„Die endlich entdeckte politische Form“. Fabrikräte und Selbstverwaltung von der Russischen Revolution bis heute - Axel Weipert - Buchbesprechungen, Buchbesprechungen, 06/2014

Buchbesprechungen, 06/2014

Auf doppelte Weise zeigt der vorliegende Sammelbd. sehr nachdrücklich, wie  international verbreitet das Phänomen der Arbeiterselbstverwaltung war und ist. Denn die Autoren der 22 Aufsätze, allesamt ausgewiesene Experten und meist auch selbst politisch aktiv, kommen von verschiedenen Kontinenten und decken zugleich ein weites Feld historischer Forschung ab. Den Auftakt bilden mehrere eher theoretisch angelegte Beiträge. Die im Anschluss untersuchten konkreten Beispiele erstrecken
sich von der revolutionären Periode am Ende des Ersten Weltkriegs in Russland, Deutschland und Italien über die staatssozialistischen Länder Polen und Jugoslawien, die postkolonialen Kämpfe in Indonesien und Algerien bis hin zu aktuelleren Fällen vornehmlich in Lateinamerika. Angesichts dieser Fülle kann es hier nicht darum gehen, jeden einzelnen Beitrag zu behandeln. Vielmehr sollen lediglich einige übergreifende Charakteristika herausgearbeitet werden.

Generell wird bei der Lektüre deutlich: Es handelt sich um eine weltweit verbreitete Form politischer Aktivität, die seit über hundert Jahren bis heute in hochentwickelten Gesellschaften ebenso anzutreffen ist wie in Entwicklungs- und Schwellenländern. So
unterschiedlich die jeweiligen Kontexte sind, so variantenreich gestalten sich auch die konkreten Umsetzungen von Arbeiterselbstverwaltung. Die Besetzung von British Columbias Telephone in Kanada 1981 (S.424-444) betraf beispielsweise nur ein einzelnes Unternehmen, während anderswo ganze Branchen, Regionen oder Produktionsketten involviert waren. Die Einflussmöglichkeiten variierten sehr stark
von Mitbestimmung bezüglich einzelner Fragen der Lohngestaltung und der Arbeitsbedingungen über Produk tionskontrolle bis hin zur vollständigen Übernahme und Leitung der Betriebe.

Besonders interessant ist der Vergleich der Ziele der Akteure. Denn oft waren die Beschäftigten keineswegs revolutionär eingestellt, häufig ging und geht es um bescheidenere defensive Ziele. Die Arbeiter indischer Teeplantagen wollten 1974 vor allem ihre durch Konkurs bedrohten Arbeitsplätze sichern, genauso wie die  Beschäftigten der brasilianischen Zuckerindustrie in den 80er- und 90er-Jahren oder der schottischen Werften in den 70ern. Selbst für die Fabrikkomitees in der Revolution in Russland bestand eine der Hauptaufgaben darin, die maroden Betriebe  funktionsfähig zu halten. Anders ausgerichtet waren die revolutionären Obleute in Deutschland während und nach dem Ersten Weltkrieg, die Protagonisten der portugiesischen Nelkenrevolution 1974 oder aktuelle Bestrebungen in Venezuela. Hier
stand und steht die umfassende, offensive Transformation eines fragwürdig
gewordenen Gesellschaftssystems auf der Tagesordnung. In vielen Beiträgen wird deutlich, dass Ansätze zu einer Arbeiterselbstverwaltung oft dann auftreten, wenn die tradierte innerbetriebliche oder gesellschaftliche Ordnung in eine Krise gerät und dadurch an Legitimität verliert.

Der Interaktion mit anderen Kräften kam durchgängig eine wichtige Rolle zu. Während die Eigentümer der betroffenen Unternehmen verständlicherweise hartnäckigen Widerstand leisteten, muss das Agieren von Gewerkschaften, Parteien und Staat differenzierter betrachtet werden. Deren Haltung hing von den jeweiligen Umständen ab und konnte sowohl fördernd – etwa teilweise in Venezuela, Jugoslawien oder Spanien – als auch distanziert und mitunter offen feindlich ausfallen. Das vielleicht
wichtigste Hindernis der Räte waren aber meist bürokratisch-hierarchische Strukturen generell. Sie standen und stehen in ihrer Auffassung von Verwaltung und Politik basisdemokratischer Selbstorganisation diametral entgegen. Und das ganz  unabhängig davon, ob sie nun gewerkschaftlicher, wirtschaftlicher oder politischer Natur sind. Bestand die Selbstverwaltung über längere Zeit, entwickelte sie sogar
selbst gewisse bürokratische Strukturen und lähmte so die unabdingbare Voraussetzung ihrer Funktionalität, die permanente Einbindung der Basis in
Entscheidungsfindungsprozesse. Das ging und geht oft Hand in Hand mit einer schrittweisen Reintegration in kapitalistische Marktprozesse und deren Erfordernisse.

Diese Gefahren schildert u. a. Marina Kabat in ihrer Analyse der seit 2001 besetzten argentinischen Betriebe sehr überzeugend. Für viele der in dem Bd. beschriebenen Versuche gilt, dass sie immer dann scheiterten, wenn sie nicht mehr ausreichend
von einer breiten und aktiven Bewegung inner- und außerhalb der Unternehmen
getragen wurden. Die Erfolge waren unterschiedlich, aber zumindest manchmal gelang es den Beschäftigten, erstaunlich gut und effizient zu wirtschaften. Zu beachten ist dabei, dass Erfolg hier nicht nur an ökonomischen Kennzahlen zu messen ist. Vielfach machen die zitierten Aussagen von Beteiligten deutlich, dass es insbesondere die veränderten Arbeits- und Entscheidungsprozesse, ein gesteigertes Selbstwertgefühl, Solidarität und andere immaterielle Verbesserungen waren, die
für sie den Kern der Selbstverwaltung ausmachten.

Insgesamt ist es den Hrsg. gelungen, eine beeindruckende Bandbreite von Themen der Arbeiterselbstverwaltung in inhaltlich hoher Qualität zu behandeln. Einzig ein gründlicheres Lektorat wäre angebracht gewesen, denn die zahlreichen kleinen Fehler stören bisweilen arg den Lesefluss. Wie die Hrsg. selbst einräumen, fehlen in dem
Bd. viele wichtige Beispiele. Ein zweiter Bd. ist jedoch bereits angekündigt und wäre absolut wünschenswert.