nicht in den Urlaub gefahren waren und sich auch nicht von der Medienhysterie aus der Stadt treiben ließen, hatten Unterwäsche aus ihren Fenstern gehängt. Eine Reaktion auf eine "Empfehlung" der Berlusconi-Regierung, die Genueser Bevölkerung möge ihre Wäsche angesichts des hohen G8-Besuchs nicht zum Trocknen heraushängen. Eine solche Anweisung war bereits unter Mussolini an die Bevölkerung von Rom ergangen.

Bereits am ersten der drei Aktionstage drohte die Stadt aus allen Nähten zu platzen. Zehntausende waren in zu Zeltplätzen umfunktionierten Parks untergebracht, während über 10.000 Tute Bianche und Angehörige anderer Gruppen und Netzwerke (die später gemeinsam die "Ungehorsamen" bildeten) im Leichtathletikstadion "Carlini" campierten.

Die breite Mobilisierung gelang vor allem durch das Zusammenkommen eines breiten Spektrums innerhalb des Genoa Social Forum (GSF), das die Proteste organisierte. Es reichte von katholischen Basisorganisationen und linken Nachbarschaftsvereinen über Eine-Welt-Initiativen, NGO's, Rifondazione Comunista, die Cobas und die Metallarbeitergewerkschaft FIOM bis zu den Tute Bianche und Soziale Zentren. Das Bündnis kam zu Stande, da einerseits auf die Propagierung offensiver Gewalt verzichtet wurde und andererseits der Selbstschutz - bis hin zu Barrikaden - und das defensiv-offensive Vorgehen der Tute Bianche von allen akzeptiert wurde. Ein qualitativer Schritt, der rechte Politiker und Repressionsstrategen sicher im Mark erschüttert hat.

Zusätzlich fielen die Proteste gegen den G8 in eine Phase günstiger politischer Konjunktur für die außerparlamentarische Linke. Die Berlusconi-Regierung war gerade an die Macht gekommen, die Democratici di Sinistra (DS), die ehemalige PCI, und nachfolgend das Ulivobündnis hatten mit ihrer neoliberalen Linie während ihrer Regierungszeit und ihrer äußerst schwachen und unentschlossenen Opposition gegen die regierende Rechte enttäuscht. Ihre Basis war auf der Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten für ihren Dissens und fand ihn in der breiten Mobilisierung nach Genua.

Am Freitag, den 20. Juli wurde an verschiedenen Punkten versucht mit verschiedenen Strategien in die Rote Zone vorzudringen bzw. gegen den G8 zu demonstrieren. Die Polizei schlug mit allergrößter Brutalität zu gegen alle Protestierer, vor allem aber gegen den Demonstrationszug der Tute Bianche, die es verstanden hatten ihre Radikalität in der Aktionsform konsensfähig im Bündnis zu machen. Dort wurde auch Carlo Giuliani ermordet. Doch auch Pazifisten und Pazifistinnen wurden angegriffen, verprügelt und schwer verletzt, es kam zum verbreiteten Schusswaffeneinsatz, an mehreren Stellen der Stadt schossen Polizisten zu verschiedenen Anlässen. Ziel war offensichtlich die massive Einschüchterung der Demonstranten.

Wider alle Erwartungen ließen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der für Samstag geplanten Großdemonstration gegen den G8 nicht von der Polizeigewalt abschrecken. Die DS blies zwar nach dem Tod von Carlo Giuliani ihre gerade erst beschlossene Mobilisierung nach Genua wieder ab, aber ihre Basis reagierte genau entgegengesetzt. In Sonderzügen, Bussen und eigenen Fahrzeugen sowie spontanen Mitfahrbörsen bewegten sich Hunderttausende nach Genua. Man kann davon ausgehen, dass es die Anwesenheit der Hunderttausenden war, die die Demonstration vor dem "geplanten Massaker" (so die italienische Linke) rettete.

