Mexikos Regierung setzt auf Paramilitärs

Interview über die aktuelle Situation in Chiapas/Mexiko

Chiapas. Am 1. Januar '94 erklärte die EZLN (Zapatistisches Nationales Befreiungsheer), die Regierung Mexikos nicht länger anzuerkennen. Im Bundesstaat Chiapas wurden selbstverwalteter Gebiete eingerichtet, die zum Teil frei von mexikanischem Militär sind. Mit dem Kampf der Zapatisten in Chiapas haben sich in den vergangen Jahren vor allem Linke aus den westlichen Industrieländern solidarisiert. Doch um die EZLN und Chiapas ist es ruhig geworden. Dazu beigetragen hat auch die mexikanische Regierung, die ausländische Gäste und JournalistInnen nicht mehr ins Land läßt, so daß eine unzensierte Berichterstattung z. B. über Massaker von Paramilitärs in der internationalen wie in der mexikanischen Presse kaum mehr möglich ist. Die Situation in Chiapas hat sich seit 1994 sehr verändert. EinSatz! sprach mit Dario Azzellini und Boris Kanzleiter. Beide sind Journalisten und Filmmacher. Zuletzt drehten sie den Dokumentarfilm al norte über die Situation von MigrantInnen an der Grenze zwischen Mexiko und den USA. Sie beschäftigen sich seit Jahren mit dem Thema Mexiko und Lateinamerika. Zum Massaker in Acteál am 22. Dezember '97 fertigten sie eine Fotoausstellung an, die von Interessierten gezeigt werden kann. Dazu gibt es auch einen Veranstaltungsvortrag.

EinSatz!: Wie ist die derzeitige Situation in Chiapas?

Dario und Boris (DuB): Nachdem seit April bereits drei autonome zapatistische Gemeinden, die sich mit überwältigender Mehrheit von den offiziellen Strukturen losgesagt hatten und die Verwaltung selbst organisierten, geräumt wurden, hat die mexikanische Regierung die Situation weiter eskaliert. Am 10. Juni stürmten Militär, Polizei und Staatsanwaltschaft, geleitet von Paramilitärs, die autonome Gemeinde San Juan de La Libertad und zwei dazugehörenden Dörfer. Über 1.000 Einsatzkräfte waren an der Operation beteiligt. Dabei kamen mindestens zehn Personen ums Leben, neun wurden verletzt, 57 verhaftet und einige sind verschwunden. Polizei und Armee fielen schießend in das Dorf Unión Progreso ein, offiziell wurden dabei sechs Dorfbewohner "im Gefecht getötet". Mittlerweile ist bekannt, daß sie lebend und gefesselt abgeführt und danach exekutiert wurden. Die Dörfer wurden geplündert und zerstört, ca. 3.000 Flüchtlinge befinden sich nun in den umliegenden Bergen und Dörfern. Etwa 30.000 Menschen mußten bisher vor Armee oder Paramilitärs fliehen und die Militarisierung geht weiter.

Die 32 noch existierenden autonomen Gemeinden schrieben dem Präsidenten Ernesto Zedillo daraufhin eine gemeinsame Botschaft: "Sie sind ein Mörder! Das ist alles."

EinSatz!: Es gibt auch in anderen Regionen Mexikos bewaffnete Aufstände und Kämpfe. Erzählt doch bitte kurz etwas über deren Situation und Möglichkeiten.

DuB: Eine ähnliche Situation wie in Chiapas herrscht in fast allen südlichen Bundesstaaten. Aber auch im Zentrum z.B. im Bundesstaat Morelos tauchen Guerilla-Gruppen auf. Die Schätzungen wieviele Guerilla-Gruppen es gibt, reichen von 52 bis 300. Das sagt aber nichts über Stärke und Verankerung. Es gibt fast jede Woche ein Kommuniqué einer neuen Gruppe. Vor allem im Süden ist die Bewaffnung sehr weit verbreit und jede Bauernorganisation hat eine bewaffnete Miliz zur Selbstverteidigung. Diese Milizen nehmen wegen des erhöhten Repressionsdrucks immer klandestinere Formen an und verwandeln sich teilweise in Guerillas.

Neben der EZLN exisitert als relativ große Struktur und mit breiter sozialer Basis noch die EPR (Revolutionäre Volksarmee). Sie enstand aus einem Zusammenschluß mehrer kleiner Guerillas und Bauernmilizen und pflegte Anfangs einen harten ML-Diskurs. Inzwischen formuliert sie eine bedachtere Analyse.

EinSatz!: Wo ist die EPR aktiv und wie ist die Situation dort?

DuB: Die EPR operiert in etwa sechs Bundesstaaten, hauptsächlich in Guerrero und Oaxaca. Ihre Basis besteht, wie bei der EZLN, vorwiegend aus Indianern und Kleinbauern. Es gibt aber auch eine städtische Verankerung der EPR im Großraum Mexiko-Stadt. Die EPR ist Ausdruck jahrzehntelanger, sehr hart geführter Kämpfe hauptsächlich in den Bergen der Sierra Madre, die sich den Pazfik entlang ziehen. Hier gab es bereits Ende der 60er bis Mitte der 70er Jahre eine Guerilla, die damals brutal zeschlagen wurde und auf die sich die EPR und die mit ihr sympathisierenden zivilen Organisationen beziehen.

Die Situation in Guerrero oder Oaxaca ist fast so repressiv wie in Chiapas, nur daß da fast niemand hinschaut. Die Anwendung der Kriegsführung niederer Intensität erstreckt sich mittlerweile auf weite Teile Mexikos.

