Interview mit Eduardo Galeano

Wir sind mehr als Geld

Das Gespräch führten Dario Azzellini, Michael Krämer und Boris Kanzleiter

Herr Galeano, am Ende dieses Jahrhunderts klaffen die sozialen Widersprüche weltweit so sehr auseinander wie niemals zuvor in der Geschichte. Sind wir Gefangene eines Systems, das die Menschheit unausweichlich zugrunde richtet?

Dracula hat bestimmt große Minderwertigkeitskomplexe. Viele Psychologen und Psychiater kommen zusammen, um ihm zu helfen. Denn Dracula fühlt sich heute wie der letzte Dreck und glaubt, seine ganze Arbeit sei nichts Wert, wenn er sieht, wie die multinationalen Konzerne agieren, wie die wilden Mechanismen der großen Finanz- und Handelsmärkte der Welt funktionieren, die dir mit der einen Hand das leihen, was sie dir mit der anderen stehlen. Es stimmt, daß das System sehr zerstörerisch mit den Menschen und der Natur umgeht, und es herrscht eine traurige Konkurrenz, vor allem unter den Ländern des Südens, um Kapital anzuziehen in den Zeiten der Globalisierung. Das ist sehr erniedrigend. ‑Wer kriecht am besten, heißt das Motto. Es werden absolut niedrige Löhne und die Freiheit, die Umwelt zu verschmutzen, angeboten.
Und es ist ein System, das die Menschen zur Einsamkeit, zur Angst, zur Hoffnungslosigkeit und zu Beklemmungen verurteilt. Dieses System zerstört die solidarischen Beziehungen zwischen den Menschen, es schränkt die Möglichkeiten der Menschen, sich zu treffen, immer stärker ein. Es zwingt uns, die anderen als Feinde zu betrachten. Es überzeugt uns davon, daß das Leben eine Rennbahn ist, auf der es wenige Gewinner und viele Verlierer gibt. Es ist ein System, das die Seele vergiftet.

Der Pessimismus, der die Welt und die Linke erfaßt hat, gründet sich auf die historische Erfahrung des Scheiterns der realsozialistischen Systeme. Mangelt es an einem glaubwürdigen alternativen Projekt der Linken?

Es gibt in bestimmter Hinsicht eine Symmetrie, in dem Sinn, daß im Westen die Gerechtigkeit im Namen der Freiheit geopfert wurde und im Osten die Freiheit im Namen der Gerechtigkeit. Im Grunde geht es um die Wiedergewinnung der verlorenen Einheit beider. Die Freiheit und die Gerechtigkeit, die als Zwillinge geboren und gewaltsam getrennt wurden, müssen wieder zusammenfinden. Das ist das, was ich wünsche. Genauso wie die Wiedergewinnung der Einheit von der Gerechtigkeit und der Schönheit ein Teil der Utopie ist. Möglicherweise war die Ethik noch nie so getrennt von der Ästhetik wie heute, am Ende dieses Jahrhunderts.

Sie haben in Ihren Essays von der Notwendigkeit der Entgiftung des Geistes gesprochen, gibt es ein Rezept für das Gegengift?

Nein, ein Rezept dafür gibt es nicht. Glücklicherweise, denn ich glaube an kein Rezept. Aber ich glaube an das Recht auf Notwehr. Wenn sich jemand durch eine dominierende Kultur bedroht sieht, die ihm den Geist vergiftet und ihn mit Gewalt und Angst füllt, dann hat er jedes Recht, sich dagegen zu verteidigen. Und wenn es eine dominante Kultur gibt, die deine Identität ausradiert, dann hast du jedes Recht, sie zu bekämpfen. Ich glaube, daß das menschliche Wesen geheime Muskeln besitzt, die es ihm erlauben, besser zu sein als dieses abscheuliche Bild, das einem jeden Tag von einem System um die Ohren gehauen wird, das auf Geld konzentriert ist. Wir sind viel mehr als Geld.

Wie ist es möglich, daß wir die Menschen immer alle in Schubladen mit Aufschriften stecken müssen?