Nur mit Mühe schlängelte sich die 300.000 Menschen zählende Demonstration durch die engen Straßen Genuas. Der Zug, mit dem sich Hunderttausende den Einschüchterungsversuchen der italienischen Rechtsregierung entgegenstellten, wurde wiederholt mit Tränengas beschossen. Die Polizei setzte ihre brutalen Angriffe vom Vortag fort, während Rauchsäulen von der Genueser Strandpromenade mit ihren Banken und Nobelgeschäften aufstieg. Ein guter Teil der noch in der Stadt verbliebenen Genueser Bevölkerung unterstützte nun die DemonstrantInnen. Wie am Freitag behandelten unzählige Notärzte Verletzte und warnten vor Krankenhausbesuchen, da dort die Polizei kontrollierte. Aus den Fenstern und von den Balkonen wurde in der großen Hitze aus Schläuchen Wasser auf die dankbaren G8-GegnerInnen gespritzt, Trinkwasser und Zitronen zum Augenausspülen, Obst und Getränke verteilt. AnwohnerInnen erklärten Fluchtwege und Hunderte wurden von ihnen versteckt.

Ein Toter, Hunderte Verletzte und Festgenommene, von denen 49 nach einer Woche immer noch im Knast saßen, lautete die Bilanz. Doch die systematischen Übergriffe und die Aufhebung der Grundrechte beschränkten sich nicht auf die Demonstrationen oder die Stürmung der Schulen Diaz und Pertini. Anwälte hatten tagelang keinen Zugang zu Inhaftierten, ebenso erging es unabhängigen Ärzten. In Polizeifahrzeugen, Kasernen und Gefängnissen wurde systematisch gefoltert.1

Eine herausragende Rolle spielte die zum Gefängnis umfunktionierte Kaserne Bolzaneto außerhalb von Genua. Dort wurden Inhaftierte tagelang geschlagen und gefoltert. Gefängnisärzte rissen ihnen Piercings aus und Aufseher schlugen die Köpfe der Gefangenen an den Wänden blutig. Die Übergriffe waren so heftig, dass in der italienischen Presse nur noch vom "Lager Bolzaneto" die Rede war.

Die faschistische Gesinnung vieler Polizisten und Carabinieri ist kein Geheimnis.2 Ein Einsatzpolizist in einem Interview: "Die grundlegende Kultur in unseren Einheiten ist rechts, eine militärische Kultur. In Bolzaneto gibt es Sympathisanten von Forza Nuova (faschistische Organisation, Anm.), man sieht sogar einige Hakenkreuze ... In der Einsatzpolizei herrscht eine Kultur der Gewalt, vielen gefällt die Vorstellung zu prügeln. Das Bildungsniveau ist extrem niedrig, auch unter den höheren Beamten, sie sind alle rechts und es sind Stimmen zu vernehmen, die an Verfassungsfeindlichkeit grenzen."3

Entsprechend verhielt sich in Genua ein Großteil der Polizisten - gleich welcher Gattung -offen faschistisch, immer wieder den Arm zum Hitlergruß hebend. An den Wänden der Reviere hingen Mussolinibilder und Fotos der deutschen Wehrmacht.4 Einige Einheiten sangen: "1,2,3 viva Pinochet, 4,5,6 a morte tutti gli ebrei, 7,8,9, il negretto non commuove".5

Am Samstagabend wurde der Einsatz gefeiert. Aus der Sporthalle "Palasport" des Messegeländes - Sammelplatz der Polizeikräfte - erhoben sich Jubelchöre wie bei einem Fußballspiel. Hunderte, vielleicht Tausende der insgesamt 20.000 eingesetzten Polizisten und Militärs brüllten: "polizia eh eh", hüpften durch die Halle und brüllten: "Wer nicht springt ist Kommunist".6 70 der 270 in Genua eingesetzten Polizisten aus Bologna ließen sich als Andenken ein T-Shirt drucken, das einen am Boden liegenden Demonstranten zeigt, auf den ein Polizist in Robocop-Ausrüstung mit einem Knüppel einprügelt. Darunter der Schriftzug: "G8, Genua, Juli 2001. Ich war dabei".7

Tatsächlich fatal wirkte sich aber aus, dass diese Gesinnung zusammen traf, mit einer Regierung, die signalisierte, ihre schützende Hand über die Polizei zu halten. Erst dadurch konnten die Beamten ihrer Gewaltorgie freien Lauf lassen und sich der Straflosigkeit sicher sein.

Zugleich wurden gezielt Beweismittel zu den Übergriffen beseitigt. Der Überfall der Polizei auf die Pertini-Schule (gegenüber der Diaz-Schule), Sitz des GSF und des Media-Centers diente laut GSF dazu, Beweismaterial zu den Polizeiübergriffen zu zerstören. Auch dort wurden Journalisten geschlagen, die Einrichtung und Computer zerstört, die Festplatten entwendet und Foto- und Filmmaterial beschlagnahmt.

