Alles ändert sich, damit es so bleibt
Ecuador
Die rebellierenden Indígenas Ecuadors fühlen sich von den Streitkräften betrogen. Diese missbrauchten das Aufbegehren der Indígenas, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, um eine Regierung nach ihren eigenen Wünschen zu installieren. Nicht wenige Beobachter der Situation befürchten, der neue Präsident Gustavo Noboa sei eine Marionette der Armee. Dass dieser sein gesamtes Regierungsprogramm mit führenden Militärs abgesprochen hat, bestärkt den Eindruck.
Das Staunen war groß, als am Freitagmittag etwa 1500 Indígenas gemeinsam mit einer Gruppe rebellierender Militärs das Parlamentsgebäude der ecuadorianischen Hauptstadt Quito stürmten und den Präsidenten Jamil Mahuad für abgesetzt erklärten. An seine Stelle setzten die Aufständischen eine "Regierung der Nationalen Rettung", ein Triumvirat bestehend aus dem Oberst Lucio Gutiérrez, dem ehemaligen Vorsitzenden des Obersten Gerichts Ecuadors, Carlos Solórzano, und dem Vorsitzenden der "Konföderation Indigener Nationen Ecuadors" (Conaie), Antonio Vargas. Gleichzeitig jubelte auf den Straßen des Landes die Bevölkerung.
Die Freude hielt jedoch nur wenige Stunden. Bereits am Samstag übernahm Gustavo Noboa, der ehemalige Vizepräsident Mahuads, dank eines Schachzugs der ecuadorianischen Militärführung die Amtsgeschäfte. Er wurde von einer kurzfristig einberufenen Sitzung des Parlaments im Auditorium der Zentralbank von Ecuadors zweitgrösster Stadt Guayaquil als neuer Präsident bestätigt. Die etwa 10.000 Indígenas, die die Hauptstadt Quito über mehrere Tage besetzt gehalten hatten und den friedlichen Machtwechsel mit ihren Protesten einleiteten, zogen enttäuscht wieder ab.
Die Besetzung des Parlaments, des Obersten Gerichtshofs und anderer öffentlicher Gebäude war der Höhepunkt einer Streik- und Protestwelle, die das südamerikanische Land seit dem vorangegangenen Wochenende gelähmt hatte. Die Conaie hatte zu Protesten gegen die von Präsident Jamil Mahuad (seit 1998 an der Regierung) geplante Abschaffung der nationalen Währung Sucre und die Einführung des US-Dollars als offizielles Zahlungsmittel aufgerufen. In Umfragen sprachen sich nach der angekündigten Dollarisierung über 70% der Bevölkerung gegen Mahuad aus. Sie befürchtete, mit der Dollarisierung solle die ecuadorianische Wirtschaft auf Kosten der Mittel- und Unterschichten gerettet werden.
Genau diese sind auch die Leidtragenden der Wirtschaftskrise, die sich unter dem Rechtspopulisten Mahuad im letzten Jahr weiter zugespitzt hat: Die Inflation stieg 1999 auf 61%, das Wirtschaftswachstum fiel um 7,5%, und die Landeswährung wurde um 67% abgewertet. Nahezu die Hälfte der Bevölkerung Ecuadors lebt mittlerweile in Armut, über 15% sogar in extremer Armut. Bereits im März und im Juli 1999 hatten daher breite Protestbewegungen das Land nahe an den Kollaps geführt.
Der im Rahmen der Dollarisierung vorgesehene Wechselkurs von 25.000 Sucre für einen Dollar hätte den monatlichen Mindestlohn auf umgerechnet 4 Dollar reduziert. Zusätzlich war auch eine Reform von mehr als 30 geltenden Gesetzen aus dem Wirtschafts-, Arbeits- und Zivilrecht geplant sowie die Privatisierung des Erdölsektors, der Gesundheitsversorgung und des Erziehungswesens.
Den Protesten der Indianerorganisation Conaie - sie gilt als die stärkste und mobilisierungfähigste Organisation des Landes, in dem 25-40% der 12,5 Millionen Einwohner Indígenas sind - schlossen sich schnell über 500 Organisationen verschiedener anderer gesellschaftlicher Sektoren an. Die meisten Kleinhändler schlossen ihre Geschäfte, die Angestellten der Sozialversicherungsanstalt traten in den unbefristeten Streik. Ein Streik im Gesundheitssektor führte zur Schließung der staatlichen Krankenhäuser des Landes, und ein Transportarbeiterstreik legte eine Woche lang nahezu den gesamten Verkehr lahm.
