Von Argentinien bis Tunesien: Ein neuer Sammelband rückt die globale Dimension politischer und sozialer Mobilisierung von Arbeiter:innen in den Blick.
In Kolumbien gehen dieser Tage massenhaft Menschen auf die Straße. Sie protestieren gegen die soziale Ungleichheit im Land, die sich durch die Corona-Krise noch einmal verschärft hat, fordern ein Ende der Polizeigewalt und den Rücktritt des Staatspräsidenten Iván Duque. Ausgelöst wurden die jüngsten Aufstände durch eine von der Regierung im April dieses Jahres verabschiedeten – und mittlerweile wieder zurückgenommenen – Steuerreform, die insbesondere untere und mittlere Einkommensgruppen stark getroffen hätte. Die brutale Reaktion der Polizei und des Militärs auf die Proteste kostete bereits mehrere Menschenleben. Doch in der hiesigen Presselandschaft wird den Ereignissen in Kolumbien kaum Beachtung geschenkt.
Ein neuer Sammelband stellt sich dieser Ignoranz für Kämpfe gegen autoritäre und faschistische Tendenzen im globalen Süden entgegen und will dabei die Relevanz von Arbeiter:innen weltweit ins Bewusstsein rücken. Berichte aus 25 Ländern vereint der Band dafür in 29 Beiträgen: Von historischen Ereignissen wie dem bedeutenden Bergarbeiterstreik 1984/85 in Großbritannien gegen die gewerkschaftsfeindliche Politik Thatchers, hin zu aktuellen Kämpfen wie der gewerkschaftlichen Mobilisierung in Indien unter Modi. Der Herausgeber Dario Azzellini macht im Vorwort sein mit dem Sammelband verbundenes Anliegen deutlich: „Der Blick ist darauf gerichtet, wie Arbeiter:innen sich für demokratischen Wandel einsetzen, auch in Situationen der Schwäche.“ (S. 12)
Wider die staatliche Repression
Und diese Schwäche ist keineswegs überraschend. Wo Faschismus gedeiht, sind Gewerkschaften und eine organisierte Arbeiter:innenschaft besonders bedroht. In einem Beitrag nimmt Verna Dinah Q. Viajar die Leser:innen mit in die Zeit Indonesiens unter der autoritären Herrschaft des Diktators Suharto (1968–98) und illustriert, dass die Unterdrückung der Gewerkschaften eine Voraussetzung für dessen Herrschaft war. Nach dem Militärputsch durch Suharto wurde in einer Säuberungsaktion gegen Kommunist:innen und deren Sympathisant:innen auch die organisierte Arbeiter:innenbewegung zerschlagen, viele Menschen wurden getötet oder inhaftiert. Die herausragende Rolle der Gewerkschaften und der arbeitenden Klasse bei dem in den 1990er Jahren einsetzenden Demokratisierungsprozess in Indonesien stellt Viajar ebenso heraus:
„Die Rechte und Kämpfe von Arbeiter:innen sind inhärent mit breiteren Kämpfen um Demokratisierung verknüpft. Denn Gerechtigkeit und Demokratie am Arbeitsplatz spiegeln den Kampf um Gleichheit in der Gesellschaft wider.“ (S. 144)
Verbindende Klassenkämpfe
Viele Beiträge erzählen von solidarischen Kämpfen, die von organisierten Arbeiter:innen und sozialen Bewegungen gemeinsam geführt werden; Kämpfe, die in hiesigen linken Theoriediskussionen unter dem Schlagwort „verbindende“ bzw. „neue Klassenpolitik“ verhandelt werden. Während der verbindende Charakter solcher Kämpfe im globalen Norden eher hoffnungsvoll imaginiert, denn im großen Rahmen realisiert wird, machen die spezifischen Gegebenheiten in einigen Ländern des globalen Südens sie zur Notwendigkeit.