Ausschreitungen politisch gewollt

Vieles deutet darauf hin, dass die Ausschreitungen in Genua politisch gewollt waren, um eine Repression zu rechtfertigen, die der Bewegung das Genick brechen sollte.

Es wurde mehrfach belegt, dass die Polizei diejenigen, die fernab der Roten Zone durch die Stadt zogen und Autos von Anwohnern anzündeten und kleine Geschäfte plünderten, relativ ungestört ließ, während sie alle anderen Protestierenden massiv angriff. Auch die Beteiligung randalierender Zivilpolizisten ist nachgewiesen worden. Es existieren Videoaufnahmen von vermummten und behelmten "Demonstranten", die mit Eisenstangen aus Polizeikasernen rein und raus laufen.8 Beamte wurden dabei beobachtet, wie sie hinter Containern nahe dem Polizeihauptquartier ihre Uniform gegen schwarze Kluft tauschten. Der Senatsabgeordnete Gigi Malabarba sah bei dem Besuch einer Polizeikaserne wie schwarz Vermummte in voller Montur mit ihren Waffen seelenruhig hereinspazierten und sich dort mit den Polizisten unterhielten, auch auf Französisch und Deutsch.9

Ein anderer Zeuge beschreibt, wie am Rande der Demonstration vom Freitag vier Vermummte mit Eisenstangen an einer kleinen Tankstelle stehen. Plötzlich bewegt sich ein etwa 50jähriger Mann in schwarzer Hose und rosa Polohemd auf die Vermummten zu, nimmt einem von ihnen die Eisenstange aus der Hand, schlägt auf die Zapfsäule ein und gibt ihm die Stange wieder zurück, dann das gleiche bei einem anderen Vermummten. Es folgt ein kurzes Gespräch und die Vermummten setzen das Zerstörungswerk dieses seriösen Herren fort.10

Auch gab es Angriffe von Vermummten auf die Tute Bianche, die bisher nie Probleme miteinander hatten. Nach Göteborg hatten die Tute Bianche sich gegen eine Verdammung des "Schwarzen Blocks" ausgesprochen, da sie ihn als Teil der Bewegung betrachten, auch wenn sich ihre Kampfformen unterscheiden.

Es sollen sich sogar Neonazis an den Ausschreitungen beteiligt haben. Ein in Genua interviewter betrunkener britischer Nazi-Hool gab an von "italienischen Kameraden" kontaktiert worden zu sein, denen die Polizei "freie Hand bei der Zerstörung der Stadt" zugesagt habe.11 Einige Rifondazione-Mitglieder wiederum präsentierten einen Rucksack mit Vermummungsmaterial und Nazipropaganda, der nach einer militanten Aktion von drei Jugendlichen in eine Mülltonne geworfen worden war.12

Ein Sozialarbeiter aus der Region Genua erkannte am 18. Juli in einer größeren Gruppe einen seiner "Kunden", einen Aktivisten der Nazi-Gruppe Forza Nuova. Er erfährt, dass sich mit ihm insgesamt 60 Kameraden aus dem Umfeld von "Forza Nuova" in Genua befinden sollen.13 Offizielle Stellen leugnen jedoch jegliche Beteiligung von Faschisten an den Auseinandersetzungen.

Die offiziellen Reaktionen

Einiges spricht dafür, dass die Repression in Genua von höchster Stelle geplant und geleitet wurde. Der Einsatz von Schusswaffen war nicht nur einkalkuliert, sondern geplant. Es gab für die Carabinieri einen Schießbefehl.14 Vize-Premier Gianfranco Fini war während des gesamten G8 im Forte San Giuliani, der Genueser Einsatzzentrale der Repressionskräfte, wo er die politische Linie für die Sicherheitskräfte vorgab. Der italienische Justizminister Roberto Castelli - ein rechtsradikaler Institutionen- und Demokratie-Verächter der Lega Nord - besuchte die Folterkaserne Bolzaneto noch am Samstag. Es dauerte, bis das öffentlich zugegeben wurde. Castelli, der von blutverschmierten Zeugen erkannt wurde, will in Bolzaneto "keinerlei Anzeichen" für Übergriffe gesehen haben.15 Auch für den Innenminister Claudio Scajola ist alles in Ordnung: "Die Sicherheitskräfte verhielten sich mit beispielhafter Würde und können nicht dem Spott preisgegeben werden."