Angesichts der massiven Proteste verkündete Mahuad den nationalen Notstand, die Armee übernahm alle Polizeifunktionen. Auf den Straßen des Landes patrouillierten über 35.000 Soldaten, und rund um den Regierungspalast und den Kongress wurden Panzer aufgefahren. Die Einschüchterungen zeigten keine Wirkung. Der Conaie- Vorsitzende Antonio Vargas erklärte, der indianische Aufstand sei unbefristet und landesweit und würde, nach der schrittweisen Ausweitung von Straßenblockaden auf das gesamte Land, zur Besetzung von öffentlichen Gebäuden, Städten und Banken übergehen.
Die Erdölarbeiter der staatlichen Petroecuador sowie die Beschäftigten der drei Raffinerien des Landes schlossen sich dem Streik an. Erdöl ist die wichtigste Devisenquelle des Landes; die staatliche Erdölfirma Petroecuador fördert nahezu 80% der täglich geförderten 375.000 Barrels.
Die Conaie kündigte daraufhin an, sie werde gemeinsam mit anderen Organisationen der Zivilgesellschaft die Macht übernehmen, und forderte verschiedene internationale Organisationen und Regierungen auf, Beobachter zu entsenden. Die Repräsentanten der Opposition sind in einem sog. Parlament des Volkes vereint, in dem neben Vertretern der indianischen Gemeinden auch Repräsentanten der schwarzen Bevölkerung, der Beschäftigten im Gesundheitssektor, von Frauenorganisationen, Menschenrechtsgruppen, Kleinhändlern, Studierenden, Rentnern und Bauern vertreten sind. Zu dessen Präsident wurde einstimmig der Erzbischof von Cuenca, Alberto Luna Tobar, gewählt. Das Volksparlament beschloss, die Macht in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Justiz zu übernehmen, und rief das gesamte Land zum zivilen Ungehorsam auf.
Der Conaie-Vorsitzende Vargas, gewählter Vizepräsident des Parlaments des Volkes, erklärte, das Volksparlament werde die wirkliche Nationalversammlung darstellen und eine Regierung der Nationalen Rettung wählen, die die Regierung Mahuad ersetzen und eine Volksjustiz schaffen werde. Er rief das Militär öffentlich auf, sich der Protestbewegung anzuschliessen.
Mindestens 120 mittlere Dienstgrade der Armee rund um Oberst Lucio Gutiérrez unterstützten den Aufstand. Dabei handelt es sich um ein "bolivarianische" Strömung innerhalb der Militärs im Stile des venezolanischen Präsidenten Chávez. Militärs und Indígenas gemeinsam gelang, es ohne Blutvergießen das Parlament zu stürmen.
In der zunächst gebildeten Junta saß auch Oberst Gutiérrez. Er verkündete im Kampfanzug: "Wir werden hören, was das Parlament des Volkes fordert, und dafür sorgen, dass die Forderungen erfüllt werden." Schon wenig später räumte Gutiérrez, überzeugt von den guten Absichten des Verteidigungsministers und Generalstabschefs Mendoza, seinen Posten für den General.
Neben Mendoza und dem Conaie-Vorsitzenden Vargas nahm auch der ehemalige Vorsitzende des Obersten Gerichts Ecuadors, Carlos Solórzano, an der neuen Junta teil. Er war 1997 abgesetzt worden, weil er gegen den damaligen Präsidenten Fabián Alarcón ein Korruptionsverfahren eingeleitet hatte. Solórzano versicherte, die neue Regierung werde "die Veränderungen durchführen, die die Bevölkerung erhofft".
In einer ersten Stellungnahme forderten die ecuadorianischen Streitkräfte die Indígenas und die rebellierenden Militärs auf, ihr Vorgehen zu beenden. Doch schon kurze Zeit später drängte der Generalstab der ecuadorianischen Armee Mahuad dazu zurückzutreten, um eine "soziale Explosion" zu vermeiden. Mahuad jedoch blieb hart und betonte, er sei der rechtmässig gewählte Präsident und mit Gewalt abgesetzt worden, bevor er in die chilenische Botschaft flüchtete.
Nach dem Sturz der Regierung kam es im ganzen Land zur Besetzung von öffentlichen Gebäuden und Demonstrationen, bei denen die Fahnen der Conaie geschwenkt und Losungen gegen die alte Regierung gerufen wurden. Die Vereinigung der Taxifahrer Ecuadors beschloss, sich dem Aufstand anzuschließen, und kündigte an, die 50.000 Taxifahrer würden bis zur Machtübernahme des Triumvirats alle Straßen des Landes blockieren.