Die Soziologin Flávia Braga Vieira widmet sich diesem Umstand in ihrem Beitrag über die Organisierung von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen in Brasilien. Angesichts eines Wiedererstarkens rechter Bewegungen ab 2014, die in den Wahlsieg des Rechtsradikalen Jair Bolsonaro zum Präsidenten 2018 mündeten, schmiedeten linke und Mitte-Links-Parteien, Studierendenorganisationen, Schwarze und LGBTIQ-Aktivist:innen, indigene Organisationen, Gewerkschaften und vor allem Frauenbewegungen Bündnisse. Auch wenn der Wahlsieg Bolsonaros nicht zu verhindern war, kann „die Verbindung ‚neuer‘ und ‚alter‘ Formen von Klassenorganisation“ (S. 80) aus der Erfahrung gemeinsam bestrittener Kämpfe für künftige Proteste gegen autoritäres Regierungshandeln lehrreich sein. Was der Sammelband hier leistet, ist nicht zu unterschätzen: In der Veranschaulichung unterschiedlicher Formen von Bündnispolitik zeigt sich, wie Solidarität in der konkreten Praxis gelebt wird. Statt der Differenz wird dort das Verbindende betont.
Druck von unten
Das Buch liefert auch Beispiele, wie sich Arbeiter:innen ohne gewerkschaftliche Hilfe oder sogar gegen den Widerstand von Gewerkschaftsführungen selbstorganisieren. Der Politikwissenschaftler Lorenzo Feltrin spürt in seinem Beitrag dem Aufstand in Tunesien von 2011, der den sogenannten Arabischen Frühling begründete, nach. Während sich die lange Zeit auf Kompromisse eingeübte Führung der größten Gewerkschaft des Landes, UGTT, von den Ereignissen gelähmt zeigte, mobilisierten vor allem prekäre Arbeiter:innen für die Proteste. Die politisierte Basis trug schließlich den Kampf in den Gewerkschaftsapparat, bis sich die nationale UGTT-Führung hinter den Aufstand stellte.
Feltrins Text, wie der vieler anderer im Band, gibt Aufschluss darüber, was Gewerkschaften daraus für ihre Mobilisierungsarbeit lernen können: Um nicht den Kontaktverlust zur Basis zu riskieren, müssen Gewerkschaften ihre strikte Trennung von Arbeitskämpfen und politischen Aktionen überdenken und gesamtgesellschaftliche Fragen stärker in den Blick nehmen. In einem einführenden Kapitel fordert der Hausgeber Dario Azzellini, dass sich insbesondere Gewerkschaften im globalen Norden nicht darin beruhigen sollten, „an der ausschließlichen Vermittlerrolle zwischen Kapital und Arbeit […] und dem strikten Befolgen institutionalisierter Arbeitskonfliktmodelle“ (S. 42) festzuhalten. Stattdessen müssten Gewerkschaften die Konfliktbereitschaft bei Arbeiter:innen entwickeln und stärken. Azzellini konstatiert in der Tat eine globale Tendenz zunehmender Arbeitskonflikte, die durch die Covid-19-Pandemie nicht abgeschwächt, sondern sogar verstärkt worden ist. Ob diese Kämpfe eine schlagkräftige linke Bewegung hervorbringen werden, bleibt abzuwarten und dürfte vor allem von der gesellschaftspolitischen Entwicklung in den jeweiligen Ländern abhängen.
Der Sammelband deckt eine immense Bandbreite globaler Arbeitskämpfe ab. Die Stärke des Buches liegt darin, aufzuzeigen, wie arbeiter:innenfeindlich autoritäre Regime ausgerichtet sind und wie sehr ihre Stabilität einer konformen und gehorsamen Arbeiter:innenschaft bedarf. In den Beiträgen zu Japan, Frankreich oder Deutschland wird allenfalls angedeutet, dass auch liberal-kapitalistische Systeme nicht an einer an demokratischen Praktiken im Arbeitsleben orientierten organisierten Arbeiter:innenschaft interessiert sind.
Dem Sammelband gelingt allerdings, was viele Bücher, die sich an den Verwüstungen von Klassengegensätzen abarbeiten, versäumen: Die Darstellung von Arbeiter:innen nicht ausschließlich als passive Opfer und Ausgebeutete, die es zu repräsentieren gilt, sondern als kämpfende Subjekte, die sich aller Widerstände zum Trotz gegen die Verhältnisse im Kollektiv organisieren und für ihre Rechte und Interessen einstehen. Diese Kämpfe geben Hoffnung. Es sind Lichter in der Dunkelheit.
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