Die rechte Regierungsmehrheit lehnte erwartungsgemäß sowohl das von der Opposition gestellte Misstrauensvotum gegen Innenminister Scajola als auch die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission ab.16 Doch die Ereignisse ließen sich nicht so einfach vom Tisch wischen. Die italienische und bald auch die internationale Presse belegten Hunderte Übergriffe. Dazu trugen insbesondere die zahlreichen in Genua anwesenden Medien-Aktivisten bei. Hunderte Videos und Fotos wurden veröffentlich, zugleich gingen Hunderttausende auf Italiens Straßen, um gegen die Ereignisse zu demonstrieren, und weltweit fanden Aktionen und Demonstrationen statt.17 Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften, italienische und europäische Parlamentarier und selbst Mitglieder europäischer Regierungen äußerten ihre Besorgnis.

Dieser Druck bewegte die italienische Regierung schließlich zur Versetzung dreier ranghoher Polizeiführer. Doch diese "Bauernopfer" dienten nur dazu, die Wogen um die Regierungsmannschaft zu glätten. Ausgerechnet die Carabinieri hatten bisher keine personellen oder juristischen Konsequenzen zu erleiden und eine politische Verantwortung gibt es anscheinend auch nicht: Alle Fehler sollen nur bei der polizeilichen Umsetzung vor Ort gemacht worden sein.

Von den Ereignissen um den G-8 wurde das Mitte-Links-Bündnis "Ulivo" schwer geschüttelt, darin vor allem die DS, die im Ulivo das größte Gewicht hat. Als vorige Regierung hatten sie den G-8 geplant, im Vorfeld wurde mit der neuen Regierung über die italienische Position auf dem Gipfel gemauschelt, wenige Tage zuvor schließlich doch noch zur Demonstration aufgerufen, um schließlich nach dem Tod von Carlo Giuliani den erwähnten Rückzieher zu machen. Letzten Endes stellte das Bündnis mit reichlicher Verspätung ein Misstrauensvotum gegen Innenminister Claudio Scajola, doch einige Tage später folgte bereits das Angebot eines Kuhhandels. Oppositionsführer Luciano Violante: "Die Regierung hat eine Woche Zeit, um eine parlamentarische Untersuchung in die Wege zu leiten, ansonsten mobilisieren wir auf der Straße". Doch schob er gleich nach: "Dafür sind wir aber auch bereit, den Misstrauensantrag gegen den Innenminister wieder zurück zu ziehen".

Eine konsequent oppositionelle Haltung bezogen nur Rifondazione Comunista und die Grünen. Die Diskussionen in den DS zogen sich weiter. Eine "Riesenströmung" (correntone) - zu der sich auch viele namhafte GewerkschafterInnen bekennen - forderte einen deutlich linkeren Kurs, eine "grundlegende Wende auf politischer, gesellschaftlicher und kultureller Ebene". Die "Identität der Linken" sei "auf Modernisierung um der Modernisierung Willen" reduziert worden. Es wird gefordert "klar auszusprechen, wer unsere Bündnispartner und wer unsere Feinde sind". Sie und andere VertreterInnen der DS bezogen sich ausdrücklich positiv auf die Demonstrationen gegen den G-8. Das sei das gesellschaftliche Spektrum, auf das sich DS als sozialistische Partei beziehen müsse.

Nach langen Diskussionen kamen auch die DS, mit einem Jahr Verspätung, im Juli 2002 nach Genua. Ihr Exponent Luciano Violante übte Selbstkritik und bezeichnete es als falsch, nicht schon 2001 als DS in Genua gewesen zu sein. Besonders glaubwürdig wirkte er nicht. Schließlich gehörte Violante zu den Vertretern der DS, die noch nach Genua lauthals die Kriminalisierung der Tute Bianche forderten. Auch spielte Violante bereits in den 70er und 80er Jahren eine herausragende Rolle bei der Kriminalisierung der außerparlamentarischen Linken. Folglich wurde er bei seiner Stippvisite an Carlos Todesstelle von den Anwesenden ausgepfiffen und beschimpft und musste von einer ganzen Armada Leibwächter geschützt werden.