Mir macht es am meisten Spaß, aus den Schubladen zu fliehen und festzustellen, daß man das Abenteuer der Freiheit überall und mit allen Menschen teilen kann, mit den verschiedensten Sprachen, die sie sprechen, und an den verschiedensten Orten. Es gibt immer Orte der Zusammenkunft mit den anderen.
Aber die Verschiedenartigkeit der Welt wird durch eine große Dampfwalze niedergemacht, durch die universelle Auferlegung eines einzigen Lebensmodells. Das fängt mit dem Export aufgezwungener Konsummodelle an. Die Welt ist daher immer weniger verschieden, leider, denn das Beste an der Welt ist die Vielzahl von Welten, die sie beinhaltet. Es ist ein Horror, ein Alptraum, zu einem Leben in einer zukünftigen Welt verurteilt zu sein, in der jene, die nicht verhungern, vor Langeweile sterben. Es gibt eine Chancenungleichheit, die symmetrisch zur Angleichung der Gewohnheiten verläuft. Das System ist ungleich in den Möglichkeiten, die es bietet und angleichend in der Kultur, die es aufzwingt.
Am Ende dieses Jahrhunderts universalisiert sich die Verehrung des Geldes. Das System basiert auf Habsucht und reduziert alle Menschen und Länder zu Waren. Ich weigere mich, eine Ware zu sein. Ich glaube, daß Land und Leute mehr als nur Waren sind.

Genau das Gegenteil denken die internationalen Finanzinstitutionen, die heute gerade in Lateinamerika eine für Wirtschaft und Politik dominierende Rolle einnehmen. Wie beurteilen Sie IWF und Weltbank?

Der IWF ist eine weltweite Maschine im Dienste der Idee der Entwicklung. Der IWF ist so etwas wie eine Weltregierung, weil seine Funktionäre mehr vermögen als alle Wirtschaftsminister zusammen. Wenn die Leute einen Präsidenten wählen und er seine Minister bestimmt, sind wir manchmal die Zuschauer eines Theaterstückes. Denn diejenigen, die eigentlich herrschen, sitzen irgendwo am Schreibtisch, und von dort entscheiden sie per Computer über das Schicksal von Millionen von Menschen. Sie konzentrieren den Reichtum und setzen die massive Verarmung durch. Und das mit einer absoluten Straflosigkeit. Das nennen sie Strukturanpassungsprogramme.

Die Logik der Entwicklung und des Wirtschaftswachstums ist absurd. Wenn Waffen verkauft werden, steigt das Bruttosozialprodukt. Das ist eine gute Nachricht im Wirtschaftsteil der Zeitungen. Aber ist es eine gute Nachricht für die Opfer dieser Waffen? Wenn ein Haus einstürzt oder ein Flugzeug mit allen Insassen abstürzt, ist das für die Wirtschaft eine gute Nachricht. Nicht nur weil die Auszahlung der Versicherungssumme Geld bewegt, sondern auch weil ein neues Gebäude oder ein neues Flugzeug gekauft werden muß. Für die Wirtschaft ist das gut, aber für die Opfer?


Eine Freundin, die als Sozialarbeiterin arbeitet, erzählte mir kürzlich, daß sie ein Haus betreiben, in dem sich Kinder im Alter von neun Jahren aufhalten, die Drogen zu sich nehmen. Sie betäuben sich mit Klebstoff. Einer der Jungen sagte zu ihr, sie solle nicht böse auf ihn sein. „So gehe ich in ein anderes Land“, sagt er. Er nimmt Drogen, um in ein anderes Land zu fliehen. Und das passiert mit Millionen von Kindern. Er möchte dieses traurige Land verlassen, in dem wir leiden und das zu einem großen Teil durch die Knebelungen der internationalen Finanz- und Kreditinstitutionen so geworden ist.

Aber die Flucht vor der Realität ist nicht die einzige Antwort auf die Knebelungen, die die Menschen in ihrem Griff halten. Welche sozialen Akteure leisten heute in Lateinamerika Widerstand?

Ein interessantes Beispiel für eine neue Widerstandsbewegung gegen den Neoliberalismus ist die in Europa weitgehend unbekannte Bewegung El Barzón. In dieser Organisation haben sich in Mexiko über zwei Millionen Kleinschuldner zusammengefunden, die ihre Schulden und die enorm angestiegenen Zinsen nicht mehr an die Gläubigerbanken zurückzahlen können und wollen. Damit treffen sie das Finanzsystem in seinem Nervenzentrum. Kürzlich wurden Repräsentanten von El Barzón sogar vom Vizepräsidenten der Weltbank in Washington empfangen. Ein deutlicheres Zeichen für die Furcht der Mächtigen vor dieser schnell an Kraft gewinnenden Bewegung kann es nicht geben. Andererseits haben in Mexiko auch die Zapatistas aus Chiapas mit ihrem Aufstand im Januar 1994 ein Zeichen der Hoffnung gesetzt. Es gibt in Lateinamerika aber auch viele Kämpfe gegen den herrschenden Neoliberalismus, von denen nichts oder wenig bekannt ist, weil die großen Kommunikationsmedien darüber nicht berichten.