Während in Ecuador die Bevölkerung den Machtwechsel bejubelte, waren die internationalen Reaktionen alles andere als euphorisch. Der Aufstand wurde von nahezu allen lateinamerikanischen Staaten - außer Venezuela - verurteilt. Der Ständige Rat der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) kritisierte vehement "den Anschlag auf die legitim konstituierte demokratische Ordnung" und verkündete ihre "volle und entschiedene Unterstützung" für Mahuad. Ähnlich reagierte die EU. Die USA drohten sogleich, dass sich "jedes Regime, welches aus einem nicht verfassungsmäßigen Prozess hervorgeht, einer politischen und wirtschaftlichen Isolation gegenüber sehen wird, die das ecuadorianische Volk in noch größeres Elend treiben wird".
So war es wohl auch der Druck des US-Außenministeriums, der Mendoza nur drei Stunden nach Konstituierung des Triumvirats dazu veranlasste, es für wieder aufgelöst zu erklären und die Machteinführung des ehemaligen Vizepräsidenten Noboa vorzubereiten. Damit sollte der Machtwechsel trotz der verfassungswidrigen Absetzung Mahuads einen legalen Anschein erhalten.
Noboa verkündete, er werde alle Pläne der Mahuad- Regierung, die Dollarisierung mit eingeschlossen, weiter verfolgen. Plötzlich schwanden alle verfassungsrechtlichen Bedenken und die USA sicherten prompt ihre volle Unterstützung zu.
Von Mendoza aufgefordert, "um der Demokratie Willen" das Parlament zu verlassen, räumte Vargas sichtlich konsterniert mit seinen Gefolgsleuten das Parlament und erklärte, die Bewegung sei von den Militärs verraten worden. Gleichzeitig kündigten die Vertreter der Conaie an, der Kampf habe gerade erst begonnen und sie würden nach der Rückkehr in ihre Gemeinden erneut mit Strassenblockaden den Verkehr und die Lebensmittelversorgung der Großstädte Quito und Guayaquil lahm legen.
"Wir werden nicht mit dem neuen Präsidenten zusammenarbeiten", sagte Vargas, der versicherte, die Bewegung genieße viel Unterstützung in den mittleren Rängen der Armee, "wir rufen weiterhin zum zivilen Ungehorsam auf."
Obwohl der neue Präsidente Gustavo Noboa Straffreiheit zugesichert hatte, wurde Oberst Gutiérrez schon am Samstagmorgen vom militärischen Geheimdienst verhaftet und an einen unbekannten Ort verschleppt. Nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen soll mindestens weitere sieben Militärs das gleiche Schicksal ereilt haben, während eine größere Gruppe von mindestens hundert Angehörigen der Streitkräfte in einem Militärcamp auf ihr weiteres Schicksal wartet. Die Militärs würden der Militärjustiz überstellt, hieß es. Die Generalstaatsanwaltschaft forderte das höchste Gericht auf, gegen alle anderen Beteiligten an dem Umsturzversuch - die Vorstände verschiedener Gewerkschaften und linker Parteien mit eingeschlossen - Anklage zu erheben.
Auch das Karussell der Schuldzuweisungen ist mittlerweile im vollen Gange. Das Eingreifen der Armee, so Mendoza, sei notwendig gewesen, weil Mahuad vorgehabt habe, sich nach dem Vorbild Fujimoris in Peru zum "Diktator zu erklären". Mahuad und einige andere Politiker des Landes hingegen weisen daraufhin, dass es sich um einen Putsch gehandelt habe, mit dem die Militärs die Macht ergreifen wollten.
Der ehemalige Verteidigungsminister José Gallardo wiederum erklärte, Mendoza habe die Indígenas, die alte Regierung und die Streitkräfte betrogen, während der Bürgermeister von Quito den ehemaligen Richter Solórzano beschuldigte, "einen linksradikalen Putsch" geplant zu haben. Am wahrscheinlichsten scheint die Version einer geplanten Machtübernahme rechter Militärs unter Mendoza, die angesichts des Drucks aus den USA im letzten Moment eine Rückzieher machten. Der Conaie-Vorsitzende Vargas bestätigte, dass General Mendoza ein Schreiben vorbereitet hatte, in dem eine autoritäre Regierung unter seiner Führung proklamiert wurde.
Vargas versicherte auch, dass die Aktionen der Conaie weder mit dem Generalstab der Armee noch mit Oberst Gutiérrez abgesprochen waren. Er forderte den Generalstab auf die Zusage der Straffreiheit für die beteiligten Militärs einzuhalten. Der Vorsitzende der Conaie warnte Noboa, dass es "ihm sehr schlecht gehen werde", wenn er die Politik der Privatisierung, Dollarisierung und Zahlung der Auslandschulden seines Vorgängers weiter verfolge: "Wenn diese Regierung das gleiche macht wie Mahuad, wird die Bevölkerung sich erheben und wir werden in drei bis sechs Monaten eine noch größere soziale Explosion oder sogar einen Bürgerkrieg erleben." Das nächste Mal, fügte er hinzu, würden die Indígenas die Macht übernehmen, friedlich natürlich.
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