Vorboten des Sturms blieben unbeachtet

Das brutale Vorgehen der Polizei und Carabinieri in Genua schockierte die Öffentlichkeit und auch die Linke war ob der Ausmaße fassungslos. Dabei war rückblickend bereits in den Monaten zuvor sichtbar geworden, dass die Regierungen Europas der seit Seattle im Auftrieb befindlichen "Bewegung der Bewegungen" einen Riegel vorschieben wollen und eifrig an ihrer Kriminalisierung sowie an der weiteren Einschränkung bürgerlicher Rechte arbeiten. Dass dafür auch brutale Polizeieinsätze und undemokratische, teilweise sogar verfassungswidrige Methoden herbeigezogen werden, war bereits an diversen europäischen Mobilisierungen in den vorhergehenden Monaten abzulesen gewesen.

Bereits der Protest gegen den OECD-Gipfel im März 2001 in Neapel wurde brutal angegriffen, die Übergriffe von einem beängstigenden Korpsgeist der Polizei und Politik gedeckt. Die gerade mal aus 2.000 Personen bestehende Demonstration gegen das Treffen der Finanz- und Wirtschaftsminister der EU (Ecofin) in Malmö in Schweden am 21. April wurde ebenfalls angegriffen und zusammen geknüppelt, es kam zu hunderten Festnahmen. Gegen die Proteste gegen das World Economic Forum in Salzburg/Österreich Anfang Juli wurde gleich ein großer Polizeikessel gezogen, in dem nahezu 1000 Personen etwa neun Stunden ohne Essen, Trinken oder Toiletten verbrachten. Eine rechtliche Grundlage gab es dafür nicht. Dafür gab es in Salzburg/Österreich ebenso Ein- und Ausreiseverbote wie kurz zuvor Mitte Juni in Göteborg/Schweden. Es kam zu grenzübergreifenden Kooperationen von Polizeieinheiten in einer rechtlichen Grauzone und die schwedische Polizei setzte Schusswaffen ein. Auch in Schweden wurde ein Demonstrant in den Rücken geschossen. Doch die Schüsse auf Demonstranten wurden in Italien, wie im Rest Europas, kaum wahrgenommen und als Einzelfall abgetan.

In Genua arbeiteten Politik, Polizei und Massenmedien bereits im Vorfeld Hand in Hand an einer Kriminalisierung der Proteste. Berlusconis TV-Sender und die bürgerliche Presse warnten vor "gewalttätigen Angriffen" auf den G8 und die Stadt. Deutsche Demonstranten wurden von Politik und Medien zu gnadenlosen Gewalttätern hochstilisiert. Der "Black Block" sei im Anmarsch. An den italienischen Grenzen wurden Fahrzeuge aussortiert und den Insassen die Einreise verweigert. An den Zufahrtsstraßen nach Genua wurden Vorkontrollen aufgebaut und in der Stadt wurden sogar offiziell akkreditierte JournalistInnen von Polizei oder Carabinieri ohne Begründung zur Überprüfung in Kasernen verschleppt. Hier kam es schon zu den ersten Übergriffen auf DemonstrantInnen und JournalistInnen.

Dass Demonstranten aus Deutschland im besonderen Augenmerk der italienischen Behörden standen, ist sicher auch dem Verhalten der Bundesregierung zu verdanken. In der ohnehin herrschenden Hysterie war es die deutsche Regierung, die sich als Scharfmacher betätigte. Schon nach Göteborg hatte sich Schily für eine "europaweite Datei reisender Gewalttäter" stark gemacht. Für Genua wurden in Deutschland über 80 Reiseverbote ausgesprochen. "Es gibt kein Grundrecht auf Reisefreiheit" unterstrich der Berliner Justizsenator Körting seine markige Rechtsauffassung.

Während des G8 betonte Schröder, man müsse "mit aller Härte gegen die Gewalttäter vorgehen". Und noch zwei Tage nach der Erschießung Giulianis unterstrich er, bei "den Autonomen" versage jede Deeskalationsstrategie. "Wo kämen wir hin, wenn frei gewählte Regierungschefs sich von Gewalttätern vorschreiben lassen, wann, wo und wie sie sich treffen". Passender Weise war Innenminister Otto Schily der erste internationale Staatsmann, der Italien nach dem G8 besuchte und Innenminister Scaloja die Hand schüttelte. Worte der Kritik waren von ihm nicht zu hören, im Gegenteil, Schily unterbreitete erneut seinen Vorschlag einer "EU-Krawallpolizei".