Ein aktuelles Beispiel: In den Morgenstunden des 7. Juni '98 umkreiste die Armee das von Mitzteken-Indianern bewohnte Dorf El Charco im Bundesstaat Guerrero. Eine Kolonne der ERPI (Revolutionäre Armee des aufständischen Volkes), eine Gruppe die mit der EPR zusammenarbeitet, übernachtete dort und hatte davor ein Treffen mit Vertretern verschiedener Dorfgemeinschaften. Die Armee überraschte Guerilleros und Dorfbewohner im Schlaf. Bei dem Angriff auf die hermetisch abgeriegelte Gemeinde wurden Artillerie und Kampfhubschrauber eingesetzt. Danach konnten in El Charco 11 Tote, fünf Verletzte und 27 Verhaftungen gezählt werden. Laut eigenen Angaben befand sich die Armee auf einer Antidrogenoperation, als sie plötzlich von der Guerilla angegriffen wurde und im Gefecht elf Guerilleros tötete. Mittlerweile ist klar, daß es sich um eine geplante Aktion handelte und die elf Personen - von denen nur drei der Guerilla angehörten – liegend und mit den Händen auf dem Rücken einen Kopfschuß bekamen.

EinSatz!: Was ist gemeint mit dem Begriff "Kriegsführung niederer Intensität"?

DuB: Das Konzept der Kriegführung niederer Intensität ist flexibel und wird zur Aufstandsbekämpfung in vielen Ländern Lateinamerikas, aber auch in anderen Teilen der Welt, angewandt. Es läuft letztlich hauptsächlich darauf hinaus, bewaffnete Oppositionsgruppen von ihrer zivilen Basis zu isolieren, um sie dann militärisch zunächst kontrollieren zu können und schließlich zu zerschlagen. Im Gegensatz zur „konventionellen Kriegsführung" wird nicht ein Krieg um ein Territorium geführt, sondern ein Krieg auf einem Territorium gegen die dort lebende Bevölkerung. Kriegsführung niederer Intensität umfaßt Desinformationspolitik in den Medien genauso wie gezielte Morde an einzelnen Repräsentanten ziviler Oppositionsgruppen oder der Aufbau von paramilitärischen Gruppen, die das "dreckige Geschäft" übernehmen. In Südmexiko fußt diese Strategie momentan unter anderem darauf, daß paramilitärische Gruppen aufgebaut werden, die in Regionen, wo die Opposition stark geworden ist, die Bevölkerung terrorisieren. Dabei kam es in den letzten Monaten mehrmals zu Massakern, bei den die Paramilitärs auf bestialische Weise völlig unbewaffnete Zivilisten ermordeten. Dabei agieren Militär und Paramilitärs auf eine der Öffentlichkeit geschickt verkauften Art und Weise zusammen. Nach den Massakern spielt sich das Militär als die angeblich schlichtende Kraft zwischen den Extremen von links und rechts auf und baut ihre Position in den betroffenen Regionen aus. Dabei ist es völlig klar, daß diese ganze Politik einem geschlossenen Konzept folgt, das von Militärberatern ausgearbeitet wird, die oft in den USA ausgebildet wurden. Dort existiert mit der School of America eine Einrichtung des Pentagon, die Tausende von Offizieren der lateinamerikanischen Armeen in diesen Techniken ausgebildet hat.

EinSatz!: Seit wann wird dieses Konzept angewandt und gab es bestimmte Entwicklungen des Vorgehens?


DuB: Das Konzept an sich wurde ansatzweise bereits nach der Kubanischen Revolution von 1959 entwickelt, um die Guerillabewegungen, die in den 60er Jahren in vielen lateinamerikanischen Ländern entstanden, bekämpfen zu können. Die Niederlage der US-Armee in Vietnam und das Anwachsen der Befreiungskämpfe in Zentralamerika zu diesem Zeitpunkt, hat dazu geführt, daß das Konzept weiter entwickelt und verfeinert wurde. Anfang der 80er Jahre wurden in Guatemala zehntausende Menschen in einem der schlimmsten Kriege gegen eine revolutionäre Bewegung getötet, die dieses Jahrhundert gesehen hat. Auch damals spielte das Konzept eine wichtige Rolle. Heute wird die Kriegsführung niederer Intensität in Lateinamerika hauptsächlich in Kolumbien und Mexiko angewandt.

EinSatz!: Hat diese Strategie schon konkrete Auswirkungen?

DuB: Auf jeden Fall. Die Paramilitarisierung in Südmexiko drückt den Menschen in den Dörfern zunehmend die Luft ab. Die Regierung versucht unter anderem durch die Paramilitärs bereits bestehende Spaltungen zwischen regierungsloyalen und oppositionellen Kleinbauern weiter zu vertiefen und damit gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den einfachen Leuten in den Dörfern zu provozieren. Dies hat in einigen Gemeinden funktioniert. Dagegen steht aber in anderen Regionen die wachsende Selbstorganisierung der Dorfgemeinschaften, so daß man nicht davon sprechen kann, daß sich das Konzept momentan wirklich durchsetzen kann. Aber man kann sich mal folgendes vor Augen führen: Wären es im Dezember die Militärs gewesen und nicht die Paramilitärs, die in Acteàl 45 unbewaffnete ZivilistInnen auf bestialische Art und Weise ermordet haben, dann wäre der internationale Druck auf die mexikanische Regierung sicher viel größer gewesen.


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