Mit neuen Korruptionsvorwürfen wird in Italien der Ruf nach einer Amnestie lauter
Das Spinnennetz
Die italienischen Geheimdienste, in den letzten Wochen durch Schmiergeldaffären, Querverbindungen zum organisierten Verbrechen und faschistischen Terrorgruppen ins Gerede gekommen, sind jetzt umstrukturiert worden. Aus den ehemals drei Geheimdiensten SISMI, SISDE und CESIS wurden das Nationale Staatsinformations- und Sicherhefisamt ANISS. Deren Generaldirektor untersteht nun direkt dem Premierminister, leitet alle Spionage- und Geheimdienstabteilungen, rekrutiert die Beschäftigten und bildet sie aus, verwaltet und kontrolliert die Geldfonds. Der Generaldirektor bildet mit den Direktoren der Abteilungen für Inneres bzw. für Äußeres, die den jeweiligen Fachministerien unterstehen, ein dreiköpfiges Führungskomitee. Alle drei dürfen im Gegensatz zu bisher nicht länger als fünf Jahre im Amt bleiben. Neu ist auch die Einrichtung eines Zentralarchivs, bisher wurden die Unterlagen von den einzelnen Geheimdiensten nach einigen Jahren vernichtet, was die Vertuschung krummer Geschäfte äußerst leicht machte.
Geheimfonds waren eingerichtet worden, aus denen illegale Geschäfte und Schmiergelder bezahlt sowie das eigene Gehalt aufgebessert wurde. Gegen sechs Mitarbeiter des ehemaligen zivilen Geheimdienstes SISDE wird aus diesem Grund ermittelt, Die römischen Justizbehörden ordneten die Beschlagnahme des Besitzes der Beschuldigten an, insgesamt mehr als 50 Millionen DM. Die ehemalige persönliche Sekretärin des EX-SISDE-Chefs Malpica, Matilde Paola Martucci, wurde am Montag in ihrer Wohnung in Rom festgenommen; sie soll im SISDE die Fäden in der Hand gehabt haben und wird daher mittlerweile von der italienischen Presse „Zarin“ genannt.
Die Offenbarungen der beschuldigten Geheimdienstler selbst sind ebenso weitreichend, So sollen nicht nur alle Innenminister der letzten zehn Jahre von den illegalen Geschäften der Geheimdienste gewußt haben, sie sollen auch selbst regelmäßig größere Summen erhalten haben, Der aktuelle Staatspräsident Scalfaro, von 1983 bis 1987 Innenminister, soll auch zu den Beschenkten gehören, und während er beharrlich alle Vorwürfe von sich weist, hat der Ex-SISDE-Chef Malpica mittlerweile noch eins draufgesetzt:
Er habe »persönlich Scalfaro das Geld übergeben« Doch die Ermittler werteten die Vorwürfe schlicht als »böse Rache«, und. Scalfaro versicherte wiederholt öffentlich; er werde nicht zurücktreten Dabei hatte dies auch niemand von ihm verlangt — wer sollte dies auch tun angesichts der mittlerweile 50000 eingeleiteten Ermittlungsverfahren wegen Schmiergeldzahlungen der Wirtschaft an die Politik. Getreu dem Spruch »Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein« wirft in Italien eben niemand.
Die . linkssozialdemokratische PDS und die rechtspopulistische Lega fordern Neuwahlen, während die abgehalfterten und in Auflosung begriffene christdemokratische DC, die Italien seit dem Krieg wie ihren privaten Gemischtwarenladen behandelt hat, Neuwahlen vor ihrer wahrscheinlichen Neugründung bzw. Umbenennung Um jeden Preis Verhindern will.
Ein Ende der Enthüllungen ist nicht abzusehen Deshalb liegt auch eine Lösung nach dem Motto »Wenn alle Schuld sind, kann man niemanden bestrafen, weil man ja nicht alle bestrafen kann« im Bereich des Möglichen. Seit mit dem im Frühjahr zutage getretenen »größten Korruptionsskandal der Nachkriegsgeschichte Italiens «‚ der bisher nicht im mindesten seine tatsächliche Größe offenbart hat, Rufe nach einer Generalamnestie laut wurden, haben sich diese seitdem sicher verzehnfacht.