Eigentlich hätte also mit einer starken Repression gerechnet werden müssen, doch die allermeisten nahmen die Anzeichen nicht war. Eine euphorische Stimmung hatte die Bewegung erfasst. Von Demo zu Demo, von Gipfel zu Gipfel wuchs die Bewegung an, wurde breiter und stellte immer stärker die Legitimation der Gipfel öffentlich in Frage.

Diese Bewegung war/ist bereits in ihrem Ursprung internationalistisch ausgerichtet, was sich andere Bewegungen in der Vergangenheit erst mühselig erarbeiten und konstruieren mussten. Ebenso ist eine gewisse breite schon a priori vorhanden und nicht erst Ziel mühsamer Bündnisse und Diskussionen. Doch genau diese sind wohl auch die Gründe für die verstärkten Bemühungen sie zu zerschlagen.

Stand der Bewegung

Die Botschaft der italienischen Regierung an die Demonstranten gegen den G8 war klar: Wer gegen die Weltwirtschaftsordnung demonstriert, ganz gleich in welcher Form, soll in Zukunft um seine Knochen fürchten. Doch die Abschreckung wirkte nicht: Die Empörung über die Repression und den Mord an Carlo Giuliani mobilisierte noch mehr Menschen, und am Dienstag nach dem G-8 waren im ganzen Land erneut 300.000 DemonstrantInnen auf den Straßen. Auf der organisatorischen Ebene entstanden nach Genua in ganz Italien innerhalb weniger Wochen über 150 Social Foren.

Genua wird von der italienischen Linken im Allgemeinen als Knackpunkt und Beginn einer neuen Phase verstanden. Zum einen wird Genua als "Kriegserklärung" gegen die globale Bewegung angesehen, zum anderen als Vorwegnahme der nach dem 11.9. manifest werdenden Veränderungen, insbesondere der, dass Krieg zum primären ordnungspolitischen Instrument wird. Deshalb hinkt auch der häufige Vergleich zwischen dem Tod von Carlo Giuliani und den Opfern der Repression von 1977. Carlo wurde zu Beginn eines Kampfzyklus getötet und nicht an dessen Ende, wie die Toten der Jahre 1976 und 1977.

Genua stellte auch die Geburtsstunde der "Ungehorsamen" (Disobbedienti) aus dem Carlini-Stadion dar, also die Tute Bianche, die Jugendorganisation von Rifondazione, das No-Global-Netzwerk aus Neapel und zahlreiche weitere Gruppen, Soziale Zentren und Einzelpersonen (ein Bündnis das mittlerweile wieder zerfallen ist).

Genua führte massiv vor Augen, wozu eine breite Bewegung in der Lage ist - und wie ihr begegnet wird. Besonders für die Generationen, die die 70er Jahre nicht miterlebten, war die die "Bewegung der Bewegungen" von Genua eine neue Erfahrung, die trotz - und auch wegen - der brutalen Repression zu einer enormen Politisierung der Jugendlichen führte, die sich bereits in zahlreichen weiteren Bewegungen zeigt. In den folgenden zwei Jahren kam in Italien Bewegung auf Bewegung und es fanden mehrere Demonstrationen mit über 2,5 -3 Millionen sowie ein halbes Dutzend mit 1 - 1,5 Millionen Personen statt.

Nach der Mobilisierung gegen den NATO-Gipfel in Neapel im September, entstand eine breite Antikriegsbewegung, die erneut Hunderttausende mobilisierte. Der Winter gehörte den streikenden Studenten, die ebenfalls Hunderttausende gegen eine Verschlechterung des Erziehungssystems mobilisierten.