Das aufsehenerregendste lateinamerikanische Medienereignis im letzten Jahr war die Besetzung und anschließende Räumung der japanischen Botschaft in Lima durch ein Kommando der MRTA. Wie haben Sie die dramatischen Ereignisse wahrgenommen?
Das Massaker bei der Räumung der japanischen Botschaft in Lima vom Blickwinkel Fujimoris aus betrachtet, ist etwas anderes als der Blickwinkel seiner Opfer. Fujimori bestrafte auf eine abscheuliche Weise die Leute, die die Botschaft besetzt hielten. Und er, der das Parlament und die Exekutivgewalt mit einem selbstinszenierten Staatsstreich besetzte? Was ist schon das Verbrechen, eine Botschaft zu besetzen, im Vergleich zu dem Verbrechen, ein Parlament zu besetzen und es aufzulösen.

Nicht nur die sozialen und politischen Folgen des Neoliberalismus beschäftigen Sie, sondern auch die ökologischen. Sie sagten einmal, es gelte die verlorengegangene Einheit von Mensch und Natur zurückzugewinnen. Was ist damit gemeint?

Es gibt zwei Faktoren, die die Auslandsinvestitionen anziehen. Die Freiheit, die Natur ungestraft zu verschmutzen und zu zerstören sowie das Recht, einen Dollar pro Tag als Lohn zu bezahlen. Wir befinden uns in diesem traurigen Konkurrenzkampf, und die Resultate für die Welt sind immer katastrophaler. Fünf Jahre nach der internationalen Umweltkonferenz in Rio, die die Welt mit Erklärungen, Worten und guten Absichten überschwemmte, scheint mir der Tod von Jacques Cousteau die beste Metapher für eine Bilanz zu sein. Er starb in dem Moment, in dem die Unfähigkeit des Systems, einen Planeten zu retten, der in eine große Kloake und Müllhalde verwandelt wurde, am offensichtlichsten geworden ist.
Wir müssen wieder auf unsere tiefsten kulturellen Wurzeln schauen. Für die amerikanischen indigenen Kulturen ist der Mensch eine Einheit mit der Natur, weil er Teil von ihr ist. Und weil sie das glaubten, wurden die Indígenas seit dem 16. Jahrhundert bestraft. Sie wurden wegen Götzenverehrung bestraft, weil sie glaubten, daß die Natur heilig ist. Das galt als Beweis für die Präsenz des Teufels in Lateinamerika. Das waren die Zeiten, in denen im Namen Gottes eine universelle Losung geschaffen wurde, die Natur beherrschen, später geschah es dann im Namen des Fortschritts. Die Natur wurde als wildes Tier gesehen, das gezähmt und unterworfen werden muß, um im Dienste des Menschen zu stehen, wie der herrschende Machismus es nennt.
Im 16. und 17. Jahrhundert hieß es, Gott habe den Europäern Amerika gegeben, damit sie die wilde Natur in ein Haustier verwandeln. Später wurde Gott durch den Fortschritt, die Zivilisation mit ihrer Idee, daß es möglich sei, die Natur zu beherrschen, ersetzt. Die Idee, daß der Mensch die Natur zu beherrschen habe, blieb. Erst in den letzten Jahren ändert sich etwas. Heute spricht man nicht mehr davon, die Natur zu beherrschen, die Parole lautet vielmehr, sie zu beschützen. In beiden Fällen gehen wir von einer falschen Grundannahme aus, indem wir die Natur außerhalb von uns selbst verorten. Wir müssen, meiner Meinung nach, diese verlorene grundlegende Einheit wiedergewinnen, die die unterworfenen indigenen Völker besaßen, für die diese Trennung nicht möglich war. Wir sind Teil der Natur. Ich bin der Bruder von allen, die Füße haben, aber auch von allem, was Pfoten hat, und von allem, was Flügel hat, und von allem, was Wurzeln hat. Deshalb wandelt sich jedes Verbrechen gegen die Natur in einen Selbstmord um, es wendet sich gegen mich, weil ich gegen etwas vorgehe, von dem ich ein Teil bin. Diese Konzeption der Dinge, die als Götzenverehrung über viele Jahre hinweg bestraft wurde, müssen wir wiedergewinnen. Wir müssen den Blickwinkel verändern, das gilt für viele Probleme.