Nach drei Generalstreiks der Basisgewerkschaften Cobas und des seit über einem Jahr anhaltenden Bewegungsaktivismus der Metallgewerkschaft FIOM erwachte auch die italienische Gewerkschaftsbewegung im Frühjahr aus ihrem langen sozialpartnerschaftlichem Winterschlaf. Am 23. März demonstrierten auf Initiative der CGIL in Rom mehr als drei Millionen Menschen gegen die Reform des Artikels 18 zum Kündigungsschutz (eine Reform, die praktisch die Abschaffung des Kündigungsschutzes vorsieht). Drei Wochen später legte ein achtstündiger Generalstreik das Land lahm. An dem Streik und den Demonstrationen beteiligten sich auch die Basisgewerkschaften und die Ungehorsamen. Während des Streiks versuchten sie das Konzept des "sozialen Ungehorsam" zu propagieren, das sie seit Genua als nächsten Schritt nach dem zivilen Ungehorsam propagieren. Sie riefen die "Generalisierung des Streiks" aus. Dahinter steht die Vorstellung, angesichts der veränderten Produktionsweisen auch den Warenverkehr und die Kommunikation lahm zu legen und Prekäre in den Streik zu integrieren. So wurden am Tage des Generalstreiks Ausbeuterklitschen der New Economy, wie etwa Call-Center, blockiert, bei Zeitarbeitsfirmen die Schlösser zugeklebt und der Straßenverkehr unterbrochen. An der Demonstration des ESF in Florenz im November 2002 beteiligten sich ca. eine Million Menschen.

Es folgte eine breite Antikriegsbewegung, die zu ihrer zentralen Demonstration 2003 ebenfalls mehr als 3 Millionen Menschen mobilisierte und ein Jahr später im Frühjahr 2004 immer noch 1,5 Millionen Menschen auf die Straße brachte. Zugleich entbrannten bei Fiat und in anderen Unternehmen Arbeitskämpfe, die mit Aktionsformen des sozialen Ungehorsams agierten. Tatsächlich ist auch seit Ende 2003 in vielen sozialen Konflikten, seien es Arbeitskämpfe, Proteste gegen ein Atommüllendlager in der Region Marche, Lehrerstreiks oder Kindergärtenproteste, ein Rückgriff auf Aktionsformen wie Besetzungen und Blockaden zu registrieren, das Konzept des Sozialen Ungehorsams scheint tatsächlich eine gewisse Ausbreitung erfahren zu haben. Der Versuch die Bewegung zu zerschlagen hat zumindest in Italien das genaue Gegenteil bewirkt.

1 Vgl. La Repubblica 26.7.2001 und zahlreiche Berichte von amnesty international

2 La Repubblica 26.7.2001

3 il manifesto 1.8.2001

4 La Repubblica 26.7.2001 und verschiedene persönliche Aussagen von Festgenommenen und Inhaftierten

5 "1,2,3 viva Pinochet, 4,5,6 Tod allen Juden, 7,8,9, das Negerlein erzeugt kein Mitleid" Vgl. Il Secolo XIX 26.7.2001; La Repubblica 26.7.2001, il manifesto 26.7.2001

6 Vgl. Il Secolo XIX 27.7.2001

7 La Repubblica 1.8.2001

8 Sie wurden noch am Sonntagabend, den 22. Juli, vom italienischen Fernsehen RAI 3 in den landesweit ausgestrahlten Nachrichten gezeigt.

9 Laut Angaben von Angela Klein

10 http://www.peacelink.it/genova/testimonianze/t20.html

11 Il manifesto 23.7.2001

12 Il manifesto 23.7.2001

13 Il Secolo XIX 27.7.2001

14 Nach Angaben des Carabinieri Valerio Mattioli, der sich seit Jahren für eine Demokratisierung der Repressionsorgane einsetzt und nach seinen Aussagen vom Dienst suspendiert wurde. Vgl. il manifesto 16.6.2002

15 il manifesto 29.7.2001; La Repubblica 26. Juli 2001

16 Am 3. Juli 2002 musste er schließlich doch seinen Rücktritt einreichen. Nachdem er bereits seit Amtsantritt kein Fettnäpfchen ausgelassen hatte und dennoch nie den Sessel räumen musste, machten ihn seine Aussagen zu dem vermeintlich von den Roten Brigaden im März 2002 erschossenen Staatssekretär Marco Biagi auch für die Regierung unhaltbar. Scaloja hatte den Mitarbeiter im Arbeitsministerium als "Nervsack" bezeichnet, der ohnehin nur einen guten Posten hätte haben wollen. Die Kritik daran, dass kurz vor dem Anschlag der Personenschutz für Biagi abberufen wurde, obwohl dieser ihn ausdrücklich einforderte, kommentierte Scaloja mit den Worten, man könne ja nicht jeden schützen. Dem daraufhin folgenden Sturm der Empörung konnte nach drei Tagen auch er nicht mehr standhalten.

17 Auch in Deutschland fanden in den folgenden Wochen Hunderte Aktionen und Demonstrationen statt.